Tag Archives: Künstliche Intelligenz

Benjamín Labatut – MANIAC

Mit seinem Werk Das blinde Licht hat sich der chilenische Autor Benjamín Labatut als Meister der Verknüpfung von literarischer Fiktion und naturwissenschaftlich-philosophischen Themenkomplexen erwiesen. In vier Geschichten brachte er damals das Denken und die naturwissenschaftlichen Revolutionen Einsteins, Bohrs, Grothendieks, Schrödingers oder Fritz Habers auf den Punkt. Nun tritt er mit MANIAC erneut den Beweis seiner literarischen Meisterschaft an und erzählt vom vergessenen Wissenschaftler John von Neumann und den Anfängen der Künstlichen Intelligenz.


Egal ob Chat GPT oder Midjourney – die Anwendungsgebiete und Fortschritte in Sachen Künstlicher Intelligenz wachsen in atemberaubenden Tempo an. Und auch die Literatur erschließt sich das Gebiet der KI immer mehr. So unternahmen die Schriftsteller Tom Hillenbrand oder Frank Schätzing im Gewand von Thrillern schon früh Versuche, die Potentiale und Risiken der Künstlichen Intelligenz zu beschreiben. Auch Raphaela Edelbauer wendete sich in ihrem zweiten Roman DAVE dem Thema der KI zu und stellte die Frage in den Mittelpunkt, wie man einem Programm Intelligenz verleiht und einen Rechner von binären Rechenschritten bis zu eigenständigem Denken und Entscheiden führt.

John von Neumann und der MANIAC

Einer der frühesten Denker, der sich auf diesem Gebiet wie auch in vielen anderen Disziplinen umtat, war der Denker John von Neumann, der eigentlich als János Lajos Neumann 1903 in Ungarn geboren wurde. Seine Geistesleistungen, sein von Logik und der Faszination für das Grenzüberschreitende geprägtes Denken und seine vielfachen Projekte wie die Entwicklung des ersten Supercomputer, sie stehen im Mittelpunkt dieses ebenso vielstimmig wie literarisch hochinteressant komponierten Romans.

Wir verdanken ihm so viel.

Er hat uns nicht nur zum bedeutendsten technologischen Durchbruch des zwanzigsten Jahrhunderts verholfen.

Er hat uns einen Teil seines Verstandes hinterlassen.

Getauft haben wir unsere Maschine Mathematical Analyzer, Numerical Integrator and Computer.

Benjamín Labatut – MANIAC, S. 185

Das sagt Julian Bigelow, ein Elektroingenieur und einer der vielen Stimmen, die in Labatuts Roman über ihre Begegnung mit John von Neumann erzählen dürfen. Bigelow, der am MIT Mathematik und Elektrotechnik studierte, war ein Gefolgsmann John von Neumanns, in dessen Auftrag er den Supercomputer MANIAC entwarf und federführend installierte.

Seit Kindertagen an war Neumann von Computern und der Möglichkeit der Programmierung begeistert. So erzählt sein Bruder – eine weitere der vielen Erzählstimmen – von Janos´ kindlicher Faszination für einen mechanischen Webstuhl, der per Lochkarte bedient wurde. Immer weiter trieb von Neumann später die Entwicklung des Computers, die ihn bis in die Wüste Mexikos führte, wo J. Robert Oppenheimer in Los Alamos an der Entwicklung der Atombombe arbeitete. Es war der von Neumann entwickelte Computer, dessen Berechnungen zur Wirksamkeit einer geplanten Wasserstoffbombe entscheidende technische Fortschritte ermöglichte.

Das Grenzüberschreitende in der Technik

Neben solchen militärischen Projekten war es vor allem das Grenzüberschreitende, das von Neumann begeisterte und herausforderte. Die Grenzen der Logik, mathematische Gesetzmäßigkeiten und das ihnen innewohnende Chaos, sie faszinierten von Neumann zeitlebens, wovon Labatut durch die vielstimmige Komposition gelungen Zeugnis ablegen kann.

