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Julia R. Kelly – Das Geschenk des Meers

Wieder einmal zeigt sich die unverbrüchliche Wahrheit der Sentenz Don’t judge a book by it’s cover. Denn was dem Titel und der Aufmachung nach den Anschein einer leicht kitschigen Erzählung erweckt, erweist sich im Inneren als deutlich interessanter, als es von außen wirkt. Das Geschenk des Meeres von Julia R. Kelly bietet im Inneren ein gut komponierter Geschichte, die sich als raue Erzählung von Trauer, Mutterschaft und Schmerz erweist.


Skerry ist ein kleines Fischerdörfchen an der Küste Schottlands. Hier setzt Julia R. Kellys Erzählung im Winter des Jahres 1900 an, als der Fischer Joseph einen Fund macht, der ihn aus der Bahn wirft. Dem Tode nahe findet er einen Jungen, der am Fuße der Klippen angespült wurde. Als er ihn ins Dorf bringt, sorgt das für viel Aufsehen und löst besonders bei der Dorflehrerin Dorothy Erschütterung aus.

Er geht mitten auf der Straße. Als sie erkennt, was er trägt, entfährt ihr ein Schrei, wie von einem verletzten Tier. Josephs Gesicht ist bleich, vom Schock gezeichnet, wie ihres jetzt wohl auch. Das Haar des Jungen auf seinen Armen ist dunkelsilbern, der Körper schlaff, die Haut grau. Er ist tropfnass, die Kleider kleben ihm am Körper. Und dann hört sie, wie die anderen Frauen nach Luft schnappen, spürt, wie sie sich zu ihr wenden. Mrs Brown fasst sie mit ihrer rauen roten Hand am Arm, und Dorothy dreht sich um. Sie begreift, dass die Ladenbesitzerin ihren Namen sagt, aber in ihren Ohren ist ein Rauschen, denn sie hat es schon gesehen –

Der eine kleine Fuß, noch in seinem braunen Stiefel, und der andere, der blau und kalt und nackt herabhängt.

Julia R. Kelly – Das Geschenk des Meeres, S. 9 f.

Kinder im Meer, Kinder aus dem Meer

Julia R. Kelly - Das Geschenk des Meeres (Cover)

Die Erschütterung von Dorothy und Joseph Mannes wird durch die Vorgeschichte plausibel, die die zweite erzählerische Ebene des Romans bildet. Denn einst war Dorothy auch selbst Mutter eines Kindes, das auf den Namen Moses hörte, das aber nicht vom Wasser gegeben, sondern vom Meer genommen wurde. Bis heute beschäftigt Dorothy dieser Verlust, ehe nun Joseph mit jenem Kind in den Armen auftaucht, das auf so fatale Weise ihrem damals verschwundenen Jungen gleicht.

Auf Bitten des Pfarrer übernimmt Dorothy die Pflege des Kindes, das dem Tod um Haaresbreite entgingt. Stück für Stück kräftigt Dorothy den Jungen durch ihre Zuwendung – und auch ein Stück weit sich selbst, wobei sie im Inneren viele Kämpfe mit sich ausficht. Die Trauer um den eigenen Verlust paart sich mit den nie verschwundenen Muttergefühlen, die dieser Junge auf Neue in ihr weckt. Zudem treten viele Erinnerungen an ihre eigene Mutterschaft und die besondere Bindung zum Fischer Joseph hervor, die Julia R. Kelly souverän durch den Wechsel zwischen Rückblenden und Gegenwart miteinander verschmilzt.

Komplexe Figuren und eine souveräne Erzählhaltung

Stück für Stück schält sich ein Bild des Dorflebens dort heraus, das trotz des schmalen Personenensembles und begrenzten Schauplatzes viel Raum lässt für ein Gespinst aus Intrigen, Verzweiflung und Missverständnisse, in denen sich Kellys Figuren mal lockerer und mal fester verstrickt haben.

Der Autorin gelingt das Kunststück, gleich in ihrem Debüt eine erstaunlich komplexe Frauenfigur in den Mittelpunkt zu stellen, die sie in ihrer Zerrissenheit zwischen der unnahbaren Fassade des Äußeren und einer ganzen Fülle von Trauer und Schmerz im Inneren proträtiert. Aber auch die anderen Figuren sind Kelly wohlgeraten, da sie alle angenehm lebensnahe Ambivalenz auszeichnet. Und auch wenn schon viele Seiten in Das Geschenk des Meeres vergangen sind, so halten die Figuren doch immer noch neue Facetten und Überraschungen bereit.

Fazit

Verbunden mit einer Sprache, die großes Gespür für das Raue und Herbe in der Landschaft wie in den Figuren beweist (Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Feldmann), wird aus Julia R. Kellys Debüt ein vielschichtiger Roman, der im Gewand einer historischen Erzählung von den Fährnissen und Untiefen von Mutterschaft und Bindungen erzählt.

Das macht das im Hamburger mare-Verlag erschienene Buch ein wenig selbst zu einem literarischen Meer – schön und poetisch an der Oberfläche, im Inneren dann aber mit überraschend viel Tiefe und auch dunklen Tönen.


  • Julia R. Kelly – Das Geschenk des Meeres
  • Aus dem Englischen von Claudia Feldmann
  • ISBN 978-3-86648-748-2 (mare)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €