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Ursula Kirchenmayer – Der Boden unter unseren Füßen

Ein massiver Angriff einer psychisch kranken Wohnungsmieterin auf eine Nachbarin rechtfertigt eine fristlose Kündigung des Mietervertrags (LG Hamburg v. 23.06.2021 – 316 T 24/21).

So fasste es das Landgericht Hamburg in einem Urteil zusammen. Was diese Worte aber wirklich bedeuten können und wie lang und nervenraubend der Weg kann sein, der vor einer solchen Rechtsprechung liegt, das zeigt Ursula Kirchenmayer in ihrem Debüt Der Boden unter unseren Füßen. Kirchenmayer, die Literarisches Schreiben in Leipzig studierte, beschreibt den Kampf einer Familie um Frieden und Ruhe in den eigenen vier Wänden. Während die Familie den Kampf führt, erodiert der Zusammenhalt und die Beziehung untereinander, was Kirchenmayer geradezu quälend langsam, aber auch konsequent zeigt.


Dass der Mietmarkt in Städten wie München oder Berlin angespannt ist, das ist keine neue Erkenntnis. Sie hat auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt schon Widerhallt gefunden und Autorinnen und Autoren haben sich dem Thema auf verschiedenen Wegen genähert, so etwa in den Romanen von Eva Ladipo oder Natalie Buchholz. Letztere ließ in ihrem Roman Unser Glück eine junge Familie von ebenjenem Glück träumen, als auf dem angespannten Münchner Wohnungsmarkt die Traumimmobilie in Schwabing plötzlich in greifbare Nähe rückt. Doch das Agreement mit der Mieterin hatte einen entscheidenden Pferdefuß, der die Beziehung der jungen Familie zunehmend in Bedrängnis brachte.

Auch Ursula Kirchenmayer wählt für ihren Roman Der Boden unter unseren Füßen ein ganz ähnliches Erzählkonzept. Bei ihr ist Berlin der Schauplatz, in dem auch schon lange nicht mehr Wohnraum für alle zur Verfügung steht. Ein Verdrängungswettbewerb ist im Gange, der weniger Begüterte und Familien an den Rand der Stadt drängt oder ganz ausschließt. Auch Nils und Laura merken die neue Realität schnell am eigenen Leib, denn Laura erwartet bald ein Kind. Bislang wohnen beide in jeder für sich in separaten Wohnung, doch nun nach der überraschenden Schwangerschaft möchten die beiden zusammenziehen. Nachdem die Suche auf dem regulären Mietmarkt keinen Erfolg zeitigt, ist es die Möglichkeit eines Wohnungstauschs, die ihnen unerwartet die Perspektive eines Familienlebens in gemeinsamen Räumlichkeiten ermöglicht.

Die Traumwohnung in Berlin

Ursula Kirchenmayer - Der Boden unter unseren Füßen (Cover)

In der Nähe des Mariendorfer Damms gelegen klingt die Immobilie, die ihnen angetragen wird, wie ein Traum. 3 Zimmer, Altbau, Parkett, 92 Quadratmeter mit einem kleinen Park in der Nähe und ruhig gelegen, das sind die Kennzahlen der Wohnung, die vor allem Nils‘ Herz höherschlagen lässt. Er drängt auf einen schnellen Einzug, noch bevor das Kind auf der Welt ist. Laura hingegen hat nicht nur aufgrund des starken Haschich-Geruchs im Treppenhaus ein schlechtes Bauchgefühl. Sie hat den Eindruck „als ob da unten etwas faulte (…) und kurz glaubte sie, der Boden unter ihren Füßen sinke tiefer, mit jedem Schritt ein bisschen mehr.“ (S. 19)

Mit diesem Bauchgefühl dringt sie allerdings nicht wirklich zu Nils vor. Etwas überstürzt einigt man sich auf den Wohnungstausch, kurz vor der Niederkunft sollen noch die eigenen Wohnungen jeweils übergeben werden, die ertauschte Wohnung soll bezugsfertig mitsamt Küche und wohnlicher Atmosphäre gestaltet werden. Doch da ist ein Problem, das sich schon nach kurzer Zeit immer stärker zeigt.