Benjamín Labatut - MANIAC (Cover)

Begegnungen mit dem österreichischen Mathematiker Kurt Gödel, dessen Denken ihn in eine Krisis stürzte oder seine Unterstützung für den laut Augenzeugen „verrückten“ Wissenschaftler Nils Aall Barricelli, der Neumanns Erfindung des MANIAC dazu nutzen wollte, eine digitale Evolution von intelligentem Leben im Supercomputer nachzubilden. Sie alle geben einen Eindruck von etwas, das hinter der „normalen“ Logik und Technik liegen könnte, dem Neumann zeitlebens auf der Spur war, ihm aber nie wirklich nahekam, sondern (oder vielleicht auch deswegen) nach seiner Krebsdiagnose plötzlich den Glauben suchte.

Schwankend zwischen Technik und Transzendenz, zwischen Logik und Metaphysik zeigt MANIAC einen Menschen, den stets die schwarzen Löcher des Unerklärlichen anzogen und dessen visionäres Denken auch heute noch nachwirkt, obgleich der Name John von Neumann nicht mehr vielen Menschen ein Begriff sein dürfte.

Der Gottvater der KI

Durch die geschickte Montage des Romans gelingt es Benjamín Labatut, das Wirken von Neumanns und dessen Theorien sogar bis in die Jetztzeit zu dehnen. Denn neben der Auftaktepisode, die die Krisis des Physikers Paul Ehrenfest zeigt, der in den 30er Jahren an die Grenzen der Naturwissenschaften stößt, in Depressionen versinkt und seinen eigenen Sohn und später sich selbst erschießt, bindet Labatut dessen Grenzerfahrung und Limitation mit der einer völligen Entgrenzung zusammen.

Dies gelingt Labatut, indem er sich im letzten Teil des Romans in bewunderswerter Intensität und Plastizität dem Go-Spiel widmet. Jahre nach dem legendären Match des Schachgroßmeisters Gari Kasparow gegen den Schachcomputer DeepBlue von IBM war es eine Künstliche Intelligenz namens Alpha, der es erstmals gelang, einen Go-Meister in diesem hochkomplexen Spiel zu schlagen. Dieses Duell von Menschen und Maschine vermittelt Benjamín Labatut trotz komplizierten Regelwerk und Technik höchst verständlich und ja – mitreißend.

In diesen Schilderungen scheint die Kontinuität und noch gar nicht wirklich absehbare Konsequenz von John von Neumanns Erfindung auf. Was stellt man mit einem Supercomputer mit einer Rechenleistung an, die unser Denken ebenso weit überschreitet, wie dies auch der Physiker Paul Ehrenfest zu Beginn des Romans erfahren musste?

Im Gegensatz zu Ehrenfests Konsequenz aus dessen Erfahrung legt Labatut den notwendigen Tod von Mensch oder Maschine hier dann aber nicht nahe. Vielmehr hält sich sein Roman mit moralischen Einordnungen oder Wertungen angenehm zurück. Es zählt zu den Qualitäten dieses brillanten Romans, ein Gefühl der Potentiale und möglichen Konsequenzen der intelligenten Computer zu geben, ohne aber in den alarmistischen Weltuntergangssound zu verfallen, wie er vielen thematisch ähnlich gelagerten Büchern dieser Tage zueigen ist.

Fazit

Mitten hinein in unsere Gegenwart weist MANIAC, das mit John von Neumann einen faszinierenden Denker, einen Grenzüberschreiter und einen ruhelosen Geist in den Mittelpunkt stellt. Ebenso grenzüberschreitend wie das Denken des 1903 geborenen Visionärs ist auch dieser Roman in seiner Montage und erzählerischen Anlage. So nimmt sich das Buch manchmal geradezu wie eine Dokumentation aus, ist Einführung in die KI ebenso wie Porträt John von Neumanns, erzählt von Potentialen der Technik wie von schweren persönlichen Krisen und der Frage nach Verantwortung für unsere digitale Schöpfung.

