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Fereidoun M. Esfandiary – Der letzte Ausweis

Welch absurde Züge der Versuch der Erlangung eines Reisepasses annehmen kann, das lässt sich aus dem in der Reihe Weltlese der Büchergilde Gutenberg erschienenen Roman Der letzte Ausweis von Fereidoun M. Esfandiary erfahren. Besonders verkompliziert sich die Sache durch den Staat, dessen bürokratische Landschaften Esfandiarys Held in allen Höhen und Tiefen durchwandelt. Esfandiarys Roman spielt nämlich im Iran zur Zeit der 60er Jahre.


Es ist wohl eine der meistzitiersten Szenen aus den Asterixfilmen: die Rede ist vom Passierschein B38, den Asterix und Oblix im Film „Asterix erobert Roman“ erhalten müssen, um damit eine der vielen Aufgaben zu meistern, die ihnen im Auftrag Cäsars gestellt werden, um ihren ganz eigenen Marsch auf Rom zu unterbinden.

Dazu suchen die beiden Gallier eine römische Behörde auf, die sie nicht nur auf eine aberwitzige Odyssee auf der Suche nach Zuständigen für den ominösen Schrieb schickt, sondern auch schon bald die Behördenmitarbeiter*innen selbst in den Wahnsinn treibt. Die Absurdität und Sinnlosigkeit mancher Behördengänge und der vielgescholtenen Bürokratie wurde selten so prägnant zusammengefasst, sodass sich dieser Clip noch immer großer Beliebtheit erfreut und die Suche nach dem Passierschein schon fast zum geflügelten Wort geworden ist.

Ein Mann in den Mühlen der Bürokratie

Fereidoun M. Esfandiary - Der letzte Ausweis (Cover)

Liest man den ursprünglich in den 60er Jahren und 1999 unter dem Titel Identity Card (wieder)veröffentlichten Roman des iranischen Autors Fereidoun M. Esfandiary, erkennt man schnell, dass nicht nur in Zeichentrickfilme die Mühlen der Bürokratie langsam mahlen, sondern dazu beitragen können, Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Und das kommt im Falle von Esfandiarys Roman so:

Der Lehrer Dariusch Aryana kehrt nach einem langen Aufenthalt in seine Heimat Iran heim. Lange aufhalten will er sich dort aber nicht, im Gegenteil. In sich trägt er den Wunsch, schnell wieder sein Heimatland zu verlassen. Doch dafür braucht er einen Ausweis – und diesen im Iran der 60er Jahre zu erlangen, das stellt sich als schier unüberwindliche Aufgabe heraus.

So wird er von Mitarbeiter zu Mitarbeiter verwiesen, Kompetenzen scheinen ungeklärt oder widersprechen sich, oftmals sind die Zuständigen nicht am Platz anzutreffen. Selbst Bestechung oder die Hinwendung zu höhergestellten Kräften zeitigen keinen Erfolg. Höhepunkt der kafkaesken Odyssee durch Vorzimmer und Büros ist die Anzweifelung von Aryanas Status als „echter“ Iraner. Und so irrt er weiter von Büro zu Büro und wird zunehmend verzweifelt.

Am nächsten Tag ging er frühmorgens zu Herrn Bastans Büro im Standesamt. Er erklärte, warum er gekommen war, und Herr Bastan,der aufmerksam zugehört hatte, schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Herr Aryana, niemand hat Ihren Brief an mich weitergeleitet.oder mit mir über IHren Antrag gesprochen.“

„Ich war gestern in Herrn Dr. Schayans Büro, und er sagte, er würde meinen Brief an Sie weiterleiten, und Sie würden ihn Herrn Firuz übergeben. Er riet mir, heute zuerst bei Ihnen vorbeizuschauen.

Herr Bastan breitete die Arme aus und schwor, er habe weder irgendwelche Briefe noch Anweisungen betreffs Herrn Aryana erhalten. „Jede Menge Briefe und Dokuente sind heute bereits eingetroffen, aber Ihr Schreiben habe ich nicht erblickt. Warten Sie, ich sehe nochmals nach.“ Er durchforstete den Papierstapel, die sich auf seinem Schreibtisch türmten, und suchte auch in der obersten Schublade. „Nein, es ist nicht hier, ganz bestimmt nicht, dessen können Sie sich sicher sein.“

Fereidoun M. Esfandiary – Der letzte Ausweis, S. 25

Trauriger Ernst

Das, was in seiner ganzen Absurdität eher einer Satire gleicht, hat dabei einen durchaus ernsten Hintergrund, wie Esfandiarys dem Roman vorangesetzten Worten zu entnehmen sind

Dieses Buch wurde in Teheran geschrieben. Das Manuskript wurde im Teheraner Postamt abgefangen und konfisziert. Ein zweites Exemplar wurde eilig abgetippt und mit der Hilfe zweier Amerikaner ins Ausland gebracht.