„Apropos Nachbarn“, fragte Laura, „wie sind die denn so drauf?“ Nils würde sein Studio hier aufbauen und auch sie brauchte Ruhe, wenn sie wieder malen wollte.

Manuel zögerte. „Der Hausmeister kann euch die Tür abdichten. Haben die von gegenüber auch schon gemacht. Wegen Treppenhaus und so. Ist bisschen hellhörig. Sonst ist es aber wie gesagt echt total ruhig hier.

Ursula Kirchenmayer – Der Boden unter unseren Füßen, S. 17

Denn mit der Ruhe ist es hier nicht weit her. Das liegt zuvorderst an „Peggy“, wie die Nachbarin aus dem ersten Stock geheißen wird. Der Grasgeruch im Treppenhaus ist dabei nur eine Facette in ihrem Zusammenleben. So entpuppt sich die Frau als psychisch auffällig, starrt zur Wohnung von Laura und Nils hinauf, bezichtigt die beiden immer wieder lautstark der Entführung ihrer Tochter und attackiert in einer nächtlichen Attacke sogar die Wohnungstür der jungen Familie. So kann sich natürlich keine Ruhe für die junge Mutter und das vorgesehene ruhige Familienleben zum Start in ihr neues Leben einstellen.

Die Schattenseiten von Nachbarschaft

Psychoattacken der Mieterin, dazu berufliche Unsicherheiten bei Nils durch das Ende seines Kreativduos, Eltern, die mal sichtbarer und mal subtiler ihre Vorstellungen an Laura und Nils herantragen – und dazu eine Tatenlosigkeit der Hausverwaltung, die die Ausfälle der Mieterin eher schulterzuckend hinnimmt.

All diese Faktoren haben natürlich auch einen Einfluss auf das Familienleben, was Ursula Kirchenmayer wechselseitig aus dem Blickwinkel von Laura und Nils schildert und zwar nie so, dass man einer Seite klar den Vorzug geben würde. Sie zeigt das Ringen um häusliche Idylle, um Selbstbehauptung gegen die Mieterin und den ressourcenfressenden Kampf der beiden, sehen doch weder Polizei, Psychosozialer Dienst oder Hausverwaltung einen gesteigerten Grund für eine Intervention, ist die Bedrohung in ihren Augen ja eher einer psychischen Natur denn eine wirklich konkrete Bedrohung, auch wenn sie das für Laura und Nils in vielen Formen ist.

So ist es der Lauras Eindruck der Erstbegehung der Wohnung, der sich immer stärker manifestiert. Der Boden unter den Füßen der beiden wird zunehmend brüchig und die Beziehung, die vor der überraschenden Schwangerschaft Lauras gerade einmal seit zehn Monaten lief, unterliegt immer stärker werdenden Erosionen, wie Kirchenmayer konsequent und mitreißend erzählt demonstriert. Plötzlich wird der Rückzug aufs Land zu den eigenen Eltern zur Option. Prekäre Finanzen, Schlaflosigkeit ob möglicher Attacken der Nachbarin und unterschiedliche, nicht wirklich miteinander verhandelte Vorstellungen bringen die Beziehung der beiden beziehungsweise dann der der drei immer mehr ins Schwimmen.

Der Zusammenhalt erodiert

Sie zeigt die zunehmende Desillusionierung nach dem Fund der vermeintlichen Traumimmobilie und führt diese Desillusionierung mit der subtilen, aber dennoch stattfindende Entfremdung des jungen Paares eng. Das ist überzeugend gemacht und besitzt einen wirklichen Sog, da Kirchenmayer den Schrecken, den alleine schon das Wissen um die Nachbarin und die unterschiedlichen Spielarten der Bedrohung nachvollziehbar gestaltet. Ebenso tragen die Perspektivwechsel, die ohne Schuldzuweisungen auskommen und auch nicht den Fehler eines „Leser*innen Nudings“ im Sinne von einer klaren Sympathieverteilung und Parteinahme begehen, zur Qualität des Buchs von Der Boden unter unseren Füßen bei.