Schwankend zwischen Technik und Transzendenz gelingt Benjamin Labatut hier ein hellsichtiges Buch, das zum Besten gehört, was bislang über Künstliche Intelligenz geschrieben wurde. Ihre Ursprünge und Kontingenz stellt der chilenische Autor anregend und elegant vor. Wer sich auf literarisch überzeugende Art und Weise in diesen Themenkomplex KI einlesen möchte, der kommt an Benjamín Labatuts Buch nicht vorbei!


  • Benjamín Labatut – MANIAC
  • Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
  • ISBN 978-3-518-43117-7 (Suhrkamp)
  • 395 Seiten. Preis: 26,00 €
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Raphaela Edelbauer – DAVE

Sehen wir der Wahrheit ins Auge: die Menschheit hat ihre Chancen gehabt. Aber Artensterben, Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit und das Erstarken autoritärer Regime sind nur ein paar aussagekräftige Beweise die zeigen, dass es die Menschheit alleine nicht schafft. Anstatt die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen gerecht und nachhaltig zu verteilen, dominiert der Raubbau an der Natur und damit die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Vernunft ist ein hehres Prinzip – nur wir folgen ihr nicht. Wäre es da nicht an der Zeit, das Management jemand anderem zu überlassen? Und da eine intelligente außerirdische Lebensform nicht in Sicht ist, würden sich Computer anbieten. Eine künstliche Intelligenz, die nicht Macht oder politische Durchsetzungskraft zum Maßstab ihres Handelns nimmt. Sondern eine Intelligenz, die auf Bedarfe und Nachhaltigkeit achtet und die passgenau die Befriedigung von Bedürfnissen zum Ziel hat? Eine Intelligenz, der der Spagat zwischen Bewahrung der Schöpfung und dem Fortbestand der Menschheit gelingt.

Doch wie erschafft man eine solche Künstliche Intelligenz? Wie sorgt man dafür, dass sie die richtigen Entscheidungen trifft und so etwas wie ein Bewusstsein entwickelt? Darüber hat Raphaela Edelbauer einen Roman geschrieben. Er trägt den Titel DAVE und ist nach Das flüssige Land das zweite Buch der österreichischen Autorin, das im Klett-Cotta-Verlag erscheint.

Ein Retter namens DAVE

Held von Edelbauers Geschichte ist der Programmierer Syz, der in einer überbevölkerten Welt Arbeit in einer termitenähnlichen Fabrik gefunden hat. Dort versieht er mit vielen anderen Programmierer*innen seinen Dienst, der aus der Erstellung von Scripts besteht. Diese Scripts sollen in DAVE eingespeist werden, einen Supercomputer, auf dem die Hoffnung der Menschheit ruhen. Diese steht nämlich kurz vor dem Aussterben. Viel zu viele Milliarden von Menschen bevölkern die Erde, das Klima hat sich dramatisch verändert, sodass das Überleben auf der Erde kaum mehr möglich ist. DAVE soll es nun richten, um mithilfe seiner künstlichen Intelligenz Lösungen für das Überleben der Menschen zu schaffen.

Raphaela Edelbauer - DAVE (Cover)

Das Problem der künstlichen Intelligenz ist allerdings ein zentrales: wie schafft man es, dass der Computer ein Bewusstsein entwickelt, das für die Problemlösung essenziell ist? Wie schafft man es, aus der künstlichen Intelligenz eine echte zu machen, die sich dem Primat der Logik verschreibt?