Ich bin dem iranischen Freund dankbar, der unter großen Risiken das Manuskript zweimal abgetippt hat, ebenso den beiden amerikanischen Freunden.

Für jene, die den Iran nicht kennen, mag die Anmerkung hilfreich sein, dass es sich bei diesem Werk um keine Satire handelt.

Vorwort zu „Der letzte Ausweis“ von F. M Esfandiary

Die außer Landes geschmuggelte Geschichte beschreibt einen Iran, der sich durch undurchsichtige Regeln, Korruption und Willkür auszeichnet. Der weltgewandte Dariusch kollidiert dabei nicht nur in Sachen Sprache mit den Gepflogenheiten seines Heimatlandes.

Fremd im eigenen Land

Unsicher auf dem Spielfeld, auf dem nach für ihn unerklärlichen Regeln gespielt wird, taumelt er durch das Land, eckt auf Parties mit seinen Ansichten an und gerät schließlich sogar noch in eine Revolution gegen den Schah, bei dem das abfällige Wort der „Jubelperser“ noch einmal eine ganz eigene Bedeutung erhält.

Der letzte Ausweis besticht mit seiner Beschreibung der Absurdität eines eigentlich unkomplizierten Vorganges und zeigt einen Mann, der fremd im eigenen Land geworden ist und der nicht weiß, wie er sich dem Mahlwerk der Bürkokratie erwehren soll, das ihn immer tiefer in seine Abgründe hineinzieht. Zudem bieten sich Einblicke in ein Land, dessen Bewohner*innen mit den herrschenden Regeln und Ungleichheiten auch nicht länger leben wollen – zum Schrecken der herrschenden Kaste, die nichts unversucht lassen, um die öffentliche Meinung zu drehen und eine gehorsame Welt durchzusetzen.

Fazit

Der 1930 in Brüssel als Sohn iranischer Diplomaten in Brüssel geborene Feridoun M. Esfandiary schafft es mit seinem Roman, die Bürokratie als Machtinstrument und Unterdrückungsapparat mitsamt seiner ganzen absurden Auswüchse zu zeichnen. Dem Zermahlenwerden seines weltläufigen und verzweifelnden Helden wohnt man gerne bei und bekommt nebenbei einen plastischen Eindruck, wie es sich angefühlt haben muss im Iran der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Mit Der letzte Ausweis ist Herausgeber und Übersetzer (in Zusammenarbeit mit Susann Urban) eine echte Entdeckung gelungen, die den Blick dorthin lenkt, wo auch heute noch die Gegenwartsliteratur kaum hin vorstößt. Ursprünglich in den 60er Jahren verfasst zeigt der Roman keine Abnutzungserscheinungen. Mit klarer Sprache geschrieben und mit zeitlosen Themen besetzt verdient dieser Blick ins Innere des Maschinenraums des Iran auch heute noch eine Empfehlung!


  • Feridoun M. Esfandiary – Der letzte Ausweis
  • Herausgegeben und übersetzt von Ilija Trojanow
  • Übersetzt von Susann Urban
  • Erschienen in der Edition „Büchergilde Weltlese“
  • 221 Seiten. Preis: 17,90 €

Robertson Davies – Der Fünfte im Spiel

Welche lebenslangen Konsequenzen ein einfacher Schneeballwurf haben kann, das illustriert der Autor Robertson Davies in seinem 1970 erschienenen Roman Fifth Business, zu Deutsch Der Fünfte im Spiel. Eine Wiederentdeckung.


Robertson Davies (1913-1995) gilt als einer der bekanntesten kanadischen Schriftsteller, dessen Bücher vielfache Ehrungen erhielten, unter anderem Nominierungen für den Booker Prize. Das Schreiben war für Davies lange eine Nebentätigkeit, bis 1981 arbeitete er nämlich eigentlich am Trinity College an der Universität von Toronto. Dort lehrte er bis zu seinem Ruhestand Literatur und Kreatives Schreiben. Zeitlebens interessierte er sich auch stark für Psychologie und die Lehren der großen Psychiater jener Zeit, darunter etwa Sigmund Freud oder C. G. Jung. All diese Themen, mit denen Davies zeitlebens in Berührung kam, finden sich auch in Der Fünfte im Spiel, das vielen als Davies‘ bestes Buch gilt.

