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Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens

Ein rekonvaleszenter Mann, der eine Wohnung hütet. Im Geäst der Platane vor dem Haus: jede Menge Krähe, die sich als resilienter erweisen, als angenommen. Und über allem die große Frage, was das über unsere Gesellschaft aussagt. Christina Walker mit ihrem zweiten Roman Kleine Schule des Fliegens.


Schon in ihrem ersten Roman Auto erwies sich die in Bregenz geborene und in Augsburg lebende Autorin als Spezialistin für den kleinen Raum. Damals setzte sie einen Vertreter namens Busch ins Auto, das allerdings nirgendwo hinfuhr, sondern stattdessen im Hof parkte und zum Lebensmittelpunkt des Mannes wurde, der beschlossen hatte, aus dem Hamsterrad des täglichen Dauerlaufs aus- und ins parkende Auto einzusteigen.

Und auch in Walkers zweitem Roman taucht jetzt wieder ein Mann auf, der in einem Auto zu wohnen scheint und als Hobbyornithologe die Krähen im Geäst einer Platane beobachtet. Er ist allerdings diesmal nur eine Nebenfigur in einer Geschichte, die um einen anderen Mann kreist, der sich ebenfalls auf kleinen Raum beschränken muss. Alexander Höch ist der Name des Mannes, der sich in Isolation befindet und der die vier Wände eigentlich nicht verlassen soll.

Das bodentiefe Fenster zum Hof

Christina Walker - Kleine Schule des Fliegens (Cover)

Nach einer anstrengenden Krebsbehandlung und einer im eigentlichen Haus anstehenden Renovierung hat er die Wohnung seines Bruders als Quartier bezogen. Seine Frau Eva beaufsichtigt die Handwerker daheim, die Tochter Lilly ist in Frankreich auf Reisen und so kann sich Höch dort abgeschieden von seiner Familie auf die Gesundung nach der Chemotherapie besinnen.

Den Schutzraum der Wohnung sollte er in seinem rekonvaleszenten Zustand am besten nicht verlassen – und wenn dann am besten mit Maske und minimalem Fremdkontakt. Unterstützung erhält er im Alltag von einer Bekannten seines Bruders namens Melitta Miller, die nach ihm sieht, Besorgungen für den Alltag abnimmt und ihm auch einmal ein Essen in die Mikrowelle stellt.

So notwendige die Isolation für den Gesundungsprozess auch ist – besonders inspirierend ist sie doch nicht. Und so vertreibt sich Höch die Tage neben dem Notat flüchtiger Einfälle und Wortspielereien vor allem mit dem Beobachten des Wohnungsumfeldes. Durch das bodentiefe Fenster seiner temporären Wohnstatt beobachtet er den Hof und die Straße. Es ist neben dem angrenzenden Altenheim besonders die Platane, die vor dem Haus wächst, die ihm viel Unterhaltung bietet. Denn darin brüten Krähen. Ist es zunächst nur ein einzelnes Paar, so werden es schnell immer mehr Saatkrähen, die sich dort im Geäst niederlassen.

Kräh-Silienz

Während Altenheimbewohner*innen die Vögel anfüttern, erwächst auf der anderen Seite auch der Widerstand gegen die Rabenvögel. Lärm, Dreck und die Aussicht auf eine lange Koexistenz befeuern den Widerstand gegen die Tiere, der vor allem von Melitta Miller angeführt wird. So findet Höch eines Morgens einen Revolver auf dem Tisch der von ihm gehüteten Wohnung vor. Nur eine der zahlreichen Maßnahmen, mit denen die Anwohner*innen versuchen, die Krähen zu vergrämen.

Doch dass Ultraschall, Blinker und Ballons keine große Wirkung in Sachen Vergrämung zeigen, das liegt neben der Resilienz der Krähen auch an Höch, der die Maßnahmen immer wieder sabotiert und die Ergebnisse seiner Sabotagen in der unbenutzten Hälfte des Bettes sammelt.