Für die Chefentwickler von DAVE ist die notwendige Strategie klar: um das Denken zu lernen, reicht es nicht, tausende von Scripts, also Beschreibungen verschiedener Entitäten, in die Maschine einzuspeisen. Wessen DAVE bedarf, um das Denken zu lernen, ist ein menschliches Vorbild. Und so kommt Syz ins Spiel. Das System hat ihn als perfekten Kandidaten ausgewählt, um seine Persönlichkeit auf DAVE zu übertragen. Funktionieren diese Sitzungen anfangs noch sehr gut, wächst in ihm allerdings schon bald das Misstrauen. Er erhält anonyme Nachrichten zugestellt, die ihn auf die Fährte eines Vorgängers bringen. Offenbar gab es schon einmal den Versuch, die Persönlichkeit eines Menschen in DAVE einzuspeisen. Doch dieser Mensch ist seither verschwunden, seine Spuren verlieren sich im Nichts.

Science-Fiction, Programmieren, Philosophie

Es sind Motive der Science-Fiction-Kultur, mit denen Raphaela Edelbauer in ihrem Roman spielt. Ein hermetisch abgeschlossenes System, Technologie und Fortschrittshörigkeit, das Ausbrechen eines Menschen aus der Routine, der hinter die Kulissen des Ganzen scheint und das Geschehen zu hinterfragen beginnt. Irgendwo zwischen Blade Runner und Matrix und ist Edelbauers dystopisches Setting anzusiedeln, das sie mit philosophischen Fragestellungen, Exkursen zu Programmierung und Bewusstsein anreichert.

So entsteht ein Text, der aufgrund seiner Struktur und intellektuellen Fülle fordert (und mich offen gestanden auch manchmal überforderte). Die Diskussionen um philosophischen Problematiken, Pascal-Moravec-Vermutung, Neoterraner und Neoplatumanisten oder Programmiersprech sind so schnell getaktet, dass der Prozessor des Lesenden besser ohne zusätzliche Ablenkung laufen sollte.

„Halt“, unterbrach Felix. „Ich habe dir immer gesagt, dass diese Fixierung auf Sprache ist ein Fehler. Ein Artefakt, reine Struktur, bloßes Netzwerk an Netzwerken, Abstraktion – menschliche Sprache hält DAVE doch nur auf – „

„Felis, du weißt, dass das nicht stimmt. Natürliche Sprache ist viel leistungsstärker als programmierter Unsinn. Wir haben intuitiv Einsicht in Dinge, die formell zu beweisen ewig dauert. Eins plus eins ist zwei – weißt du, wie lange Whitehead und Russell für einen formalen Beweis brauchten?“

„Genau“, warf ich ein. „Dass wir über diese intuitive Form von Sprache verfügen, ist die Basis für ein Bewusstsein, Bewusstsein die Basis für Entscheidungsfindung, Entscheidungsfindung für Problemlösung. Und was heißt denn auch: nichtmenschliche Sprache? Programmiersprachen sind nichts als abgespeckte Versionen von natürlicher Sprache.“ Garaus warf mir einen anerkennenden Blick zu. „Und Sprache braucht Identität! Levertov meinte, die Mehrheit in der Theoretischen halte es für plausibel, ja, für die einzige Möglichkeit – „

Edelbauer, Raphaela: DAVE, S. 54 f.

DAVE als Gedankenpalast

Ein Thema, das auf die Autorin eine große Faszination ausübt, ist das Thema des Gedankenpalasts. Dieser spielt in DAVE eine zentrale Rolle und ist auch für die Form des Buchs entscheidend. Immer wieder begegnen wir auf der Reise durch das Buch neuen Erinnerungsbruchstücken. Mal sind es Rückblenden, dann wissenschaftliche Fallbeschreibungen oder eine satirische Kindersendung, die in die Erzählung eingewoben sind. Viele dieser Bruchstücke und erzählerischen Fraktale ergeben erst ganz am Ende des Romans Sinn. Hier gelingt Edelbauer eine erzählerische Schleife, die das Buch zu einem runden Ende fügt. Die zuvor immer wieder verstreuten und manchmal gar widersinnigen Puzzleteilchen fallen an ihren Platz. Und auch wenn ich schon einige Dutzend Seiten zuvor ahnte, wo die Reise hingeht, birgt das Ende von DAVE doch eine wirklich schlaue Schlusspointe.

