Mit seinem Werk Das blinde Licht hat sich der chilenische Autor Benjamín Labatut als Meister der Verknüpfung von literarischer Fiktion und naturwissenschaftlich-philosophischen Themenkomplexen erwiesen. In vier Geschichten brachte er damals das Denken und die naturwissenschaftlichen Revolutionen Einsteins, Bohrs, Grothendieks, Schrödingers oder Fritz Habers auf den Punkt. Nun tritt er mit MANIAC erneut den Beweis seiner literarischen Meisterschaft an und erzählt vom vergessenen Wissenschaftler John von Neumann und den Anfängen der Künstlichen Intelligenz.
Egal ob Chat GPT oder Midjourney – die Anwendungsgebiete und Fortschritte in Sachen Künstlicher Intelligenz wachsen in atemberaubenden Tempo an. Und auch die Literatur erschließt sich das Gebiet der KI immer mehr. So unternahmen die Schriftsteller Tom Hillenbrand oder Frank Schätzing im Gewand von Thrillern schon früh Versuche, die Potentiale und Risiken der Künstlichen Intelligenz zu beschreiben. Auch Raphaela Edelbauer wendete sich in ihrem zweiten Roman DAVE dem Thema der KI zu und stellte die Frage in den Mittelpunkt, wie man einem Programm Intelligenz verleiht und einen Rechner von binären Rechenschritten bis zu eigenständigem Denken und Entscheiden führt.
John von Neumann und der MANIAC
Einer der frühesten Denker, der sich auf diesem Gebiet wie auch in vielen anderen Disziplinen umtat, war der Denker John von Neumann, der eigentlich als János Lajos Neumann 1903 in Ungarn geboren wurde. Seine Geistesleistungen, sein von Logik und der Faszination für das Grenzüberschreitende geprägtes Denken und seine vielfachen Projekte wie die Entwicklung des ersten Supercomputer, sie stehen im Mittelpunkt dieses ebenso vielstimmig wie literarisch hochinteressant komponierten Romans.
Wir verdanken ihm so viel.
Er hat uns nicht nur zum bedeutendsten technologischen Durchbruch des zwanzigsten Jahrhunderts verholfen.
Er hat uns einen Teil seines Verstandes hinterlassen.
Getauft haben wir unsere Maschine Mathematical Analyzer, Numerical Integrator and Computer.
Benjamín Labatut – MANIAC, S. 185
Das sagt Julian Bigelow, ein Elektroingenieur und einer der vielen Stimmen, die in Labatuts Roman über ihre Begegnung mit John von Neumann erzählen dürfen. Bigelow, der am MIT Mathematik und Elektrotechnik studierte, war ein Gefolgsmann John von Neumanns, in dessen Auftrag er den Supercomputer MANIAC entwarf und federführend installierte.
Seit Kindertagen an war Neumann von Computern und der Möglichkeit der Programmierung begeistert. So erzählt sein Bruder – eine weitere der vielen Erzählstimmen – von Janos´ kindlicher Faszination für einen mechanischen Webstuhl, der per Lochkarte bedient wurde. Immer weiter trieb von Neumann später die Entwicklung des Computers, die ihn bis in die Wüste Mexikos führte, wo J. Robert Oppenheimer in Los Alamos an der Entwicklung der Atombombe arbeitete. Es war der von Neumann entwickelte Computer, dessen Berechnungen zur Wirksamkeit einer geplanten Wasserstoffbombe entscheidende technische Fortschritte ermöglichte.
Das Grenzüberschreitende in der Technik
Neben solchen militärischen Projekten war es vor allem das Grenzüberschreitende, das von Neumann begeisterte und herausforderte. Die Grenzen der Logik, mathematische Gesetzmäßigkeiten und das ihnen innewohnende Chaos, sie faszinierten von Neumann zeitlebens, wovon Labatut durch die vielstimmige Komposition gelungen Zeugnis ablegen kann.
