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Bernardine Evaristo – Zuleika

Das Leben einer jungen schwarzen Teenagerin in London – und das zur Zeit der Römer auf der britischen Insel. Davon erzählt die Booker-Preisträgerin Bernardine Evaristo in ihrem Roman Zuleika aus dem Jahr 2001, der nun erstmals in der Übersetzung von Tanja Handels vorliegt. Dabei überrascht vor allem die Form von Evaristos Erzählen.


Zuleika, so heißt die junge Frau, die uns in Evaristos Roman ihr Leben präsentiert. Einst kamen ihre Eltern aus Khartum nach Londinium und nun hat es das nubische Mädchen- oder besser eigentlich ihr Vater – geschafft. Denn der mächtige Patrizier Lucius Aurelius Felix hat sich Zuleika zur Frau erwählt.

Das Schicksal der jungen Zuleika

Ein Umstand, der Zuleikas Vater jubeln lässt, in dem gerade einmal elfjährigen Mädchen allerdings eher Abscheu und Ekel auslöst, schließlich ist jener Felix „dreimal so alt und breit wie ich“. Mit weiblicher Mitbestimmung und Selbstbestimmung ist es im London des Jahres 211 nach Christus aber zumindest anfänglich nicht weit her. So wird sie, nachdem Felix Zuleika beim Baden ansichtig geworden ist, mehr oder minder als Vertragsgegenstand zwischen Vater und Patrizier behandelt und ausgehandelt.

Als Frau des Honoratioren, Großgrundbesitzers und Handlungsreisenden findet das Mädchen Aufnahme in dessen luxuriöser Londoner Villa am Walbrook River, was sie als Angehörige einer völlig anderen Gesellschaftsschicht anfangs mehr als befremdet. Kaum dem gemeinsamen Spiel mit ihrer Freundin Alba auf den Straßen entwachsen wird sie nun gebadet, findet sich in Sänften wieder, hat Personal, wird geschminkt und speist erlesene Köstlichkeiten.

Sie wird zu einer Art schwarzem It-Girl, woran Zuleika zunächst Gefallen findet. Doch die anfängliche Überwältigung ihres neuen Lebens weicht bald einer Langweile, ist doch auch die römische Oberschicht Londons in ihrem Streben nach Luxus und Überfluss eigentlich recht öde und berechenbar. Doch dann fällt der Blick von niemand geringerem als dem römischen Imperator Septimius Severus bei einem seiner Aufenthalte in Britannien auf die junge schwarze Frau…

Mädchen, Frau etc. im London der Römerzeit

Im Kern ist Zuleika die Geschichte eines jungen schwarzen Mädchens, das in der britischen Gesellschaft zur Zeit der Römer seinen Platz sucht und mehrere Rollen ausprobiert – oder der besser gesagt: dem von der patriarchalen Gesellschaft mehrere Rollen zugeteilt werden: Kind mit Migrationshintergrund, Teenagerin, gehorchende Ehefrau und verführerische Geliebte, mal passiv, mal aktiv gestaltend.

Bernardine Evaristo - Zuleika (Cover)

Mit dieser Vielzahl an Rollen und Lebensentwürfe schließt Bernardine Evaristo an ihren mit dem Bookerprize ausgezeichneten Roman Mädchen, Frau, etc. an, für den Evaristo 2019 die Ehrung erhielt. Obgleich man diese Reihenfolge eigentlich umdrehen muss, denn Zuleika erschien im Original bereits 2001, also achtzehn Jahre vor dem Buch, das Evaristo auch hierzulande ihren Durchbruch bescherte.

Dank dieses Erfolgs von Mädchen, Frau, etc. erschienen nun kontinuierlich weitere deutsche Übersetzungen aus dem Oeuvre Evaristos, darunter auch nun eben auch die Übersetzung dieses Frühwerks durch die Evaristo-erfahrene Übersetzerin Tanja Handels.

Was macht das Buch abseits der Themen aber jetzt so besonders? Es ist die Sprache und Form – denn Bernardine Evaristo greift wie jüngst etwa Maggie Milner in Paare oder vor einigen Jahren Christoph Ransmayr in Der fliegende Berg auf die Form des Versromans zurück, um Zuleika ihre Geschichte erzählen zu lassen.

