Ein Roman, so unergründlich wie die Wüste, in der er spielt: Hari Kunzrus Roman Götter ohne Menschen über verschwundene Kinder, kriselnde Beziehungen und Außerirdische.
Geht es um scheinbar Übersinnliches, das in den vernünftigen, geordneten Alltag einbricht, dann ist der Brite Hari Kunzru ein ausgemachter Fachmann. Das bewies er schon in seiner Vintage-Musik/Geisterstory White Tears, in der zwei Musiknerds mithilfe eines Blues-Fragments auf die Spur eines geisterhaften Musikers gelangten, die in den Süden der USA führte.
Nun liegt in der deutschen Übertragung durch Nicolai von Schweder-Schreiner Kunzrus Roman Götter ohne Menschen aus dem Jahr 2011 vor. Ein Buch, das durch seine Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit eine einfache inhaltliche Zusammenfassung kaum möglich macht.
Vielmehr kommt man der komplexen Erzählung Kunzrus am besten mit dem Vergleich eines Baumes nahe. Den Hauptstamm jenes Baums bildet die Geschichte des Paars Matharu. Er, Jaz, ein indischer Einwanderer, zerrissen zwischen dem Wunsch nach Teilhabe an der amerikanischen Aufstiegsgesellschaft und seinen familiären Wurzeln. Sie, Lisa, Mutter von Raj, dem gemeinsamen Sohn, der unter einer Autismus-Spektrums-Störung leidet. Die Ehe kriselt, die beiden Partner leiden unter ganz eigenen Problemen, zudem belastet beide die Situation mit ihrem Kind zusehends. Ein gemeinsamer Ausflug soll Abhilfe schaffen. Bei diesem Trip in Richtung Mojave-Wüste verschwindet Raj dann allerdings spurlos. Wilde Spekulationen über das Paar setzen ein und die Öffentlichkeit nimmt rege Anteil am Schicksal des verschwundenen Jungen.
Geschichten aus drei Jahrhunderten
Um diesen Erzählungsstamm ranken sich diverse Episoden, die Kunzru im 18. Jahrhundert beginnen lässt und die sich bis in die Gegenwart erstrecken. Da gibt es den Bericht eines spanischen Missionars, Geschichten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs bis hinein in die Flower-Power-Jahre. Inhaltlich vielstimmig sind diese Erzählungen mal an die mündliche Erzähltradition der Indianer angelegt, mal eine wilder Cowboy-Räuberpistole, mal eine höchst aktuelle Erzählung einer aus dem Irak stammenden Geflüchteten. Allen gemein ist, dass sie zu einem Zeitpunkt ihres Lebens in die Nähe einer sagenumwobenen Gesteinsformation in der Wüste kamen.
Wie ein fein verästeltest Geflecht umgeben diese Geschichte die Haupterzählung. Verschiedene Figuren aus den Episoden tauchen in anderen Geschichten wieder auf. Leitmotive wie die Wüste, das Verschwinden von Kindern oder der Kontakt mit Außerirdischen sind Themen, die in verschiedenen Manifestationen immer wieder hervorscheinen und so ein Netz aus Bezügen herstellen. Diese Verästelungen sind manchmal ganz zart, dann auch wieder offensichtlicher. Alle Suchenden, die Lektüre auch als Schnitzeljagd begreifen, dürften hier ihre große Stunde erleben. Denn hinter Götter ohne Menschen steckt wirklich ein raffiniertes Konzept.
Zu den Kunstfertigkeiten diesen Romans zählt auch, dass Kunzru Themen zusammenbringt, die eigentlich nicht nicht zusammenpassen wollen. So schafft er es, aus der Alienbegeisterung, der Sinnsuche und dem Wunsch nach spiritueller Erfahrung in der Wüste ein Thema zu machen, das in unterschiedlichsten Facetten immer wieder im Buch auftaucht. Die Hinwendung zu einer übersinnlichen Kraft, die schon im Buchtitel thematisiert wird, setzt sich im Buch fort. Und dass, ohne dass das Buch in eine unangenehme theosophische oder esoterische Stoßrichtung kippt. Vielmehr zeigt Kunzru den Wunsch nach Spiritualität, der über alle Zeit hinweg in allen Menschen wurzelt.
Götter ohne Menschen, aber mit literarischer Vielfalt
Eine weitere Stärke dieses grandiosen Frühjahrstitels ist auch seine literarische Vielfalt. Sobald Schriftsteller*innen das Mittel der Multiperspektive für ihre Erzählung wählen, besteht eine ganz große Gefahr: die schriftstellerischen Mittel der Erzählenden sind dergestalt limitiert, dass alle Figuren gleich denken und gleich klingen (wie etwa zuletzt in Simone Lapperts Der Sprung). Obwohl sich der Name der erzählenden Figur ändert, klingt sie genauso wie die anderen Figuren zuvor, mit der wir die Handlung erlebt haben.
Für solche Fehler oder erzählerischen Limitation ist Hari Kunzru viel zu versiert. Mit welcher Akribie er sich in die unterschiedlichen Milieus einarbeitet und deren Welten auf wenigen Seiten glaubhaft zum Leben erweckt, ist meisterhaft. Wie fühlt sich eine Ehe mit einem an Autismus leidenden Kind an? Wie hat ein spanischer Eroberer im 18. Jahrhundert seine Berichte formuliert? Wie fühlt sich ein sinnentleerter britischer Rockstar, der die Flucht in ein anonymes Motel angetreten hat? All diesen höchst heterogenen Figuren verpasst der britische Schriftsteller eine eigene Sprache (toll von Nicolai von Schweder-Schreiner übersetzt) und einen eigenen Blick auf die Welt.
Es macht große Freude, immer wieder in neue Zeiten und neue Lebensgeschichten einzutauchen, die trotzdem miteinander verbunden sind. Ähnlich wie bei David Mitchells Wolkenatlas steht auch hier am Ende ein zeitenüberspannendes Netzt aus Figuren und Geschichten. In meinen Augen große Schrifstellerkunst.
Fein geschrieben, raffiniert komponiert, mit interessanten Motiven und Ideen durchzogen: Götter ohne Menschen ist ein wirkliches literarisches Ereignis, das Hari Kunzrus Ruf als einem der interessantesten britischen Schriftstellern der Gegenwart zementiert.
- Hari Kunzru: Götter ohne Menschen
- Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schrein
- 416 Seiten, € 24,00 Gebunden mit Schutzumschlag
- ISBN 978-3-95438-117-3 (Liebeskind-Verlag)