Der Erzähler ist Dunstable Ramsay, genannt Dunstan. In einer Rückschau berichtet er dem Direktor seiner Schule, an der er jahrzehntelang lehrte, von seinem Leben. Ausgangspunkt ist dabei jener eingangs erwähnte Schneeballwurf. Aus jugendlichem Leichtsinn wirft sein Freund/Feind Percy Boyd Staunton einen Schneeball nach Dunstan. Doch dieser duckt sich weg, sodass der Schneeball die schwangere Frau des lokalen Pfarrers trifft. Jene Mrs. Dempster, so ihr Name, stürzt hochschwanger – und löst so die Geburtswehen aus. Ihr Kind kommt deutlich vor dem erechneten Termin zur Welt – und Dunstan wird von großen Schuldgefühlen geplagt. In der Folge entspinnt sich zwischen ihm und Mrs. Dempster eine komplizierte Freundschaft, die das ganze Leben lang andauern soll.

Aus einem Schneeball wird eine Lawine

Chronologisch entfaltet Dunstable vor uns sein Leben, ausgehend von jenem schicksalhaften Schneeball, aus dem eine ganze Lawine an Schicksalen und Ereignissen werden soll. Dabei ist der Ton, in dem die Geschichte erzählt wird, kaum veraltet, trotz des nun baldigen 50-jährigen Jubliäums des Romans. Einen Anteil daran hat auch die Übersetzung von Maria Seifert.

Man folgt Dunstans Erlebnissen sehr gerne, egal ob dieser von seinem Schicksal im Ersten Weltkrieg, seiner Kindheit in der kanadischen Provinz oder seinen Abenteuern bei einem Zirkus erzählt. Das Buch hat einen ruhigen Fluss, weiß an manchen Stellen mit trockener Komik zu überraschen, bietet eine interpretatorische Vielfalt und ist einfach das, was ich landläufig als guten Schmöker bezeichnen würde. Mir war es an manchen Stellen etwas zu viel Metaphysik und Religion (gerade die von Davies ausführlich skizzierten religiösen Befindlichkeiten und Rivalitäten der verschiedenen Kirchen sind doch etwas aus der Zeit gefallen). Aber das gleicht sich auf die Länge des Romans gut aus. Eine wirkliche Wiederentdeckung, die in Kanada zu Recht auf den Lektürelisten von Schulen steht.


Bildrechte Porträt Davies: By Source (WP:NFCC#4), Fair use, https://en.wikipedia.org/w/index.php?curid=5500688

Karl-Ove Knausgård – Leben

Die Arbeiten im Bergwerk der Erinnerungen gehen weiter. Karl-Ove Knausgård steigt abermals tief hinein in seine Biografie und fördert Erinnerungen zutage, die er zu einem dichten Porträt seiner Adoleszenz verwebt.

Leben von Karl Ove Knausgard

Leben von Karl Ove Knausgard

Die Mühen der Kindheit und der Pubertät liegen größtenteils hinter Knausgård (vgl. den Vorgängertitel Spielen), nun gilt es zu leben. Doch dieses Leben startet zunächst gänzlich unspektakulär. Als Lehrer einer kleinen Schule in Nordnorwegen verdingt er sich als 18-Jähriger. Dort erlebt er erste Schritte als Pädagoge, versucht in die Dorfgemeinschaft hineinzufinden und ist von den Frauen in seiner Nähe überfordert.

Während er versucht, in einer Art Zwergenschule seinen Schülern Astronomie oder norwegische Literatur nahezubringen, verdrehen ihm die Frauen den Kopf. Zwar würde er bei diesen gerne einmal zum Zug kommen, doch Knausgårds eigene Unbeholfenheit steht dem im Wege. Während sich die Eltern nach der Scheidung in ihren neuen Leben einrichten, sucht er derweil halt bei Freunden oder exzessiven Feiern. Als Plattenkritiker für eine kleine Zeitung mach er erste Schritte als Schreiber und versucht sich an Kurzgeschichten, um seinem Traum als Schriftsteller näher zu kommen.

Traeumen von Karl Ove Knausgard

Traeumen von Karl Ove Knausgard

Auch Leben ist wieder die schon aus den drei Vorgängerbänden wohlbekannte Melange aus Reflektionen und (fiktionalisierten) Erinnerungen. Die meisten dieser Erinnerungen sind eigentlich das Gegenteil von spektakulär oder überlieferungswürdig, doch gelungen schafft es der Autor, einen Erzählteppich mit großen und kleinen Episoden aus seinem Leben zu weben. Stets nimmt auch das Scheitern und die vergeblichen Mühen des Autors einen großen Raum in seinem Werk ein. Man könnte Knausgårds Schilderungen natürlich als banal oder als Selfie-Prosa schmähen, doch das wird dem Mammutwerk nicht ganz gerecht. Der norwegische Schriftsteller schafft es auch hier wieder mit seinen Erinnerungen diese auch beim Leser loszutreten und ihn ins eigene Erwachsenwerden zurückzukatapultieren. Man erinnert sich an Episoden seiner eigenen Biografie und reist so mit Karl-Ove Knausgård auch ins eigene Bergwerk der Erinnerung hinab. Bislang auf Deutsch übersetzt liegt noch vor: Bd. 5 Träumen