Die Form eines Versromans

Zumeist in reimfreien Paaren bietet uns Zuleika ihre Geschichte dar, unterbrochen durch Einschübe wie kleine Gedichte in mal gebundener oder mal freier Form. Dem starren lyrischen Formskelett des Verses steht dabei eine Freiheit in Stil und Gestaltung entgegen, die sich in der Sprache Evaristos selbst fortsetzt.

Denn Zuleika kennzeichnet eine gerade aberwitzige und völlig synthetische Verbindung von alter römischer und moderner Welt, was sich in der Sprache und dem Stil des Buchs niederschlägt. So gibt es in Evaristos Version des römischen Londinium Coffee to go, man trägt Baggy Tuniken oder „Puff Daddy Fabius blies die Tuba“ (S. 125). Hier verschmelzen Elemente des Gangstarap, des Versepos, lateinische Vokabeln und Floskeln mit einer zeitgenössischen Sprache, die diese Brüche ausgiebig zelebriert.

Die Kunst von Evaristo ist nun, dass sich trotz aller Brüche und Künstlichkeit des Ganzen der Versroman doch zu einem erstaunlich glaubwürdigen und gut lesbaren Ganzen verbindet, der nachvollziehbar und anschaulich von der Lebenswelt der jungen schwarzen Zuleika in einer feindlichen Umgebung erzählt.

Fazit

Fremdbestimmung, Emanzipation, die Kraft der Verführung und die notwendige Anpassung an immer neue Situation sind Themen, die dieses Buch kennzeichnen und die sich gerade durch die hochgradig artifizielle, von Tanja Handels fabulös ins Deutsche hinübergerettete Sprache von anderen Werken mit ähnlichen Themen abheben. Hier findet die Lebenswelt der Römer zusammen mit einer geradezu postmodernen Sprache, die von ihren Brüchen, Widersprüchen und kleinen Anspielungen von Shakespeare bis zur Bibel lebt.

Ein wildes Buch, dessen Themen und Sprache trotz seines vordergründig historischen Settings auch dreiundzwanzig Jahre nach dem ursprünglichen Erscheinen absolut zeitgemäß und entdeckenswert sind!


  • Bernardine Evaristo – Zuleika
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-608-50238-1 (Tropen)
  • 264 Seiten. Preis: 25,00 €
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Suzie Miller – Prima Facie

Vom Ein-Personen-Theaterstück zum Roman. Suzie Miller legt mit Prima Facie die Umformung ihres erfolgreichen Schauspiels in Prosa vor und erzählt engagiert von sexuellem Missbrauch und den Fehlern im Rechtssystem, die die Beweis- und Prozessführung erschweren. Prosa, die ihre Herkunft als Bühnenstück nicht ganz verleugnen kann – und die aber dennoch eine eigene erzählerische Form findet.


Prima Facie hat eine spannende Entstehungsgeschichte hinter sich. So war die Australierin Suzie Miller lange Zeit als Strafverteidigerin tätig, ehe sie mit Prima Facie ein Bühnenstück schrieb, das gleich fünfmal für den prestigeträchtigen englischen Theaterpreis der Olivier Awards nominiert wurde und schließlich eine Auszeichnung als bestes neues Stück erhielt. Dazu noch ein Olivier Award für die Schauspielerin Jodie Comer, die in dem furiosen Solo Anklägerin, Gericht, Opfer und Verteidigung zugleich spielt und die für die Broadway-Adaption gleich auch noch einen Tony-Award erhielt.

Viel Vorschusslorbeeren also für das Stück, das von Australien über das Londoner Westend bis nach Amerika seinen Siegeszug antrat – und das auch hierzulande auf den Spielplänen der Theater zu finden ist, etwa im Münchner Residenztheater.

Nun also eine Buchversion, für die Autorin Suzie Miller nun ein langer Entstehungsprozess ihres Stoffs zu einem Ende kommt, wie sie im Nachwort ihres Romans schreibt. Denn dem Theaterstück ging ein langer Schreibprozess voraus, ehe Miller die theatrale Version dann in einen Roman zurückverwandelte, den es jetzt dank der Übersetzerin Katharina Martl und des Kjona-Verlags auch auf Deutsch zu lesen gibt.