Das Gedicht von T. S. Eliot, das leitmotivisch im Buch an verschiedenen Stellen auftaucht, bringt das Lesegefühl am Ende von DAVE sehr gut auf den Punkt.

We shall not cease from exploration. And the end of all our exploring will to be to arrive where we started and know the place for the first time.

T. S. Eliot

Bereits zwei Versionen dieses Buch hatte Raphaela Edelbauer geschrieben, ehe sie nun mit der dritten Variante des Buchs nach zehn Jahren des Schwanger Gehens zufrieden war. Auch erzählte die Autorin, dass das Buch gedanklich bereits abgeschlossen war, als sie mit der Arbeit des Schreibens begann. Dieses Gefühl einer wohlüberlegten Konzeption merkt man DAVE auch an. Das sprachverliebte Buch wartet mit vielen kompositorischen, philosophischen und technischen Ideen auf. Es bietet eine herausfordernde Leseerfahrung und bringt das Thema der digitalen Welten und Künstlichen Intelligenz in literarisch ansprechender Form weiter in die belletristische Gegenwart hinein.

Fazit

Der Besuch dieses Gedankenpalasts namens DAVE lohnt auf alle Fälle. Eine gelungene Symbiose aus Digitalem, Dystopie, Philosophie und Science-Fiction. Das Durchhalten bei diesem Buch ist dringend angeraten – denn wer am Ende von angelangt ist, will gleich wieder von vorne beginnen und diesen Gedankenpalast noch einmal besuchen.

Auch Carsten Otte hat der Besuch in Edelbauers eigentümlicher Welt gefallen. Er hat für Zeit Online ebenfalls eine Besprechung des Buchs verfasst.


  • Raphaela Edelbauer – DAVE
  • ISBN 978-3-608-96473-8 (Klett Cotta)
  • 432 Seiten. Preis: 25,00 €

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Frank Schätzing – Die Tyrannei des Schmetterlings

Zunächst ist da noch die Larve, deren Fähigkeiten äußerst limitiert sind. Doch nach der Verpuppung entschlüpft dem Kokon ein schimmernder Schmetterling, dessen wahres Wesen vorher nicht absehbar war. Eric Carle hat vor fast genau 50 Jahren ein Bilderbuch daraus gemacht – ein halbes Jahrhundert später ist bei Frank Schätzing von dieser Unbedarftheit und Glorifizierung in Sachen Schmetterlingsverpuppung nichts mehr übrig. Die Tyrannei des Schmetterlings entführt zu den dunklen Seiten des Silicon Valley und bietet ein erschreckendes Zukunftsszenario. Denn was ist, wenn wir mit den Technologien, die gerade von Google, Facebook und Co. ersonnen werden, einen Schmetterling heranzüchten, dessen Flügelschläge einen wirklich Hurrikan auslösen? Könnten wir eine solche Katastrophe wirklich verhindern?

Die Raupe bei Frank Schätzing heißt A.R.E.S. und ist eine künstliche Intelligenz, auf die der Undersheriff Luther Opoku im Hinterland von Kalifornien stößt. Gebaut und gefüttert wird sie in einem geheimen Forschungslabor des fiktiven Internetriesen Nordvisk. Der Mord an einer hochrangigen Mitarbeiterin des Unternehmens bringt Luther auf die Spur des Treibens des Konzerns. Dabei wird er auch mit den Chancen und Gefahren der Künstlichen Intelligenz konfrontiert – und erfährt auch schon bald am eigenen Leib, welche unfassbaren Möglichkeiten A.R.E.S. ihm und schlussendlich der ganzen Menschheit bietet. Doch können wir mit unseren begrenzten Fähigkeiten überhaupt eine Technologie beherrschen, die darauf angelegt ist, unseren Verstand zu übersteigen? Darum kreist schlussendlich der neue Roman des Kölner Bestsellerautors.