Vielmehr blickt sie nachvollziehbar auf unterschiedlichen Perspektiven auf das Geschehen, geht tief hinein in die psychologische Gesamtkonstitution des Paares und zeigt auch Elternschaft angenehm vielschichtig und realitätsnah, obschon trotz der Perspektivwechsel in Sachen biographischer Grundierung ihrer Figuren durchaus noch etwas mehr Potenzial innegewohnt hätte, als tatsächlich genutzt wurde.

Dennoch ist Der Boden unter unseren Füßen eine gut gemachte, obschon des schweren Themas unterhaltsame und mitreißend erzählte Geschichte, die die Schattenseiten von Wohnungsnot und den schwerfälligen Kampf gegen die Bedrohung ein paar Türen weiter gekonnt ausleuchtet und beschreibt. Liest man Ursula Kirchenmayers Debüt, ist man doch froh um das gedeihliche Miteinander oder zumindest das Ausbleiben solcher Attacken rund um die eigenen vier Wände.


  • Ursula Kirchenmayer – Der Boden unter unseren Füßen
  • ISBN 978-3-423-28313-7 (dtv)
  • 400 Seiten. Preis: 23,00 €
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Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens

Ein rekonvaleszenter Mann, der eine Wohnung hütet. Im Geäst der Platane vor dem Haus: jede Menge Krähe, die sich als resilienter erweisen, als angenommen. Und über allem die große Frage, was das über unsere Gesellschaft aussagt. Christina Walker mit ihrem zweiten Roman Kleine Schule des Fliegens.


Schon in ihrem ersten Roman Auto erwies sich die in Bregenz geborene und in Augsburg lebende Autorin als Spezialistin für den kleinen Raum. Damals setzte sie einen Vertreter namens Busch ins Auto, das allerdings nirgendwo hinfuhr, sondern stattdessen im Hof parkte und zum Lebensmittelpunkt des Mannes wurde, der beschlossen hatte, aus dem Hamsterrad des täglichen Dauerlaufs aus- und ins parkende Auto einzusteigen.

Und auch in Walkers zweitem Roman taucht jetzt wieder ein Mann auf, der in einem Auto zu wohnen scheint und als Hobbyornithologe die Krähen im Geäst einer Platane beobachtet. Er ist allerdings diesmal nur eine Nebenfigur in einer Geschichte, die um einen anderen Mann kreist, der sich ebenfalls auf kleinen Raum beschränken muss. Alexander Höch ist der Name des Mannes, der sich in Isolation befindet und der die vier Wände eigentlich nicht verlassen soll.

Das bodentiefe Fenster zum Hof

Christina Walker - Kleine Schule des Fliegens (Cover)

Nach einer anstrengenden Krebsbehandlung und einer im eigentlichen Haus anstehenden Renovierung hat er die Wohnung seines Bruders als Quartier bezogen. Seine Frau Eva beaufsichtigt die Handwerker daheim, die Tochter Lilly ist in Frankreich auf Reisen und so kann sich Höch dort abgeschieden von seiner Familie auf die Gesundung nach der Chemotherapie besinnen.

Den Schutzraum der Wohnung sollte er in seinem rekonvaleszenten Zustand am besten nicht verlassen – und wenn dann am besten mit Maske und minimalem Fremdkontakt. Unterstützung erhält er im Alltag von einer Bekannten seines Bruders namens Melitta Miller, die nach ihm sieht, Besorgungen für den Alltag abnimmt und ihm auch einmal ein Essen in die Mikrowelle stellt.

So notwendige die Isolation für den Gesundungsprozess auch ist – besonders inspirierend ist sie doch nicht. Und so vertreibt sich Höch die Tage neben dem Notat flüchtiger Einfälle und Wortspielereien vor allem mit dem Beobachten des Wohnungsumfeldes. Durch das bodentiefe Fenster seiner temporären Wohnstatt beobachtet er den Hof und die Straße. Es ist neben dem angrenzenden Altenheim besonders die Platane, die vor dem Haus wächst, die ihm viel Unterhaltung bietet. Denn darin brüten Krähen. Ist es zunächst nur ein einzelnes Paar, so werden es schnell immer mehr Saatkrähen, die sich dort im Geäst niederlassen.