Vom Theaterstück zum Buch

Statt dem intensiven 90-Minuten Stück arbeitet Suzie Miller in ihrem Stück mit vielen Rückblenden, die die erste Hälfte des Buchs bestimmen. In Damals und Vorher betitelten Rückblenden lernen wir die Strafverteidigerin Tessa Ensler kennen.

Suzie Miller - Prima Facie (Cover)

Selbst aus der englischen Arbeiterklasse stammend, hat sie sich mit viel Willen und Talent emporgearbeitet zu einer der besten jungen Strafverteidigerinnen, die am Old Bailey genannten Strafgerichtshof in London ihren Dienst tun. Ihre Mutter und ihren Bruder hat sie ebenso wie ihre Kindheit in einer tristen Wohnanlage im Norden von London längst hinter sich gelassen.

Nach einem Jura-Studium in Cambridge ist sie nun Teil einer Kanzlei, in der talentierte junge Rechtsanwält*innen ihrem Tagesgeschäft nachgehen und sich gegenseitig pushen. Zum Unverständnis ihrer Mutter ist die Freilassung von Beklagten nun das Tageswerk von Tessa. Genaue Vorbereitungen auf Prozesse mit messerscharfen Zeugenvernehmungen vor Gericht bestimmen Tessas Alltag. Oftmals gelingt es der jungen Anwältin mit ihrer ausgefeilten Vernehmungstechnik, eine Freilassung oder eine Einstellung der Prozesse zugunsten ihrer Mandanten zu erwirken.

Die Frage der Schuld

Ob jemand schuldig ist, das interessiert Tessa nicht, besser gesagt will sie es gar nicht wissen, um ihren Job gut zu machen

Selbst wenn ich zu wissen glaube, was mein Mandant getan oder nicht getan hat, hat er noch immer das Recht, seine Geschichte vor Gericht zu bringen, das Recht, angehört zu werden. Sobald du anfängst, deinen Mandanten zu verurteilen, bist du am Arsch. Du verlierst dein Fundament. Das Rechtssystem ist verloren. Du bist verloren.

Suzie Miller – Prima Facie, S. 75

In Prozessen um sexuellen Missbrauch nimmt sie die Zeuginnen gnadenlos ins Verhör. Mit spitzfindigen Fragen sät sie bei den Jurys höchst erfolgreich Zweifel an deren Glaubwürdigkeit. Wenn es der Sache dient, hat Tessa keine großen Skrupel, ihre Geschlechtsgenossinen in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen, wenn es der Sache und ihren Mandaten dient.

Dann kommt das Buch nach seiner sehr langen Exposition in der zweiten Hälfte des Romans aber doch noch zum Wendepunkt einer bitteren Pointe, die zuvor sorgsam vorbereitet wurde. Denn Tessa widerfährt das, was sie bei anderen jungen Frauen stets anzuzweifeln wusste – sie wird von einem Kollegen vergewaltigt, nachdem alles zuvor nach einem aufregenden Flirt ausgesehen hatte. Und plötzlich findet sich Tessa auf der anderen Seite im Gerichtssaal wieder und wird von der Strafverteidigerin zur Zeugin der Anklage, die nun selbst unter juristischen Beschuss genommen wird.

Dass Prima Facie ein Theaterstück war, das vermittelt sich vor allem in der zweiten Hälfte des Buchs. Minutiös beschreibt Suzie Miller die Mechaniken des Prozesses, den sie ähnlich wie ihr schreibender Kollege Ferdinand von Schirach qua beruflichem Vorleben inwendig kennt.

Schuld und Bühne

Die Vorbereitungen des Prozesses gegen Tessas Vergewaltiger, die Vernehmung Tessas als Zeugin, die Anwesenheit von Familie und Beklagtem im Gerichtssaal, all das schildert Suzie Miller nahezu in Echtzeit. Der Gerichtssaal wird hier zur Bühne, auf der noch so viel mehr als alleine Tessas Fall verhandelt wird.

Denn Prima Facie findet im Rechtsmittel des Voire Dire, einer Spezialität des englischen Prozessrechts, zum Höhepunkt. Nachdem sich Tessa nun einmal selbst der erniedrigenden Vernehmung und den unverschämten Suggestionen eines Kronanwalts unterziehen musste, kann sie nicht mehr an sich halten und nutzt das Rechtsmittel, um so über die Vernehmungsfragen hinaus selbst Stellung zu ihrem Fall zu nehmen. Sie hält einen eigentlich zwar spontanen, und doch bühnenreifen, flammenden, höchst emotionalen und zugleich intellektuell durchdrungen Monolog, für den die Jury aus dem Saal geschickt wird, um nicht beeinflusst zu werden.