Es sind aber nicht nur Dinge und Fundstücke, die Höch sammelt. Auch Erinnerungen sind mit den Funden verknüpft. So bringt etwa die Pfeilspitze, die für das Ende des Krähenschreckballons im Baum sorgte, Erinnerungen an die eigene Kindheit und das damit verbundene Indianer-Spielen zurück. Flashbacks an die Zeit im Krankenhaus, die Krankenschwester und seinen Mitbewohner, all das durchdringt immer wieder Höchs Gedanken und auch seinen Alltag.

Ein Text mit mehreren Ebenen

Christina Walker hat einen Roman geschrieben, der auf den ersten Blick recht einfach wirkt. Ein Mann hütet nach überstandenen Krebserkrankung ein fremdes Zuhause und ergreift Partei für die Krähen, die von anderen vertrieben werden wollen. Doch wie schon in Walkers Debüt zeigt sich auch, dass hinter der der vordergründigen Erzählebene eine zweite Erzählebene wartet, die eine hermeneutische Ausdeutung erlaubt, die Walker den Lesenden deutlich nahelegt.

Man kann Sätze wie diesen gar nicht ohne Bezug auf die Gegenwart lesen, etwa wenn debattierende Passanten auf der Straße angesichts der Krähenkolonie bemerken:

„Das ist eine der schönsten Straßen der Stadt“, sagte die Frau mit den kurzen blonden Haaren, „eine Krähenkolonie hat hier einfach keinen Platz“

Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens, S. 30

Melitta Miller kippt in der Wahrnehmung von der umsorgenden Alltagsstütze zur schäumenden Wutbürgerin, wenn sie auf Höch eindringt:

(…) Und denken sie dran. Wir tun das für die gesamte Straße. Für unser aller Ruhe und Sauberkeit. Die Krähenabwehr ist ein sozialer Akt.“

„Die Vögel erscheinen mir auch sozial“ äußerte ich unbedacht.

Melitta Miller zog hörbar Luft ein. „Das ist Sabotage, zischte sie leise. Sie wisse sehr wohl, dass jemand die Krähen füttere. Natürlich funktioniere so keine Vergrämung, wenn zugleich angefüttert werde. Das spreche sich darüber hinaus noch herum, sogar bei standortfernen Vögeln. „Bald haben wir sie alle hier“, sagte Melitta Miller leise und eindringlich. Die ganze Population aus dieser Gegend, eine große, schwarze Kolonie. Wollen Sie das? Wir wollten es doch vermeiden, scharf zu schießen.“

Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens, S. 89

Nein, die große schwarze Kolonie, sie soll bleiben, wo sie bislang war. Dass dieses Verhalten Erinnerungen der nebenan wohnenden Altenheimbewohner*innen an ähnliche Ausgrenzungen erinnert, das macht Christina Walker recht deutlich, indem eine Seniorin im Gespräch mit Höch Erinnerungen an ihr eigenes Ankommen damals in der Stadt und die Abschiebung in ärmliche Baracken außerhalb der etablierten Wohnordnung wachruft.

Fazit

Kleine Schule des Fliegens ist ein Text, der Verdrängungsmechanismen, Angst und Vorbehalte schildert, die sich nahezu deckungsgleich von der Tierwelt auf unsere heutigen Diskurse rund um den Umgang mit Zuwanderung, Geflüchteten etc. übertragen lassen. Die Angst vor Überfremdung, Abwehrreflexe, einfache Parolen und das Schwinden des Mitgefühls für das Schicksal anderer. All das sind Themen, die diesem Text tief eingeschrieben sind und die die zweite Ebene des Romans ausmachen.

Christina Walker gelingt hier ein doppeldeutiger Text, der einen Gesundungsprozess beschreibt und der einen Menschen zeigt, dessen Empathie und Gefühle noch nicht verschwunden sind. Tod, Verlust, aber auch Hoffnung und das Gefühl, nicht alleine zu sein – all das steckt in Kleine Schule des Fliegens!


  • Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens
  • ISBN 978-3-99200-342-6 (Braumüller)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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