Während ihr eigenes Lebenslicht zusehends schwächer wird, versetzt sich Claudia Hampton in Penelope Livelys Roman Nachtglimmen von einem Krankenhausbett aus noch einmal an zentrale Punkte ihres Lebens. Mal aus der eigenen Geschichte heraustretend, mal ganz präsent entsteht das vielgestaltiges Bild eines Lebens, das für Claudia von der Kriegsreporterin bis hin zur Mutter viele Rollen kannte.
Moon Tiger, so heißt jenes brennbare Material, dessen Verglimmen Moskitos fernhalten soll und das auch Penelope Livelys Buch im Original von 1987 und den bisher erschienenen deutschen Ausgaben des Romans (1994 als deutsche Erstausgabe, 1997 als Neuauflage) seinen Titel gibt. Auch Claudia Hampton diente der Moon Tiger als Schutz vor Moskitos, führte sie ihr Leben von England aus doch an entlegene Schauplätze wie Kairo, wo man Moon Tiger einsetzte, um des Nachts die Gefahr durch die Insekten zu mildern.
Auch andere Ländern wie Indien oder Spanien zählten zu den Stationen ihres Lebens, ehe Claudia zurück in ihre britische Heimat kam. Dort liegt sie im Alter von 76 Jahren nun abermals in einem Bett – nur Moon Tiger verglimmt nicht mehr neben ihr.
Schichten eines Lebens
Stattdessen ist es ihr Lebenslicht, das zusehends schwächer wird und nur noch flackert, womit der Titel des Nachtglimmens ebenso metaphorisch wie konkret zu lesen ist. Wechselnd zwischen realen Momenten dort im Krankenhaus und dem überwiegenden Abtauchen in die eigenen Erinnerungen entsteht langsam ein Bild, das die Schichten von Claudia Hampton freilegt. Denn nicht umsonst ist sie seit Kindertagen von fossilen Ablagerungen wie Ammoniten fasziniert und zählt den Bauingenieur William Smith zu ihren Vorbildern. Dieser nutzte seine Kanal-Baustellen, um nebenher Studien über die unterschiedlichen Schichten im Gestein zu betreiben.
William Smith bezog seine Inspiration durch die Schichtenbildung. Meine Schichten sind nicht so leicht zu erkennen wie die der Felsen von Warwickshire, und im Kopf sind sie nicht einmal in Folgen angeordnet, sondern ein Wirbel aus Worten und Bildern.
Penelope Lively – Nachtglimmen, S. 29
In diesen Wirbel taucht man im Folgenden mit Claudia ein und widmet sich den unterschiedlichen Schichten und Stadien ihres Lebens, die sich zu dem Menschen sedimentiert haben, der nun im Krankenbett zwischen persönlichen Erinnerungen in Ich-Form und Außenbetrachtungen hin und herwechselt.
Die vielen Facetten der Claudia Hampton
Die Kindheit, die im Zeichen von Konkurrenz und Anziehung zu ihrem Bruder Gordon bestand, die Zeit als Kriegsreporterin zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Kairo, eine große Liebe und eine weniger liebende Partnerschaft, die Erfahrungen als Mutter und ihre eigene Karriere, all diese Aspekte ihres Leben scheinen in den Erinnerungen auf, die zwar an manchen Stellen durcheinanderwirbeln und sich gegenseitig überlagern, dennoch aber ein klares und ja – vielschichtiges Bild von Claudia und ihrem fast acht Jahrzehnte währendem Leben ergeben.
Das ist neben dem Inhalt des Romans insbesondere aufgrund der schon erwähnten stilistischen Besonderheit des Buchs besonders prägnant. Denn immer wieder tritt Claudia aus ihrer eigenen Geschichte, betrachtet durch die personale Erzählweise sich selbst und ihr Verhalten anderen Menschen gegenüber aus der Distanz, um dann wieder in das eigene Erleben und die Kontakte mit ihren Lebensmenschen im Krankenhaus zurückzuwechseln.