Höher, weiter, Schätzing

Es gehört zur schriftstellerischen DNA Schätzings, immer den großen Wurf zu wollen. Begann alles noch übersichtlich in Lautlos mit einem Attentat auf den amerikanischen Präsidenten in Deutschland, so steigerte sich der Kölner zusehends. In Der Schwarm blies er dann schon zum Angriff aus dem Meer heraus auf die gesamte Zivilisation, ehe er in Limit noch einmal eins draufsetzen wollte. Limit kannte jenes ironischerweise nicht, war 1300seitige Space Opera und Globalthriller. Gelungen? In meinen Augen scheiterte hier Schätzing an den eigenen Ansprüchen. Danach folgte noch die Israel-Saga Breaking News, der Ursprünge und Folgen des Nahostkonflikts auf diesmal knapp unter 1000 Seiten kondensierte. Und jetzt eben Die Tyrannei des Schmetterlings. Silicon-Valley-Roman, Thriller und Kassandra-Ruf zugleich.

Mit dem Schmetterling hat Frank Schätzing aus zwei Gründen ein schönes Bild für seinen neuen Roman gefunden. Zum Einen ist sein Wesen ein gutes Symbol für den Plot, der manche überraschende Ent-Puppung bzw. Volte bereithält. Und zum anderen spiegelt sich in der achsensymmetrischen Form eines Schmetterlings auch gut die Kernidee, die hinter dem Roman steht (ohne hier natürlich verraten zu wollen, welche dies ist). In seinen angelegten Bögen zeigt sich aber schon wieder diese Steigerungswut Schätzings, gemäß dem alten Bond-Motto: die Welt ist nicht genug. Und so muss auch Luther Opokus in diesem Thriller an seine Grenzen gehen und darüber hinaus. Schätzing konfrontiert den Undersheriff mit den Möglichkeiten und Abgründen der IT-Welt, lässt ihn auf CEOs und Forscher treffen und vermittelt dem Mann stellvertretend für uns Leser den aktuellen Stand der digitalen Forschung.

Schätzing im Silicon Valley

Und dass sich Schätzing mehr als ausführlich mit der Materie auseinandergesetzt hat, davon zeugt nicht nur sein Nachwort. Er empfiehlt im Abspann viele weiterführende Lektüren , möchte man sich im Anschluss noch tiefer in die Themen einarbeiten. Auch begab sich Schätzing zusammen mit seinem Verleger Helge Malchow auf Recherchereise in Silicon Valley und traf dabei Größen wie etwa Jaron Lanier oder den Investor Peter Thiel. Von den Erkenntnissen und der nachgespürten Geisteshaltung zeugt unter anderem folgende Passage:

„Und welcher Vision sehen wir hier beim Werden zu?“

Van Dyke machte eine Handbewegung,  als überlasse er die weitere Beantwortung der riesigen Maschine.

„Sie wollen die Gesellschaft verändern. So viel habe ich kapiert.“

Der blonde Mann lächelte, als habe ihm Luther einen schon bekannten Witz erzählt. „Sie müssen wissen, Undersheriff, das Silicon Valley ist die eine Besinnungsstätte für Besinnungslose. Lauter Junkies im Taumel ihrer Ideen, und die Droge heißt Machbarkeit. Jeder will zeigen, dass es geht. Dass alles geht. Egal was. Dieses Fleckchen Kalifornien auf dem wir uns blähen wie das expandierende Universum, fiele indes der Beliebigkeit anheim, hätten wir uns nicht auf unser Mantra verständigt.“

„Das da lautet?“

„Menschheitsprobleme zu lösen“.