Kräh-Silienz

Während Altenheimbewohner*innen die Vögel anfüttern, erwächst auf der anderen Seite auch der Widerstand gegen die Rabenvögel. Lärm, Dreck und die Aussicht auf eine lange Koexistenz befeuern den Widerstand gegen die Tiere, der vor allem von Melitta Miller angeführt wird. So findet Höch eines Morgens einen Revolver auf dem Tisch der von ihm gehüteten Wohnung vor. Nur eine der zahlreichen Maßnahmen, mit denen die Anwohner*innen versuchen, die Krähen zu vergrämen.

Doch dass Ultraschall, Blinker und Ballons keine große Wirkung in Sachen Vergrämung zeigen, das liegt neben der Resilienz der Krähen auch an Höch, der die Maßnahmen immer wieder sabotiert und die Ergebnisse seiner Sabotagen in der unbenutzten Hälfte des Bettes sammelt.

Es sind aber nicht nur Dinge und Fundstücke, die Höch sammelt. Auch Erinnerungen sind mit den Funden verknüpft. So bringt etwa die Pfeilspitze, die für das Ende des Krähenschreckballons im Baum sorgte, Erinnerungen an die eigene Kindheit und das damit verbundene Indianer-Spielen zurück. Flashbacks an die Zeit im Krankenhaus, die Krankenschwester und seinen Mitbewohner, all das durchdringt immer wieder Höchs Gedanken und auch seinen Alltag.

Ein Text mit mehreren Ebenen

Christina Walker hat einen Roman geschrieben, der auf den ersten Blick recht einfach wirkt. Ein Mann hütet nach überstandenen Krebserkrankung ein fremdes Zuhause und ergreift Partei für die Krähen, die von anderen vertrieben werden wollen. Doch wie schon in Walkers Debüt zeigt sich auch, dass hinter der der vordergründigen Erzählebene eine zweite Erzählebene wartet, die eine hermeneutische Ausdeutung erlaubt, die Walker den Lesenden deutlich nahelegt.

Man kann Sätze wie diesen gar nicht ohne Bezug auf die Gegenwart lesen, etwa wenn debattierende Passanten auf der Straße angesichts der Krähenkolonie bemerken:

„Das ist eine der schönsten Straßen der Stadt“, sagte die Frau mit den kurzen blonden Haaren, „eine Krähenkolonie hat hier einfach keinen Platz“

Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens, S. 30

Melitta Miller kippt in der Wahrnehmung von der umsorgenden Alltagsstütze zur schäumenden Wutbürgerin, wenn sie auf Höch eindringt:

(…) Und denken sie dran. Wir tun das für die gesamte Straße. Für unser aller Ruhe und Sauberkeit. Die Krähenabwehr ist ein sozialer Akt.“

„Die Vögel erscheinen mir auch sozial“ äußerte ich unbedacht.

Melitta Miller zog hörbar Luft ein. „Das ist Sabotage, zischte sie leise. Sie wisse sehr wohl, dass jemand die Krähen füttere. Natürlich funktioniere so keine Vergrämung, wenn zugleich angefüttert werde. Das spreche sich darüber hinaus noch herum, sogar bei standortfernen Vögeln. „Bald haben wir sie alle hier“, sagte Melitta Miller leise und eindringlich. Die ganze Population aus dieser Gegend, eine große, schwarze Kolonie. Wollen Sie das? Wir wollten es doch vermeiden, scharf zu schießen.“

Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens, S. 89

Nein, die große schwarze Kolonie, sie soll bleiben, wo sie bislang war. Dass dieses Verhalten Erinnerungen der nebenan wohnenden Altenheimbewohner*innen an ähnliche Ausgrenzungen erinnert, das macht Christina Walker recht deutlich, indem eine Seniorin im Gespräch mit Höch Erinnerungen an ihr eigenes Ankommen damals in der Stadt und die Abschiebung in ärmliche Baracken außerhalb der etablierten Wohnordnung wachruft.

