Meine geschätzte Mitbloggerin Birgit Böllinger vom Blog Sätze und Schätze ist schuld: nachdem sie Käsebier erobert den Kurfürstendamm auf dem Blog empfahl, wurde ich neugierig und beschaffte mir flugs den Roman, dessen Autorin mir zuvor völlig unbekannt war. Und schon konnte die Reise ins brodelnde Berlin der 1930er Jahre beginnen.
Gabriele Tergit (1894-1982), heute mehr oder minder vergessen, hat mit ihrem Käsebier einen Roman vorgelegt, der wie gemacht für unsere Tage scheint. Ausgangspunkt ist jener Georg Käsebier, ein mediokrer Sänger, der im Berliner Außenbezirk der Hasenheide in einer Art Varieté die Zuhörer mit Lieder wie etwa Mensch muss Liebe schön sein oder Wie soll er schlafen durch die dünne Wand? unterhält.
Normalerweise würde sich für diesen im wahrsten Wortsinne cheesy Sänger Käsebier niemand interessieren, wenn die Berliner Rundschau nicht dringend Schlagzeilen bräuchte. Der redaktionelle Trott verlangt nach Auflockerung und Schlagzeilen – und da kommt jener Käsebier gerade recht. Nach einer ersten euphorischen Jubelrezension setzt schon bald ein Run auf den Sänger aus der Hasenheide ein. Systematisch beginnt die Hauptstadtpresse den mittelmäßigen Mann hochzuschreiben, eine Jubelarie jagt die nächste. Ein Hype setzt ein und jeder möchte ein Stück vom Käsebier-Boom abhaben. Presse, Bauspekulanten, gewiefte Unternehmer – alle setzen auf Käsebier, dem sogar eine internationale Karriere zugetraut wird.
Liest man sich in jenes Käsebier-Berlin hinein, kommen einem gleich andere Referenztitel in den Sinn. Tergits Buch gehört in die Reihe zu Erich Kästners Fabian, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz und Hans Falladas Kleiner Mann, was nun?. In einer flirrenden und dialoggetriebenen Sprache erschafft Gabriele Tergit ein pulsierendes Berlin voller eindrücklicher Charaktere. Sie zeigt eine Welt im Wandel, in der Zeitungen um die Deutungshoheit und das wirtschaftliche Fortbestehen kämpfen müssen, in der zunächst Wohnungsnot herrscht, dann aber der ganze Bauboom zu einem Platzen der Immobilienblase führt. Höchst aktuelle Themen also, die man in ihrem Roman entdeckt, und der eine Epoche wieder zum Leben erweckt, die uns näher ist, als so manchem lieb sein kann.
Eine originelle Wiederentdeckung
Im aktuellen Boom der historischen Berlin-Stoffe (man denke nur an den durchschlagenden Erfolg von Tom Tykwers Serienadaption Babylon Berlin der historischen Gereon-Rath-Krimis von Volker Kutscher) ist Tergits Roman eine orginelle Wiederentdeckung, die nicht immer ganz leicht zu lesen ist, die aber die geneigten Leser und Kenner der Neuen Sachlichkeit durchaus überzeugen kann. Das pulsierende Zwischenkriegsberlin ist genauso eindringlich gestaltet wie die Szenen, die vom Inneren einer Zeitung der 30er Jahre berichten. Für mich ist es die gelungenste Szene des ganzen Romans, als Tergit beschreibt, wie in der Setzerei aus den einzelnen Artikeln und Lettern schlussendlich durch die kundigen Hände von Metteuren und Co eine Tageszeitung entsteht. Hier zeigt sich Gabriele Tergits beruflicher Hintergrund. Sie war nämlich selbst als Journalistin tätig, unter anderem beim Berliner Tageblatt, ehe sie vor den Nazis flüchten und emigrieren musste.
Das informative Nachwort von Nicole Henneberg beleuchtet dazu die Entstehung des Romans und die biographischen Hintergründe von Gabriele Tergit genauer. Sie liefert lesenswerte Informationen und weist unter anderem darauf hin, dass einige der auftretenden Personen tatsächlich an historisch verbürgte Journalisten angelehnt sind. Dies sorgt für eine Abrundung des Romans.
Verdient hätte es Käsebier erobert den Kurfürstendamm auf alle Fälle, in der oben genannte Reihe der bekannten Werke der Weimarer Republik Aufnahme zu finden. Tergits flirrendes und pulsierendes Berlin-Gemälde ist vielschichtig und eindringlich – Zeit wird es, dass sie wieder gelesen wird!