All die Erfahrungen auf beiden Seiten der Missbrauchsprozesse, das gerade Erlebte, das schreiende Unrecht, dass jede dritte Frau in England sexuellen Missbrauch erlebt hat, aber nur jede zehnte einen solchen Übergriff überhaupt zur Anzeige bringt, all das fließt in diese zentrale Szene ein, die dem Roman schon fast auch etwas Aktivistisches gibt.

Hier meint man selbst im Publikum zu sitzen, wenn Tessa aus dem Zeugenstand heraus das patriarchal geprägte Rechtssystem, die Unmöglichkeit einer klaren Beweisführung und den falschen Umgang mit den Opfern solcher Übergriffe anprangert. Hätte es Suzie Miller geschafft, der ersten Hälfte auch ein wenig der Dringlichkeit dieses Appells zu verleihen, hätte Prima Facie noch ein Stück mehr gewonnen.

Fazit

So tritt in Prima Facie stilistisch und gestalterisch alles hinter den klaren Höhepunkt des Romans im Gerichtssaal zurück. Etwas weniger subtil als beispielsweise Ian McEwan in Kindeswohl wird auch in Prima Facie der Gerichtssaal zur Bühne für die ganz großen gesellschaftlichen Fragen, unseres Miteinanders und der Lücken im Rechtssystem. Trotz der vielen Rückblenden sticht das Buch auf der Ebene der Sprache nicht wirklich hervor, da es Suzie Miller nicht ganz gelingt, einen eigenen Sound zu kreieren, sondern in einer stilistisch recht uniformer Schilderung der Vorgänge und der Figurenzeichnung zu verharren.

Davon abgesehen ist das Buch wirklich engagiert und legt seinen Finger in eine Wunde unseres Rechtssystems. So schärft die schreibende Anwältin Suzie Miller zusammen mit einigen anderen Werken in letzter Zeit das Bewusstsein für das, was sexueller Missbrauch und seine Aufarbeitung für Betroffene bedeuten kann – nicht nur vor dem Hintergrund des skandalösen Freispruch Harry Weinsteins in den USA vor wenigen Tagen.


  • Suzie Miller – Prima Facie
  • Aus dem Englischen von Katharina Martl
  • ISBN 978-3-910372-21-4 (Kjona)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €
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Daisy Hildyard – Notstand

Vom Steinbruch bis zum versunkenen Bullen im Moor. Daisy Hildyards Erzählerin unternimmt im Roman Notstand eine genaue Vermessung der Natur in ihrer Umgebung – und ihrer eigenen Erinnerungen, in denen die Flora und Fauna stets präsent war. Damit gelingt der britischen Autorin ein Brückenschlag von der seelischen Introspektion zum Nature Writing.


Kommt jetzt der Boome der Corona-Romane? Diese Frage trieb die Literaturkritik zu Beginn der Pandemie 2020 um. Doch während Autorinnen und Autoren ihre Protagonist*innen in Romanen mal beherzter, mal etwas scheu zur Maske greifen ließen, blieb die große Spiegelung der Krise in den Romanen aus.

Zwar gab es einige Schreibende, die die Shutdowns zur Verwirklichung eigener Romanprojekten nutzten, auch eröffneten sich durch technische Innovationen für einige Autor*innen neue Möglichkeite, so zum Beispiel für Helga Schubert, die aufgrund der Pflege ihres Mannes in Präsenz normalerweise nicht beim Bachmannwettbewerb in Klagenfurt hätte teilnehmen können, durch die digitale Zuschaltung aber auftreten und später den prestigeträchtigen Wettbewerb sogar gewinnen konnte. Der große Boom der Romane, in denen die Corona-Pandemie und ihre Folgen verhandelt wurde, er blieb aber weitestgehend aus.