Ein Frauenleben unter herausfordernden Bedingungen, das Schwanken zwischen Vergessen und Erinnern, das ist souverän erzählt und steht in der Tradition anderer großer britischer Autor*innen wie Graham Swift, Michael Ondaatje oder Jane Gardam. Dass die 1933 in Kairo geborene und 2012 zur Dame Commander of the Order of the British Empire ernannte Penelope Lively hierzulande nicht bekannter ist, ist angesichts der literarischen Klasse dieses Buchs bedauerlich – schließlich errang sie für Nachtglimmen 1997 den Booker Prize.
Ein neuer Blick auf eine bisweilen verkannte Autorin
Dass der Dörlemann-Verlag sich nun daran macht, Penelope Lively mit dieser Neuausgabe ihres Romans wieder ins öffentliche Interesse zu rücken, ist begrüßenswert. Alte, bei dtv erschienene Auflagen ihres Buchs sind im Buchhandel allenfalls noch antiquarisch erhältlich – und auch die damalige Kritik scheint veraltet, wie Eli Shafak in ihrem neuen Vorwort für den Roman schreibt.
Herablassend und bestenfalls gönnerhaft sei im englischsprachigen das damalige Urteil der Kritik ausgefallen, so die Autorin in ihrem Vorwort (hierzulande reicht das Archiv des Perlentauchers nur 25 Jahre zurück, sodass sich das deutsche Echo auf Livelys Roman nicht mehr wirklich nachvollziehen lässt).
Die Vielschichtigkeit im Charakter von Livelys Heldin, die Anerkennung der Komplexität und Widersprüchlichkeit und deren Anspruch, sich selbst zu ermächtigen, um ihre eigene Lebensgeschichte und damit verbunden die der Welt zu erzählen, all das sei von der männlich geprägten Literaturkritik nicht unbedingt mit Begeisterung aufgenommen worden.
Auch wenn sich manche dieser Verhaltensmuster in der professionellen Kritik auch hierzulande noch immer beobachten lassen, erlaubt die Neuauflage doch nun einen freieren Blick auf die Qualitäten und den Anspruch von Livelys Erzählen. Schade nur, dass die Übersetzung nicht – oder noch immer nicht – mit diesem Anspruch Schritt hält.
Eine begrüßenswerte Neuausgaben – mit Mängeln in der Übersetzung
Denn der einst von Ulrike Budde und nun laut Verlagsangaben von Ulrike Miller aus dem britischen Englischen übersetzte Roman krankt an der in Teilen mangelhaften Übersetzung.
So liest sich der Roman, als sei er nur in groben Zügen der neuen Rechtschreibung angepasst worden. Fehler wie der Begriff des “ Torpedobeschußss“ (S. 231) weisen in diese Richtung. Auch gibt es manche Eigentümlichkeiten wie das eine Seite zuvor auftauchende und im Deutschen nicht gebräuchliche Adjektiv „handsam“. Ob hier „handsome“ kreativ übertragen wurde oder von „handzahm“ die Rede sein sollte, bleibt ein Rätsel.
Zudem erscheint die Übersetzung von Begriffen an einigen Stellen erratisch. Während die einzelnen Regimenter genannt mit ihren originalen Titeln genannt werden, gibt es plötzlich ein Hochländer-Regiment, das in einer konsistenten Übersetzung als Highlander-Regiment Bestandsschutz hätte genießen müsste.
Neben einigen unnötig komplizierten und wenig idiomatischen Wendungen und der Verwendung von problematischen Begriffen wie „Rassen“ bleibt hier der Eindruck, dass mit einer präziseren Übersetzung im Deutschen noch einige zusätzliche Schärfegrade von Penelope Livelys Prosa hätten freigelegt werden können.
Fazit
Von diesem Wermutstropfen abgesehen bietet Nachtglimmen die Chance, eine ambitionierte und literarisch versierte Autorin (wiederzu)entdecken, die mit Claudia Hampton eine vielschichtige und widersprüchliche Figur mit einer faszinierenden Lebensgeschichte in den Mittelpunkt rückt.
Hier glimmt nichts, das ist ein literarisches Leuchten!
- Penelope Lively – Nachtglimmen
- Mit einem Vorwort von Eli Shafak
- Aus dem britischen Englisch von Ulrike Miller
- ISBN 978 3 03820 153 3 (Dörlemann)
- 304 Seiten. Preis: 24,00 €