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Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude

Letzte Ausfahrt HomeMarket. In seinem neuen Roman Der Kaiser der Freude lässt Ocean Vuong einen jungen Amerikaner mit vietnamesischen Wurzeln im Nirgendwo stranden. Ein Diner wird zu seinem neuen Lebensmittelpunkt. Zudem findet er in der baltischen Weltkriegsüberlebenden Grazina eine verwandte Seele, die zusammen ein ungewöhnliches, aber hochfunktionales Gespann ergeben, um sich dem (Über)Leben zu stellen.


Mit bemerkenswert hohem Ton nimmt uns Ocean Vuong auf den ersten Seiten seines neuen Romans mit in eine Stadt, die so durchschnittlich wie hoffnungslos ist.

Es ist eine Stadt, in der sich Highschool-Kids, die Freitagabend nirgendwo hinkönnen, mit den Pick-Ups ihrer Stiefväter in die unbeleuchteten Ecken des Walmart-Parkplatzes verdrücken, aus Poland-Spring-Flaschen Smirnoff trinken und sich mit Weezer und Lil Wayne bedröhnen, bis sie eins Tages nach unten schauen, ein Baby in den Armen halten und sich klarmachen, dass sie in ihren Dreißigern sind und der Walmart sich nicht verändert hat, bis auf das Logo, das mittlerweile heller ist und ihren von den Jahren hager gewordenen Gesichtern einen bläulichen Schimmer verleiht.

Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude, S. 14

Hier kommt man nicht wirklich weg – außer durch den Tod. Ebenjenen sucht auch der junge Hai, der zu Beginn der Romanhandlung durch einen Suizid der Trostlosigkeit der Stadt und der eigenen Existenz entkommen will. Doch damit ist es nicht weit her (und der Roman hätte es höchstwahrscheinlich auch nicht auf den Umfang von über 500 Seiten gebracht). Denn bevor er sich von einer Brücke in den Tod stürzen kann, wird der junge Mann in Ocean Vuongs Roman gerettet.

Hai und Grazina

Ocean Vuong - Der Kaiser der Freude (Cover)

Sein Schutzengel ist über 80 Jahre alt, stammt aus dem Baltikum und ist dement. Diese Fakten über seine Retterin offenbaren sich Hai allerdings erst, nachdem diese ihn von der Brücke heruntergerufen hat. Denn eines kann die alte Dame auf gar keinen Fall brauchen – noch mehr Geister in ihrem Zuhause, so lässt sie es den jungen Hai wissen.

In der Folge schlüpft dieser in Grazinas – so der Name der Frau – Haus unter und freundet sich mit der betagten Dame an, die Hai aus einem akustischen Missverständnis heraus auf den litauischen Namen Labas tauft, schließlich bedeutet dieser Name in ihrer Muttersprache Hallo, also so viel wie Hi, das sie bei dessen Vorstellungen verstanden hat.

Doch nicht nur, dass Grazina Litauisch beherrscht, auch kennt sie eigenwillige Methoden, um die Dämonen und schlechten Gedanken auszutreiben. Zerstampfte Brötchen im Regen sind nur ein Ausdruck einer eigenwilligen Kur, der sich die beiden Figuren gegenseitig unterziehen. Denn allmählich kippt in Vuongs Roman das Betreuungsverhältnis, als sich Grazinas Demenz immer stärker zu Wort meldet.

Hai besorgt sich einen Job im trostlosen HomeMarket einen Job und arbeitet bei Mindestlohn Seite an Seite seines Cousins Sony Fertignahrung aufzuwärmen. Zusammen mit anderen Außenseitern erwärmen sie Nahrungsbeutel und servieren Hühnchen vom Grill – und das oftmals im Akkord. Zur Entspannung dienen ihm die Lektüren, die er in Grazinas Haus findet und ganze Bingesession der Serie The Office.