Ein Roman unter Eindruck der Pandemie

Nachgereicht erreicht uns jetzt mit Daisy Hildyards Notstand aber ein Roman, der im Original 2022 erschien und der ganz unter den Eindrücken der Pandemie und der Isolation steht. Von Esther Kinsky ins Deutsche übertragen kann man zwei Jahre später nun noch einmal direkt eintauchen in die Welt, die damals infolge der Shutdowns stillzustehen schien, in der man Sozialkontakte auf das Notwendigste reduzierte und die eigenen vier Wände zur Welt wurden, in der man sich überwiegend aufhielt,

Daisy Hildyard - Notstand (Cover)

Wie vielen von uns damals geht es auch der Erzählerin in Hildyards Roman. Sanft hineingetupft in diesen Text tauchen immer wieder Insignien der damaligen Zeit wie etwa die Maske oder das Nachdenken über dieses unsichtbare Virus, dessen Wirkung aber so verheerend war. Die nun aufgrund des virulenten Notstands plötzlich zur Verfügung stehende Zeit, die man mit Betrachtungen der Außenwelt verbringt und die Nachbarn nur aus der Distanz heraus betrachtet, all das kennt man noch aus der eigenen Coronazeit- obschon sie nun zwei Jahre nach dem Erscheinen von Notstand im Original schon wieder ein ganzes Stück weit weg erscheint.

Wäre eine Beschreibung der damaligen Zustände alleine wohl auch angesichts der Erfahrungshorizonte der Lesenden recht redundant und nicht sonderlich spannend, bekommt Notstand durch seine zweite, zentrale Ebene eine ganz eigene Qualität. Denn Hildyards Erzählerin nutzt die Zeit für Spaziergänge durch die Natur in ihrerm nordenglischen Dorf – und spaziert in mindestens gleichem Maße auch in den eigenen Erinnerungen umher. Ähnlich wie beispielsweise in Mathias Enards Roman Kompass verschränkt sich auch hier eine quasi statische Außenhandlung mit einem Reichtum an Erinnerung und Beobachtung.

Ein genauer Blick auf Flora und Fauna

Die Faszination der Erzählerin für das Leben im benachbarten Bauernhof, ihr genauer Blick etwa auf das Schlüpfen von Schmetterlingslarven, die Aufzucht eines Wurfs Füchse durch die Mutter oder das Sozialverhalten einzelner Kühe, in Hildyards Roman nimmt das einen großen Raum ein. So entsteht über die Erinnerung und die Betrachtung ein Abbild dieser Welt, die im normalen Trott des Alltags den meisten Menschen verborgen bleibt und in der Menschen eigentlich eh nur stören oder mit ihrem rücksichtslosen Verhalten für eine weitere Zerstörung dieser eh schon schwindenden Lebensräume sorgen.

Mit Esther Kinsky hat der Text auch die richtige, da sprachmächtige und auf dem Feld des Nature Writings vielfach beschlagene Übersetzerin erhalten, die mit ihrem ebenfalls bei Suhrkamp erschienen Roman Rombo wie auch hier unter Beweis stellt, welches sprachliche Repertoire ihr zur Verfügung steht, um der Natur im Anthropozän möglichst viele Facetten abzuringen.

Leider zeigt Hildyards Buch wie schon auch Esther Kinskys eigenes Werk Rombo zuvor aber auch eine zentrale Schwäche auf, die sich im Genre des Nature Writing nicht wirklich vermeiden lässt. Oftmals fehlt es dieser naturnahen Prosa mit ihrer ganzen Fülle an genauen Betrachtungen von Flora und Fauna an innerer Spannung. So reihen sich doch viele Eindrücke und Beschreibungen aneinander, ohne eine nennenswerten dramatischen Bogen zu entfalten, der zum Weiterlesen motiviert.

Nicht vorhandene Spannungsbögen und amorphe Figuren

So sind die Beschreibungen von Turmfalken, weidenden Kühen, Füchsen, Schmetterlingen, dem Vergehen im Steinbruch oder die Arbeitsabläufe am Bauernhof zweifelsohne genau gearbeitet und bestechen durch ihre literarische Präzision, allein: ein nennenswerter Erzählbogen oder gar eine Entwicklung, der das Erzählen oder die Erzählerin unterliegt, das fehlt.

Notstand verzichtet auch in Bezug auf seine Figuren auf so etwas wie Tiefenschärfe und Kontur. Daisy Hildyard gelingt in ihrem Schreiben das Kunststück, trotz einer maximalen Introspektion auch durch die Ich-Perspektive der Erzählerin, diese selbst nur minimal zu gestalten. So verzichtet die britische Autorin nicht nur auf einen Namen ihrer Erzählerin, auch ansonsten bleiben sie und der Rest des im Romans auftauchende Personals amorph und schwer zu greifen. Ihr Aussehen, das soziale Umfeld und ihre Familie, ihr Werdegang, alles das tritt weit hinter ihre Naturbeobachtungen und Erinnerungen zurück.