Begegnungen mit dem österreichischen Mathematiker Kurt Gödel, dessen Denken ihn in eine Krisis stürzte oder seine Unterstützung für den laut Augenzeugen „verrückten“ Wissenschaftler Nils Aall Barricelli, der Neumanns Erfindung des MANIAC dazu nutzen wollte, eine digitale Evolution von intelligentem Leben im Supercomputer nachzubilden. Sie alle geben einen Eindruck von etwas, das hinter der „normalen“ Logik und Technik liegen könnte, dem Neumann zeitlebens auf der Spur war, ihm aber nie wirklich nahekam, sondern (oder vielleicht auch deswegen) nach seiner Krebsdiagnose plötzlich den Glauben suchte.
Schwankend zwischen Technik und Transzendenz, zwischen Logik und Metaphysik zeigt MANIAC einen Menschen, den stets die schwarzen Löcher des Unerklärlichen anzogen und dessen visionäres Denken auch heute noch nachwirkt, obgleich der Name John von Neumann nicht mehr vielen Menschen ein Begriff sein dürfte.
Der Gottvater der KI
Durch die geschickte Montage des Romans gelingt es Benjamín Labatut, das Wirken von Neumanns und dessen Theorien sogar bis in die Jetztzeit zu dehnen. Denn neben der Auftaktepisode, die die Krisis des Physikers Paul Ehrenfest zeigt, der in den 30er Jahren an die Grenzen der Naturwissenschaften stößt, in Depressionen versinkt und seinen eigenen Sohn und später sich selbst erschießt, bindet Labatut dessen Grenzerfahrung und Limitation mit der einer völligen Entgrenzung zusammen.
Dies gelingt Labatut, indem er sich im letzten Teil des Romans in bewunderswerter Intensität und Plastizität dem Go-Spiel widmet. Jahre nach dem legendären Match des Schachgroßmeisters Gari Kasparow gegen den Schachcomputer DeepBlue von IBM war es eine Künstliche Intelligenz namens Alpha, der es erstmals gelang, einen Go-Meister in diesem hochkomplexen Spiel zu schlagen. Dieses Duell von Menschen und Maschine vermittelt Benjamín Labatut trotz komplizierten Regelwerk und Technik höchst verständlich und ja – mitreißend.
In diesen Schilderungen scheint die Kontinuität und noch gar nicht wirklich absehbare Konsequenz von John von Neumanns Erfindung auf. Was stellt man mit einem Supercomputer mit einer Rechenleistung an, die unser Denken ebenso weit überschreitet, wie dies auch der Physiker Paul Ehrenfest zu Beginn des Romans erfahren musste?
Im Gegensatz zu Ehrenfests Konsequenz aus dessen Erfahrung legt Labatut den notwendigen Tod von Mensch oder Maschine hier dann aber nicht nahe. Vielmehr hält sich sein Roman mit moralischen Einordnungen oder Wertungen angenehm zurück. Es zählt zu den Qualitäten dieses brillanten Romans, ein Gefühl der Potentiale und möglichen Konsequenzen der intelligenten Computer zu geben, ohne aber in den alarmistischen Weltuntergangssound zu verfallen, wie er vielen thematisch ähnlich gelagerten Büchern dieser Tage zueigen ist.
Fazit
Mitten hinein in unsere Gegenwart weist MANIAC, das mit John von Neumann einen faszinierenden Denker, einen Grenzüberschreiter und einen ruhelosen Geist in den Mittelpunkt stellt. Ebenso grenzüberschreitend wie das Denken des 1903 geborenen Visionärs ist auch dieser Roman in seiner Montage und erzählerischen Anlage. So nimmt sich das Buch manchmal geradezu wie eine Dokumentation aus, ist Einführung in die KI ebenso wie Porträt John von Neumanns, erzählt von Potentialen der Technik wie von schweren persönlichen Krisen und der Frage nach Verantwortung für unsere digitale Schöpfung.
Schwankend zwischen Technik und Transzendenz gelingt Benjamin Labatut hier ein hellsichtiges Buch, das zum Besten gehört, was bislang über Künstliche Intelligenz geschrieben wurde. Ihre Ursprünge und Kontingenz stellt der chilenische Autor anregend und elegant vor. Wer sich auf literarisch überzeugende Art und Weise in diesen Themenkomplex KI einlesen möchte, der kommt an Benjamín Labatuts Buch nicht vorbei!
- Benjamín Labatut – MANIAC
- Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
- ISBN 978-3-518-43117-7 (Suhrkamp)
- 395 Seiten. Preis: 26,00 €