Fazit

Kleine Schule des Fliegens ist ein Text, der Verdrängungsmechanismen, Angst und Vorbehalte schildert, die sich nahezu deckungsgleich von der Tierwelt auf unsere heutigen Diskurse rund um den Umgang mit Zuwanderung, Geflüchteten etc. übertragen lassen. Die Angst vor Überfremdung, Abwehrreflexe, einfache Parolen und das Schwinden des Mitgefühls für das Schicksal anderer. All das sind Themen, die diesem Text tief eingeschrieben sind und die die zweite Ebene des Romans ausmachen.

Christina Walker gelingt hier ein doppeldeutiger Text, der einen Gesundungsprozess beschreibt und der einen Menschen zeigt, dessen Empathie und Gefühle noch nicht verschwunden sind. Tod, Verlust, aber auch Hoffnung und das Gefühl, nicht alleine zu sein – all das steckt in Kleine Schule des Fliegens!


  • Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens
  • ISBN 978-3-99200-342-6 (Braumüller)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Simone Lappert – Wurfschatten

Simone Lappert sollte eigentlich schon im letzten Jahr hier auf dem Blog einen Platz bekommen. Damals las ich ihren Roman Der Sprung, der als Spitzentitel im Diogenes Verlag erschien. Doch zu einer Rezension kam es nicht, da mir ein Ansatzpunkt für die Besprechung fehlte. Schnell gelesen und relativ schnell wieder vergessen, in diese Kategorie fiel für mich das Buch. Nette Lektüre, ganz gut gemachte Unterhaltung mit einem kleinen Schwachpunkt, nicht mehr und nicht weniger.

Simone Lappert - Der Sprung (Cover)

Ein Buch, das sich im Buchhandel gut verkaufte, viele wohlmeinende Leser*innen und Buchhändler*innen für sich einnahm und als Empfehlungstitel zu einem veritablen Erfolg gelangen sollte. Nur in meinen Augen nichts, das einer vertieften Analyse hier auf dem Blog bedurfte.

An meinen Kritikpunkt an Lapperts Buch fand ich mich nun erinnert, als ich im letzten Supplement der Zeit zur ausgefallenen Leipziger Buchmesse blätterte. Jens Jessen schrieb darin über den neuen Roman von Pascal Merciers namens Das Gewicht der Worte folgende Zeilen:

Glücklicherweise sind [die Figuren] allesamt polyglott und wechseln mühelos zwischen dem Italienischen, Französischen und Englischen (…). Das Einzige, was die Übersetzer, die Autoren und Verleger einschließlich ihrer wenigen branchenfremden Freunde niemals wechseln, ist der Modus ihrer Rede. Alle diese wunderbaren Menschen sind auf wunderbare Weise immer der gleichen Meinung. Sie benutzen auch die gleichen Wörter, um diese Meinung zu formulieren, sie haben die gleichen Empfindungen und das Entzücken, das die eine Figur angesichts einer bestimmten Durchsage in der Londoner U-Bahn fühlt, kann leicht viele Hundert Seiten später von einer anderen Figur genauso artikuliert werden. Das „Gewicht der Worte“ mag erheblich sein, ist aber jedenfalls nichts Individuelles.

Jessen, Jens: „Monumentale Biederkeit“ in Zeit Literatur No 12, März 2020

Vom Fehlen der Individualität

Dieses Fehlen von Individualität war es, das mich tatsächlich auch in Der Sprung störte. Darin erzählt Lappert aus der Sicht einer Vielzahl von Figuren von einer Frau, die auf dem Dachfirst eines Hauses steht und kurz vor dem Sprung zu stehen scheint. Dieses außergewöhnliche Ereignis beeinflusst das Leben aller Figuren, von denen Simone Lappert erzählt. Nur – all diese Figuren reden und denken gleich. Wie auch bei Mercier fehlt ihnen literarische Eigenständigkeit. Das Unterhaltungspotenzial dieses Romans wird dadurch kaum geschmälert, ich hätte mir hier allerdings mehr Ausgestaltung durch literarische Tiefe gewünscht.