In dieser Prosa ist der Mensch nur eine Randerscheinung. Vielmehr geht es in Notstand wirklich um die genaue Beobachtung der Umgebung, das Gespür für die Abläufe der Natur und weniger um die Menschen, die die Wahrnehmungen der Erzählerin zumeist eh nur stören.

Fazit

Wer sich an kaum vorhandener Entwicklungen und erzählerischem Vorankommen nicht stört und auf greifbare Figuren in der Handlung eines Buchs gut verzichten kann, der findet in Daisy Hildyards Notstand eine genau beobachtete Vermessung von Natur und Erinnerung und einen sprachmächtigen, von Esther Kinsky fabelhaft ins Deutsche übertragene Betrachtungsrausch, der auch das schwebende Gefühl infolge der pandemiebedingten Isolation und der zeitlichen Entschleunigung großartig in Prosa packt.


  • Daisy Hildyard – Notstand
  • Aus dem Englischen von Esther Kinsky
  • ISBN 978-3-518-43163-4 (Suhrkamp)
  • 237 Seiten. Preis: 25,00 €
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Alex Hay – Mayfair House

Während im Haus der Ball der Saison gegeben wird, räumt eine Truppe um die ehemalige Haushälterin das Herren – oder besser Damenhaus leer. Alex Hay transferiert in Mayfair House den klassischen Heist-Novel in die edwardianische Ära und macht damit erfreut damit die Herzen aller Downton Abbey-Nostalgiker.


Die Park Lane in London im Jahr 1905: hier befindet sich das spektakuläres Herrenhaus der de Vries‘. In Sachen Status ist dieses Haus ganz weit vorne. Eine Vielzahl an Zimmern, eine Bibliothek, ein Bakkaratzimmer, Kapelle, Vestibül und ein repräsentatives Treppenhaus. Dieses Anwesen hat alles, was sich der standesbewusste und mehr als wohlhabende Londoner zur Beginn des 20. Jahrhunderts nur vorstellen kann.

War in London jemals ein Haus mit einem solchen Übermaß an Prunkt, Protz und Pracht verziert gewesen? Wüsten aus eiskaltem Marmor, Öden aus glänzendem Parkett. Die Wände mit französischer Seide bespannt, im Rokokostil vertäfelt und durch Pilaster gegliedert. Und alles elektrifiziert: Spannung, die in den Wänden pulsierte, elektrische Kronleuchter, so groß wie Windmühlen. Monumentale Gaskamine. Unendliche Glasflächen, die stechend nach Essig rochen.

Und in allen Räumen echte Schätze: atemberaubende van Dycks, kolossale Kristallschalen, überquellend von Nelken. Kunstgegenstände aus Gold, Silber und Jade, Putten mit Augen aus Rubinen und Zehennägeln aus Smaragden. Mit Zebrafellen bezogene Sofas im Empfangssalon, Bakkarat-Tische aus Elfenbein und Nussbaum, rosa- und onyxfarbene Flamingos vor den Bädern. Die Bibliothek mit der teuersten privaten Büchersammlung in Mayfair. Das Rosenholzzimmer, der Rote Salon, der Ovale Salon, der Ballsaal. Ein Raum wie der andere mit Pfauenfedern und Lapislazuli verziert und einem unerschöpflichen Lilienvorrat geschmückt.

Nichts davon konnte Mrs King heute noch beeindrucken.

Alex Hay – Mayfair House, S. 14 f.

Nein, Mrs King ist wirklich nicht mehr zu beeindrucken. Denn ihr, die als emsige Haushälterin den Laden zusammenhielt und für die Bewirtschaftung des prunkenden Gebäudes sorgt, wurde soeben gekündigt. Ein nächtlicher Besuch im männlichen Dienstbotentrakt wurde ihr zum Verhängnis – weswegen sie nun auf eine Rache sinnt, die es in sich hat.