Als Grazina immer öfter den Bezug zur Realität verliert und die Erinnerungen aus der Kriegszeit wieder ans Tageslicht steigen, denkt sich Hai fantasievolle Spiele aus, um für Grazina eine eigene Welt zu erschaffen, während er selbst Mühe damit hat, seiner Mutter gegenüber ebenfalls eine Scharade aufzuführen. Denn diese wähnt ihren Sohn mitten im Medizinstudium anstelle in der Küche eines Franchiseunternehmens im Nirgendwo, wo Hoffnungen und Aufstiegsversprechen nicht existieren. Und so versucht Hai mit falschen Fassaden für die Menschen um ihn herum den Anschein von Normalität aufrecht zu erhalten.

Ein Roman wie das Essen im HomeMarket

Mit dem Roman ist es ein bisschen so wie mit dem Essen, das Hai, Sony und Konsorten im HomeMarket kochen. Auf den ersten Blick sieht es appetitlich aus, macht satt – aber hohe Kochkunst ist es nicht. So ist auch der Nährwert dieses Buchs nicht unbedingt der beste. Gewiss, sprachlich ist Der Kaiser der Freude weitestgehend solide (Übersetzung durch Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl), obgleich die immer mal wieder eingeschobenen Pathosbröckchen in Form von überladenen und manchmal auch schiefen Bildern im Erzählfluss etwas irritieren:

Er trieb in einem benommenen Schockzustand dahin. In der Stille, die wie auf eine Überschwemmung zu folgen schien, beschworen Vogelrufe das schwindende Licht. Er spürte eine Veränderung, und als er einen Blick über die Highway-Böschung war, sah er flüchtig die neuen Knospen, die an Sträuchern entlang des Flussufers sprossen, während sich unter ihm das von Lichtscherben gesprenkelte Tal dahinwälzte. Ein rosafarbener Konfettischauer strudelte, in einen Wirbel der Strömung eingebettet, fort – Überreste der Kirschblüten, die eine Meile weiter flussaufwärts, am 9/11-Memorial an der Interstate 91, von einem Nordwind zerpflückt worden waren.

Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude, S. 509

Lässt der Umfang des Buchs auf einen Great American Novel hoffen, worauf auch das virtuose erste Kapitel hinweist, so stellt sich hier bald Ernüchterung ein. Viele Versprechen, die Der Kaiser der Freuden gibt, löst das Buch in meinen Augen nur bedingt ein.

Kein Great American Novel

Gewiss, Vuongs Roman blickt auf die Figuren und Orte, die in solch voluminösen Romanen sonst selten vorkommen. Auch finden sich Spuren von Gesellschaftskritik in dem Buch. Aber viel Neues oder Überraschendes erfährt man weder über das Amerika der Gegenwart, noch über die Perspektive von Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Amerika.

Es sind Binsen, die das Buch bestätigt: Menschen wie Hai sind Außenseiter, erfahren Rassismus und müssen härter arbeiten als andere Bevölkerungsschichten. Aber auch trotz krasser Szenen wie einer Episode in einem Schlachthaus bleibt Ocean Vuong mit den erzählerischen Mitteln und den Themen, die er hier setzt, zumindest hinter meinen Erwartungen zurück. Will man das Buch als Kommentar auf die die Lage Amerikas lesen, so gibt diese Lesart nicht viel her. Es ist allein die Geschichte einer ungleichen Freundschaft zwischen den Außenseitern Grazina und Hai, die Vuong am meisten beschäftigt.

Wo sich Auf Erden sind wir kurz grandios radikal mit der eigenen Identität und damit auch Herkunft und Sexualität auseinandersetzte, ist Der Kaiser der Freude zwar deutlich länger, aber auch deutlich zahmer geraten. Natürlich umkreist das Buch auch die Frage von Homosexualität, Drogenmissbrauch und enttäuschte Hoffnungen der Eltern. Aber die erzählerische Radikalität und Tiefenbohrung des vorherigen Buchs lässt Ocean Vuongs neuester Streich leider vermissen, sodass das Buch in meinen Augen hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.


  • Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude
  • Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-28274-2 (Hanser)
  • 528 Seiten. Preis: 27,00 €
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Ling Ma – New York Ghost

In China greift ein neuartiges Virus um sich. Bei einer Ausbreitung in China bleibt es nicht, schon bald wird das sogenannte „Shen-Fieber“ zu einer Pandemie, bei der es keine Heilungschancen gibt. Die USA riegeln sich ab, die See- und Luftwege nach China werden abgeschnitten. Und doch ist das Virus mobiler als gedacht. Schon bald breitet es sich auch in den USA aus, trotz der Pflicht zu Schutzmasken und vermehrter Hygiene. Die Gesellschaft driftet zunehmend auseinander, vereinzelt sich, tritt den Rückzug ins Private an.

Klingt wie eine Blaupause zu unserer aktuellen Situation? Auf alle Fälle – allerdings, und das ist das Bemerkenswerte: dieses Buch erschien bereits 2018. Ling Ma verfasste damals New York Ghost, das nun aufgrund seiner Prophetie geradezu unheimlich wirkt. Ein Buch, das man auf der Suche nach Ablenkung von der Gegenwart besser nicht in die Hand nehmen sollte. Wer allerdings originelle Endzeiterzählungen zu schätzen weiß, der kann hier unbedingt zugreifen.

Alles beginnt mit einem dystopischen Setting. Die Erzählerin Candace Cheng hat sich einer Gruppe Überlebender in einem postapokalyptischen Amerika angeschlossen. Fast alle Menschen sind tot, die Erde wirkt unbevölkert. So etwas wie eine Zivilisation gibt es nicht mehr. Candace wurde in einem Taxi von ein paar Überlebenden aufgefunden, die sich nun unter der Leitung eines Anführers auf den Weg machen, um eine Mall in ihren Besitz zu bringen. Doch wie kam es zu dieser Situation? Davon erzählt Candace in Rückblenden.

Auf der Suche nach Identität

Dabei beschränkt sich Ling Ma allerdings glücklicherweise nicht auf eine pure dystopische Erzählung, sondern bringt einige Themen mehr in ihren Roman ein. So ist Candace das Kind zweier chinesischer Einwanderer und in ihrer Suche nach einer Identität zwiegespalten. Einerseits wird sie durch die familiären Wurzeln und Aufstiegshoffnungen geprägt, auf der anderen Seite möchte sie sich auch dem amerikanischen Lebensstil anpassen.

Immer wieder durchstreift sie vor dem Ausbruch des tödlichen Fiebers New York. Sie beobachtet Menschen, wandert durch Chinatown und pflegt ein Blog mit dem sprechenden Titel New York Ghost. Wie ein Geist durchmisst sie ein New York, in dem sie keinen rechten Anschluss finden mag, fotografiert urbane Szenen und ist von Unrast geprägt.

Diese Unrast im Charakter von Candace Cheng steht in einem groben Kontrast zu ihrer Arbeitsdisziplin, die von einem hohen Arbeits- und Leistungsethos geprägt ist. Jeden Tag begibt sie sich pflichtbewusst in ihre Arbeit nahe des Time Square, wo sie für einen großen Verlag Bibelprojekte vergibt und koordiniert. Der Verlag zeichnet sich durch ein immenses Preisdumping aus, weswegen die Bibel zumeist im Ausland gefertigt werden müssen, genauer gesagt in China.

Und obwohl Candace qua Job ganz nah dran ist an den Ereignissen, die von China ausgehend ihren Lauf nehmen, bekommt sie zunächst wenig davon mit. Sie stürzt sich in die Arbeit und selbst als New York schon ganz entvölkert und entgeistert ist, schleppt sie sich mit stoischer Disziplin in die Arbeit. Denn die Ordnung muss ja aufrechterhalten werden.

Doch irgendwann muss auch Candace einsehen: in einer Welt, in der fast niemand mehr lebt, in der die öffentliche Ordnung komplett zusammengebrochen ist, hilft auch ein hohes Arbeitsethos nur bedingt, um zu überleben.