Simone Lappert - Wurfschatten (Cover)

Nun liegt im Diogenes Wurfschatten vor. Es handelt sich hierbei allerdings um kein neues Buch der Schweizer Autorin. Vielmehr ist Wurfschatten das Debüt Lapperts, das vor sechs Jahren im Metrolit-Verlag erschien. Doch der Verlag ging insolvent und so schnappte sich Diogenes die Recht, um das Buch nun als Taschenbuch auf den Markt zu bringen.

In diesem Buch konzentriert sich Simone Lappert auf eine Figur, in deren Leben wir zu Gast sind. Es handelt sich um Adamine, genannt Ada. Als Schauspielerin schlägt sie sich mit einem Engagement bei einer Krimidinner-Revue namens Mord an Bord durch. Durch die Veruntreuung ihres Vermögens durch einen Regisseur befindet sich ihr Konto schwer in den Miesen. Auch ihr Mietverhältnis ist ebenso prekär, ständig ist sie mit der Zahlung für ihre Wohnung im Verzug, die sie mit zahlreichen Fischen bewohnt.

Die Fische vermitteln Ada Ruhe und spenden ihrer Seele Trost. Denn die Schauspielerin leidet unter diversen Angsstörungen und Panikattacken.

Ada hob ihren Arm unter der Decke hervor und zeigte auf ihre Tätowierung, (…) sie erzählte, dass sie Angst vor ihrem eigenen Körper hatte, Angst vor Erdbeben, vorm Ersticken, vorm Erschlagenwerden, Angst vor einer Herzattacke, Amokläufen, Spülmittelrest, vor Lebensmittelvergiftungen, Lungenkrebs, Autobahnen, vorm Fliegen, vor dem eigenen Gasherd, dem eigenen Föhn.

„Und wenn sie da ist, die Angst“ sagte sie, „dann zittert alles was ichsehe, alles verwackelt, es ist ein Selbstauslöser, den ich nicht steuern kann, ich weiß nicht einmal, wann das ales angefangen hat. Es ist, als hätte ich schon immer einen Wackelkontakt zur Welt“

Lappert, Simone: Wurfschatten, S. 231

Katastrophe oder Therapie, das ist hier die Frage

Da ihr Mietverhältnis ebenso prekär wie die Lage ihres Kontos ist, greift ihr Vermieter kurzerhand zu radikalen Mitteln. Er setzt ihr Juri vor die Nase. Dieser Juri ist der Enkel ihres Vermieters und soll sich nun die Wohnung mit ihr teilen. Ein Konzept, das ebenso scheitern wie heilsam für Ada sein könnte. Denn Juri ist ganz anders als Ada, deren Routine von ihren Ängsten diktiert wird.

Wie in einem Experiment beobachtet Simone Lappert und damit auch wir als Leser die Situation, die sie geschaffen hat. Wie reagieren die beidene Charaktere miteinander? Anziehung oder Abstoßung? Katastrophe oder Therapie? Das ist in Wurfschatten die Frage.

Ihre Figuren erobern sich immer wieder neue Räume, besetzen diese oder lernen mit Verlusten zu leben. Da werden Fische in Badewannen gesetzt, Kresse in sämtlichen Räumen der Wohnung gesät, Umzugskisten mit altem Plunder auf die Straße gestellt. Immer ist etwas in Bewegung, statisch wie Schatten sind hier weder Räume noch Beziehungen.

Ihre Erzählung kleidet Simone Lappert in eine Sprache, die zwar nicht durch Innovation oder herausragende Kreativität aufzufallen vermag. Für ihr Thema ist ihre Sprache allerdings angemessen, manchmal gelingen ihr innovative Vergleiche oder gut formulierte Beobachtungen, die dieses Debüt adeln.

Fazit

Wurfschatten ist ein Buch über Ängste und Möglichkeiten, diesen zu begegnen. Trotz des schweren Themas ist Wurfschatten nicht beschwerend, sondern durchaus auch heiter und schwebend erzählt. Sprachlich leicht überdurchschnittlich und mit einigen schlau gewählten Motiven erzählt das Buch von Ängsten und dem Bereitmachen für Neues. Ein gutes Debüt einer jungen Schweizer Stimme.

  • Simone Lappert – Wurfschatten
  • 240 Seiten, ISBN 978-3-257-24525-7
  • Preis: 12,00 € (D)
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