Verlobungsball und Raubzug in einem

Denn während sich die Erbin Miss de Vries mit dem Gedanken trägt, einen Ball zu geben, legt Mrs King derweil eine erstaunliche kriminelle Energie an den Tag. Sie schart eine Gruppe von Frauen um sich, darunter die Schauspielerin Hephzibah und die Unterweltgröße Mrs Bone. Sie alle wollen gemeinsam das luxuriöse Anwesen leerräubern, während Miss de Vries gleichzeitig im Haus einen Ball gibt, auf dem ihre Verlobung bekanntgegeben werden soll.

Alex Hay - Mayfair House (Cover)

Diese unterschiedlichen Stränge verknüpft Alex Hay nach einem schnellen Einstieg mit einem Countdown, der die Kapitel einleitet und der die vierundzwanzig Tage in rascher Folge herunterzählt, ehe Ende Juni 1905 die allesentscheidende Nacht stattfindet. Dabei zeigt May die mannigfachen Vorbereitungen für den Ball und den Coup die sich widersprechen und bei denen sich – ganz genrekonventionell – Interessen, Pläne und Beteiligte gegenseitig in die Quere kommen, was der Brite mit viel Lust am Pomp und dem Clash der vielen weiblichen Figuren inszeniert.

Hat das Genre Genre des Heist-Movies oder des Heist-Plots nicht erst seit Eric Amblers Topkapi oder der vor einem knappen Vierteljahrhundert erschienen Oceans-Reihe Reihe von Steve Soderbergh immer wieder neue Interpretationen erlebt (man denke nur an die höchst erfolgreiche Netflix-Serie Haus des Geldes), so verschmilzt Hay mit großer Lust den Herrenhausroman (oder hier vielmehr Damenhausroman) mit dem leichtgängigen Krimiplot, bei dem Männer wirklich nur eine Randerscheinung darstellen.

Das ist unterhaltsam gemacht, hat durch die beiden konträren Abendplanungen Drive und wurde von Regina Rawlinson in ein passend altmodisches Deutsch gekleidet. Hier ist von Schmu und Kalamitäten die Rede – und man beaugapfelt sich gar. All das lässt das historische Flair dieser überwiegend im Mayfair House spielenden Geschichte wirklich aufleben.

Fazit

Insgesamt gelingt Alex Hay mit diesem Roman ein historischer Roman, der einerseits im Herrenhaus-Ambiente schwelgt, auf der anderen Seite aber mit den Dienstmädchen und den anderen am Clou beteiligten Frauen jene Figuren in den Blick nimmt, die in zeitlich ähnlich gelagerten Romanen eher nur am Rande vorkommen. Das macht aus Mayfair House einen kurzweiligen Lesespaß, der nicht nur England-Nostalgiker gut unterhalten dürfte!


  • Alex Hay – Mayfair House
  • Aus dem Englischen von Regina Rawlinson
  • ISBN 978-3-458-64440-8 (Suhrkamp)
  • 405 Seiten. Preis: 20,00 €
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Nicola Upson – Experte in Sachen Mord

Tod und Intrigen im Londoner West End. Im ersten Band ihrer Reihe um Josephine Tey und Archibald Penrose nimmt Nicola Upson die Leser*innen mit in die flirrende Welt des Theaters und erzählt in Experte in Sachen Mord von Morden, Familiengeheimnissen und rauschenden Theatererfolgen zwischen Covent Garden und St. Martins Lane.


Auch wenn Josephine Tey selbst vom letzten Zug nach Schottland schrieb, so nimmt sie als fiktive Figur in Nicola Upsons Roman Experte in Sachen Mord den genau umgekehrten Weg. So reist sie zu Beginn des Romans aus ihrer schottischen Heimat in Inverness nach London. Der Grund für die Reise der eigentlich recht reisescheuen Elizabeth Mackintosh alias Josephine Tey hat aber einen guten Grund. So ist es ihr Theaterstück Richard von Bordeaux, das am Theater des Impresarios Bernard Aubrey sämtliche Rekorde bricht.

Die Theaterwelt im Londoner West End

Nicola Upson - Experte in Sachen Mord (Cover)

Ausverkaufte Vorstellungen, lange Schlangen vor den Ticketschaltern, Souvenirpuppen passend zur Inszenierung und Schauspieler, die in ihren Rollen zu Stars werden, darunter auch der junge John Terry (dessen reales Vorbild John Gielgud Upson im Roman kaum verhüllt). Teys Stück löst im Londoner West End einen regelrechten Hype aus, und so giert der Impresario natürlich nach weiteren Erfolgen, die er in Form einer geplanten Tour des Stücks mitsamt seinem Erfolgsschauspieler gefunden zu haben meint.