Vom Überleben, Arbeitsethos und dem Shen-Fieber

Eine der Lobeshymnen auf das Buch preist New York Ghost als eine Mischung aus The Office und The Leftovers. Und so krude es klingen mag – das trifft den Kern sehr gut (auch wenn ich vom Humor der Ricky Gervais-Serie hier nur bedingt etwas merkte). Ling Ma bringt in ihrem Buch viele scheinbar widersprüchliche Themen zusammen. Die hellsichtige Schilderung einer Pandemie. Betrachtungen der amerikanischen Gegenwart durch eine chinesischstämmige Migrantin. Schilderungen unserer teilweise absurden Arbeitswelt und ihrer ökonomischen Folgen. All das führt ihr Buch zusammen und vergisst dabei auch die Spannung nicht. Denn während Candace immer wieder zurückblickt und so langsam an Kontur gewinnt, treibt die Handlung in der entvölkerten Gegenwart weiter voran.

Immer wieder bricht die Gruppe der Überlebenden zu sogenannten Pirschen auf. Man begibt sich auf die Suche nach der Sicherheit verheißenden Mall. Und zu allem Überfluss muss Candace auch noch ein allesentscheidendes Geheimnis vor der Gruppe Überlebender verbergen. Das Überleben in einer pandemischen Endzeit, es ist mehr als kompliziert.

Fazit

Hätte man hier im Deutschen Ling Mas Roman schon zum Erscheinungszeitpunkt lesen können, man hätte das Buch sicher als reine Fiktion abgetan. Eine Endzeiterzählung mehr, wie sie sicher nie eintreten würde. Doch schon zwei Jahre später hatte die Gegenwart das Buch in Teilen eingeholt. Bei literarisch schwächeren Titeln wäre zu diesem Zeitpunkt das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten gewesen. Die Realität hätte die Fiktion überschrieben und das Buch als schwachen Abklatsch des Erlebten hinter sich gelassen, zumal die Schilderung der Dystopie kein besonderes Alleinstellungsmerkmal gegenüber ähnlichen Veröffentlichungen hat.

Glücklicherweise hat sich Ling Ma aber eben nicht nur auf eine Endzeiterzählung von erschreckender Prophetie verlassen. Ihr Buch bietet ja wie eingangs erwähnt noch andere Blickwinkeln. New York Ghost ist in seiner Gesamtheit ein faszinierendes und hochaktuelles Leseerlebnis. Auch unter dem Aspekt der aktuellen Diskussion über die Frage von Repräsentanz in der Literatur ist das Buch mehr als lesenswert.

Ein Dank gebührt der Herausgeberin und Übersetzerin Zoe Beck. Sie hat das Buch mit ihrem Indie-Verlag CulturBooks dem deutschen Buchmarkt zugänglich gemacht. Und bietet uns damit die Chance auf eine echte Entdeckung einer jungen Autorin mit prophetischen Gaben.

Auch auf dem Blog Poesierausch wurde das Buch besprochen.


  • Ling Ma – New York Ghost
  • Aus dem Englischen von Zoe Beck
  • ISBN 978-3-95988-152-4 (CulturBooks)
  • 359 Seiten. Preis: 23,00 €
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Das Unbeschreibbare beschreiben

Kann man das Unbeschreibbare beschreiben? Wie kann man Flucht, Vertreibung und Heimatlosigkeit in Literatur überführen? Was gibt uns das Recht, über Flucht zu schreiben, die wir hier nie diese Erfahrung machen mussten? Am Samstag, den 08.02.2020, wollen wir genau darüber reden. Im Café Tür an Tür in Augsburg wagen wir einen Literaturabend, der sich um das Thema Flucht und Heimatlosigkeit dreht.

Das Multitalent Florian L. Arnold (Verleger, Sprecher, Zeichner, Autor, etc.) stellt seinen Roman Pirina (Mirabilis-Verlag) vor. Mit dabei ist auch die Augsburger Bloggerin Birgit Böllinger, die den famosen Blog Sätze&Schätze betreibt. Sie wird im Gespräch mit Florian L. Arnold Bücher vorstellen, die sich um die Themen drehen, die auch in Pirina thematisiert werden. Und ich darf den Abend moderieren und vielleicht auch den ein oder anderen Titel einwerfen, der mich stark beeindruckt hat.

Der Eintritt zur Veranstaltung ist kostenlos. Veranstaltungsort ist das Café Tür an Tür in der Wertachstraße 29, 86153 Augsburg. Wir freuen uns über viele Zuhörer*innen!

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