„Nichts weiter?“

„Nur diese Kleinigkeit.“

Schätzing, Frank: Die Tyrannei des Schmetterlings, S. 147

Dabei muss aber trotz aller Innovation und allem Streben nach Neuem festhalten – das Thema von Schätzings neuem Buch ist es nicht. Das Feld, das er in Die Tyrannei des Schmetterlings beackert, ist wahrlich kein Neues. Ausgehend vom allmächtigen Bordcomputer HAL in Stanley Kubricks 2001: Odysee im Weltraum bis hin zu den Matrix-Filmen der Wachowski-Geschwister ist es immer wieder die außer Kontrolle geratende Technik, die Kreative beschäftigt hat. Proportional zu den wachsenden Möglichkeiten der Technologie stieg auch die kreative Beschäftigung mit dem Topos, sei es auf literarischer oder filmischer Ebene.

Alleine der literarische Output der letzten Jahre beziehungsweise Monate zeigt, wie vielfältig und aktuell das Thema der Digitalisierung und deren Folgen abgehandelt wird. Genannt seien an dieser Stelle zuallererst das Schwesterbuch zu Schätzings Werk, Der Circle von Dave Eggers. Aber auch Bücher wie Josefine Rieks Serverland oder Hologrammatica von Tom Hillenbrand sind hierbei Beispiele (und zudem fast durchgängig bei KiWi erschienen)

Die Ambitionen Schätzings: Fluch und Segen

Im Vergleich zu allen Referenzbüchern (und den von Schätzing oftmals im Buch zitierten popkulturellen Quellen) lässt sich konstatieren, dass Schätzing am weitesten ausholt und auch am meisten will. Das ist Fluch und Segen zugleich. Kaum ein zeitgenössischer Schriftsteller geht so weit und ersinnt derartig ausgeklügelte und detailreiche Plots. Doch wo sich andere Autoren beschränken können, und nicht alles ausführlich beschreiben und ausmalen müssen, da fällt dies Schätzing ausnehmend schwer. Natürlich hat der Mann recherchiert und birst schier vor Erlebtem und Weitergedachtem. Doch diese Fülle an Themen und Ideen macht Die Tyrannei des Schmetterlings leider nicht besser. Mir persönlich wären gut 100 Seiten weniger an Exkursen und Abschweifungen zugunsten eines fokussierten Plots lieber gewesen. Warum nicht ein Thriller und ein ergänzendes Sachbuch, so wie es Schätzing schon einmal beim Schwarm praktiziert hat? Mir scheint das die bessere Lösung, anstelle den Plot zu überfrachten und damit Gefahr zu laufen, die Leser ob dieser Fülle manchmal zu verlieren.

Ein wenig mehr Ökonomie beim Erzählen würde  so manches Mal helfen, dann ist der Plot aber auch wieder überraschend, fantasievoll und bietet große Bilder auf. So oszilliert sein Roman immer wieder zwischen verschriftlichtem Christopher-Nolan-Thriller und (über)forderndem Sachbuch zum Thema KI und Paralleluniversen.

Fazit

Ambitioniert und groß angelegt ist Die Tyrannei des Schmetterlings auf alle Fälle – derartig expandierende Erzählwelten finden sich in der deutschen Literatur eher selten. Manchmal müsste sich Schätzing als Erzähler allerdings auch etwas zurücknehmen, um die Leser im Gewirr von Kybernetik, digitaler DNA, Quantencomputer und Künstlicher Intelligenz nicht zu verlieren.

Trotz dieser erzählerischen Schwächen eine faszinierende und mehr als erschreckende Vision dessen, was aus den Entwicklungslabors im Silicon Valley schon bald unseren Alltag definieren könnte. Zählt der Tod auch schon bald zu Dingen der Vergangenheit und brauchen wir wirklich noch Tiere und Insekten, wenn wir diese in Labors doch deutlich funktionaler und besser erzeugen können? Wer Schätzing liest, kennt auf diese Fragen mögliche Antworten!

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