Auch Elspeth, eine junge Frau, ist großer Fan von Teys Stück und der Autorin selbst, mit der sie zufällig ein Zugabteil auf dem Weg nach London teilt. Kurz nach der Ankunft des Zuges im Bahnhof King’s Cross wird die junge Frau allerdings brutal ermordet. Der Tatort im Zugabteil ist geschmückt und wie ein Bühnenbild inszeniert. Das macht auch Archibald Penrose von Scotland Yard stutzig.

Der alte Freund Josephines beginnt mit seinen Ermittlungen, die ihn mitten hinein ins Londoner West End führen. Denn nicht nur vor den Kulissen der Theater gibt es Morde und Intrigen – auch dahinter geht es nicht minder gefährlich zu. Neidische Inspizientinnen, ambitionierte Stars und mittendrin Aubrey als Impresario, der alle Charaktere und Pläne zusammenhalten muss.

Archie Penrose und Josephine Tey ermitteln

Dass Experte in Sachen Mord der Auftakt einer Reihe ist, merkt man dem Krimi nur in einigen wenigen Aspekten an. So ist die Einführung der Nebenrollen etwas schematisch und die Zeichnung mancher Figuren doch etwas unterambitioniert – und auch gewisse Längen schleichen sich inmitten der Mördersuche im Westend ein. So sind 480 Seiten für den Plot etwas überdehnt, wenngleich es Nicola Upson schlussendlich gut gelingt, die einzelnen Fäden und Charaktere des Buchs zu einem wahren Familiendrama zusammenzuführen.

Die besondere Stärke liegt in der Atmosphäre, die die britische Autorin hier heraufzubeschwören weiß. Trinkrituale hinter der Bühne der Theater, Josephine Tey bei zwei Freundinnen, die als Ausstatterinnen entscheidend zum Erfolg vieler Theaterproduktionen beitragen, Klatsch und Tratsch und die Grillen mancher Theaterstars – Experte in Sachen Mord schöpft hier aus dem Vollen und lässt die Theaterbegeisterung der Zwischenkriegszeit lange vor Kino, Musicals und Co wiederauferstehen.

Ähnlich wie Reginald Arkell in seinem 1953 erschienenen Roman Charley Moon ist auch dieser historische Krimi eine Hommage an die flirrende Theaterwelt Londons und die seiner Stars – mit der ermittelnden Krimiautorin Josephine Tey mittendrin.

Zudem gibt es in ihrem Krimi auch Anklänge an die Schrecken des Ersten Weltkriegs, der noch immer in den Köpfen der Britinnen und Briten vorhanden war und der auch auf die Geschehnisse in Experte in Sachen Mord entscheidende Auswirkungen hat. Somit ist der Krimi voller Zeitgeschichte und Lokalkolorit, was entscheidend zur Qualität des Cosy Crime-Titels beiträgt.

Fazit

Insgesamt gelingt Nicola Upson mit dem ersten Band ihrer Krimireihe um Josephine Tey und Archibald „Archie“ Penrose ein wirklich guter Auftakt zu einer Serie, die im englischen Original mittlerweile schon elf Bände umfasst. Theaterwelt, eine (trotz zweier Leichen) recht unblutiger Krimi, gemächliches Tempo, verbunden mit nur ein paar kleineren Anlaufschwierigkeiten machen aus Experte in Sachen Mord einen wirklich guten Krimi für alle Theaterfans und Freunde klassischer britischer Krimis.

Weitere Informationen zu Josephine Tey und Nicola Upsons Reihe gibt es auch auf dem Lady-Blog. Und mit Mit dem Schnee kommt der Tod liegt noch ein weiterer, eher in weihnachtlichem Rahmen angesiedelter Band der Reihe bereits besprochen vor (es handelt sich um den neunten Band der Reihe).


  • Nicola Upson – Experte in Sachen Mord
  • Aus dem Englischen von Verena Kilchling
  • ISBN 978-3-0369-5013-6 (Kein & Aber)
  • 480 Seiten. Preis: 22,00 €
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