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Sebastian Barry – Jenseits aller Zeit

Treibend im Meer der Erinnerung, vielleicht sogar unter Mordverdacht stehend: in seinem neuen Roman Jenseits aller Zeit taucht der irische Autor Sebastian Barry tief in das Leben eines pensionierten Polizisten ein. Der Besuch zweier Kollegen weckt beim ehemaligen Ermittler Erinnerungen an Geschehnisse aus längst vergangenen Tagen. Was schlummert da alles in den Tiefen des Gedächtnisses von Tom Kettle? Sebastian Barry legt es lesenswert frei.


Dass es stürmt und der Regen fast senkrecht gegen die Scheiben von Tom Kettles Wohnung peitscht, als dieser auf den ersten Seiten von Sebastian Barrys Roman Jenseits aller Zeit Besuch bekommt, ist hochsymbolisch. Denn es sind zwei Kollegen, die vor der Tür des pensionierten Polizisten in Dalkey stehen. Mit sich bringen die beiden Kollegen nicht nur das Unwetter, sondern auch eine Akte, die in Tom Kettle einen Sturm der Erinnerung entfesseln wird.

Ein Sturm der Erinnerung

Was es mit dieser Akte auf sich hat, das erschließt sich erst langsam, denn Sebastian Barry setzt für seinen Roman auf einen Erzählstil, der stark von der Technik des Bewusstseinsstroms beeinflusst ist, wie ihn sein Landsmann James Joyce oder auch seine britische Kollegin Virginia Woolf einsetzten. Immer wieder gleiten die Gedanken von Tom aus der Realität ab, findet sich der mittlerweile Sechsundsechzigjährige in Erinnerungen an sein Leben wieder. Immer tiefer taucht der pensionierte Polizist dabei in das Reich der Vergangenheit ab, wie es auch das vom Steidl-Verlag ersonnene Cover beschreibt.

Es ist ein Reich, in dem der Takt und die Gesetzmäßigkeit anderen Regeln unterliegen.

Wenn genug Zeit vergeht, ist es so, als wären die alten Dinge nie geschehen. Dinge, früher frisch, unmittelbar, erschreckend, entschwinden in eine Zeit jeseits aller Zeit, wie die Wanderer, die am Killiney Strand so weit spazieren, dass sie, wenn man sie lange genug beobachtet, nur noch ein schwarzer Fleck sind, und dann sind die fort. Vielleicht sehnt sich diese Zeit jenseits aller Zeit nach der Zeit, als sie nur Zeit war, so wie die Zeit auf dem Zifferblatt einer Wand- oder Armbanduhr. Aber das bedeutete nicht, dass sie herbeizitiert werden konnte oder sollte. Er war gebeten worden, in seinem Gedächtnis zu wühlen, als ob ein Mensch das wirklich vermochte.

Sebastian Barry – Jenseits der Zeit, S. 180

Langsam legt Sebastian Barry aus den Erinnerungen und Gedankenschleifen den Charakter Tom Kettle frei. Biografische Wegmarken wie sein tödliches Tun einst im Krieg in Malaya, das Schicksal seiner Familie und das aktuelles Leben des Ruheständlers in seiner höhlenartigen Einliegerwohnung im Wohnensensemble einer viktorianischen „Burg“ dort im Süden von Dublin, das schält sich immer klarer im Lauf des Buchs heraus.

Jenseits aller Zeit – und auch jenseits des Rechts?

Sebastian Barry - Jenseits aller Zeit (Cover)

Dabei ist es mit der Klarheit aber so eine Sache. Was ist wahr, was sind Einbildungen und was die Realität? Jenseits aller Zeit lässt Gewissheiten verschwimmen, etwa wenn Tom Kettle den Besuch seiner ehemaligen Kollegen im Polizeirevier in Dublin schildert. Dass sich Ganze sich dann aber als reine Vorstellung jenseits der Realität entpuppt, die der Rentner im Park St. Stephens Green gesponnen hat, ist nur ein Indiz für die Unzuverlässigkeit von Toms Erzählen.

Was aber klar ist, ist dass dieses Buch eine Abrechnung mit dem System des Missbrauchs der katholischen Kirche in Irland im 20. Jahrhundert darstellt. Denn dieses Thema dominiert das ganze Buch und die Erinnerungen Tom Kettles. Nicht nur das Anliegen, das initial die beiden Polizisten inmitten des Sturms die Einliegerwohnung Kettles führt, hat mit diesem Thema zu tun. Auch er selbst und seine Frau haben ihre Erfahrungen mit dem Missbrauch in Kirche und kirchlichen Heimen gemacht, der sich dutzendfach dort abspielte und bei dem Behörden und Kirchenleitung gerne wegsahen und sich weigerten, Fälle des sogenannten Crimen Pessimum nachzuverfolgen. Doch hat Tom eventuell selbst daran einen Anteil, diese Missstände auf Wegen abseits des Rechts zu lösen?

Ein gesellschaftskritisches Werk – und die Fortschreibung von Sebastian Barrys literarischem Kosmos

Jenseits aller Zeit fügt sich ein in die Riege gesellschaftskritischer Werke, mit denen irische Schriftsteller*innen die Auswirkungen des vielfachen Missbrauch der katholischen Kirche und des dahinterliegenden Systems der Deckung dieser Taten aufarbeiten. Autoren wie John Boyne oder Claire Keegan untersuchten dieses Thema bereits auf unterschiedliche Weise – und auch Sebastian Barry reiht sich nun in diese literarische Aufarbeitung des in der Realität immer noch mangelhaft untersuchten Komplexes ein.

Das gelingt ihm überzeugend, verbindet sich das genaue Nachspüren der Auswirkungen dieses Missbrauchs mit einer komplexen und durchaus herausfordernden literarischen Erzählweise. Zugleich schreibt sein Roman auch jenen Kosmos fort, den Sebastian Barry über seine so unterschiedlichen Bücher hinaus entwickelt. Immer wieder berühren sich die Lebenslinien von Figuren über Bücher und Zeiten hinweg. Hier ist es nun eine Ms. McNulty, die mit Tom in dem viktorianischen Wohnungsensemble wohnt, deren Vorfahren Abenteuer in Amerika erlebt haben dürften.

Fazit

Für den Booker Prize 2023 nominiert (übrigens die sage und schreibe bereits fünfte Nominierung für Sebastian Barry) ist Jenseits aller Zeit ein wahrer Strudel an Erinnerungen und Schicksal, der die Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs ebenso zeigt, wie er auch hinabführt in die Seele eines Menschen, in dem sich Verlust und Tod schon zu sedimentieren scheinen. Einmal mehr fabelhaft übersetzt von Hans-Christian Oeser ist dieser Text ein beeindruckendes Dokument jener Zerrüttung, der der systematisierte Missbrauch in Irland (und nicht nur dort) in Menschen angerichtet hat.


  • Sebastian Barry – Jenseits aller Zeit
  • Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-401-6 (Steidl)
  • 288 Seiten. Preis: 28,00 €
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