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Lee Cole – Kentucky

Kentucky, kurz vor den Wahlen 2016. Lee Cole zeigt in seinem Debüt einen jungen Mann, der an seiner eigenen Herkunft und Klasse zu verzweifeln droht und der sich zwischen Baumschnitt, Verliebtheit und familiären Schwierigkeiten zurechtfinden muss. Ein großartiges Debüt!


Dass die Durchschnittlichkeit eines amerikanischen Mittelschicht-Lebens trotzdem eine spannende Angelegenheit sein kann, das beweist nicht nur Richard Russo in seinen Romanen. Sollte sich der Autor der Great American Novels eines Tages zur Ruhe setzen – mit Lee Cole stünde ein würdiger Nachfolger bereit.

Der im ländlichen Westen Kentuckys aufgewachsene Autor legt mit Kentucky sein Debüt vor, das von Jan Schönherr ins Deutsche übertragen wurde. Darin erzählt er zumindest partikular einen Campusroman, der sich von „normalen“ amerikanischen Campusromanen doch deutlich unterscheidet. Denn hier steht kein privilegierter junger Mensch im Mittelpunkt, der auf dem Campus zwischen akademischen Partys und Verbindungshäusern hin- und herhuscht.

Vielmehr spielt der Roman tatsächlich zu großen Teilen auf dem Campus, der für Owen Callahan, den Helden von Lee Coles Buch zwar Studien- aber vor allem auch Arbeitsort ist. Denn da der junge Mann alles andere als begütert ist und nach einigen Drogenexzessen in früheren Tagen so gut wie kein Erspartes besitzt, gelingt ihm der Zutritt zur akademischen Welt nur über die Arbeit der Baumpflege.

Baumpflege und Studium

Die Universität von Louisville bietet ihren Baumpflegekräften auf dem Campus eine Art Work & Study an. Tagsüber stutzen Owen, Rando und James zusammen die Bäume auf dem Campus und dem angeschlossenen Arboretum, danach darf Owen Vorlesungen zum Thema Kreatives Schreiben besuchen, was sich hier als ein bisweilen recht skurriles Seminars zum Thema „Dschungelnarrative“ entpuppt.

Lee Cole - Kentucky (Cover)

Derweil hängt Owen in Studentenkneipen wie der „Schadenfreude“ herum und sucht nach seinem Platz im Leben. Nach Hause zieht es ihn nicht wirklich, vor allem weil man seine Bleibe kaum als Zuhause bezeichnen kann. Abgebrannt lebt er im Keller bei seinem Großvater, der ihm neben dem kostenlosen Zimmer auch seinen Truck zur Verfügung gestellt hat. Mit im Haus wohnt zudem sein Onkel Cort, der als eine Art Frührentner seine Tage mit Zocken oder dem stundenlangen gemeinschaftlichen Konsum von Cowboystreifen und Western verbringt.

Man hat sich irgendwie arrangiert, aber immer wieder fliegen die Fetzen und spätestens als Cort in seinem Zimmer ein von der Straßenseite aus gut einsehbares Plakat mit dem Slogan Make America Great Again anbringt, wird klar, dass hier Welten aufeinanderprallen.

Das Leben in den Südstaaten

Besonders deutlich wird dies Owen selbst, als er sich in die aus Bosnien stammende und an seiner Uni lehrende Alma verliebt, die mit ihrer Lyrik und Prosa schon aufhorchen ließ. Ihre sich entwickelnde Liebesgeschichte lässt Owen noch einmal neu auf seine Heimat dort in den Südstaaten und die trostlose Existenz seiner getrennt lebenden Mittelschichtseltern blicken.

Kentucky ist ein Roman, der vordergründig kaum Handlung bereithält. So mäandert Owens Leben zwischen der sich entwickelenden Romanze mit Alma, seiner trostlosen und von Armut geprägten Wohnsituation, seinem Job auf dem Campus und den Gehversuchen als Literat hin und her. Dabei beherzigt Lee Cole aber auch, was er in seinem Roman Alma über Literatur sagen lässt:

Viele große Romane mäandern vor sich hin, und der Plot entsteht nur durch die Abfolge von Ereignisse. Ich meine, ein Plot kann ja manchmal auch bloß darin bestehen, dass Zeit vergeht. Weißt du was ich meine?

Lee Cole – Kentucky, S. 238 f.

Möchte man diesen Roman zusammenfassen, dann ist es nicht die besondere Handlung oder besondere Figuren. Alles mäandert hier in seiner Durchschnittlichkeit dahin. Die Kunst von Lee Cole ist es aber nun, ähnlich wie Richard Russo dieses Mittelmaß als etwas Besonderes zu inszenieren.

Das Besondere im Durchschnittlichen

Sein Romanpersonal ist an Durchschnittlichkeit nicht zu überbieten. Die leicht rassistischen Eltern, Trump-Unterstützer, Republikaner dort im Süden, auf der anderen Seite die Einwandererfamilie Almas, die sich nach der Flucht aus Jugoslawien rasch den neuen Verhältnissen in ihrer Heimat angepasst hat.

Die deprimierende Kulinarik der faden Restaurants und Kneipen, in denen die Dates von Owen und Alma stattfinden, die Flohmärkte auf Parkplätzen, evangelikale Gottesdienste mitsamt der Verfechtung der These des Kreationismus, die Hoffnungslosigkeit und der Stolz der Einwohner dort im Süden der USA, für die auch die Südstaatenflagge irgendwie zur Identität und zum Nationalstolz zählt, von all dem erzählt Lee Cole in seinem Debüt eindringlich und anschaulich.

Aber es ist nicht allein der Blick auf die amerikanische Mittelschicht, kurz vor der spektakulären Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA. Lee Cole beweist in Kentucky neben seinem Auge für die soziologischen Aggregatszustände im Herzland der USA, dass er auch den Aufstiegsmythos der USA zu dekonstuieren in der Lage ist. Wie er das Strampeln Owens für ein vernünftiges Auskommen und wenigstens etwas finanziellen Spielraum zeigt, das ist wirklich gut gemacht.

Irgendwie genoss ich es, ihr meine Schrottjobs aufzulisten. Ich hatte Häuser gestrichen, Burger gebraten und Kinderbücher in einer Bibliothek einsortiert. Vor dem Gastspiel als Baumpfleger in Denver hatte ich in einem Thai-Restaurant in Boulder das Geschirr gespült. Besonders in Colorado war ein Großteil meines Gehalts für Bier, Pillen und das dort eben erst legalisierte Gras draufgegangen. Meine Familie nannte das gern euphemistisch „Party machen“, im Sinne von „Wann hörst du endlich auf, immer nur Party zu machen, und kriegst mal dein Leben auf die Reihe?“. Diese Frage kann ich in den verschiedensten Versionen.

Aber wie eine Party war mir dieses Leben eigentlich nie erschienen. Vor allem hatte ich mich einsam und erbärmlich gefühlt, und diese Einsamkeit hatte irgendwann einen Siedepunkt erreicht, ab dem sie nicht mehr auszuhalten war.

Lee Cole – Kentucky, S. 67 f.

So sehr sich Owen auch für Stipendien bemühen mag und einen Job als Leitung des Baumpflegeteams anstrebt – so wirklich gelingt ihm das Vorankommen nicht. Seinem Milieu und seiner sozialen Prägung kann er nicht wirklich entkommen, wenngleich er sich bei Familientreffen auch streitet und seine liberale Weltsicht mit der der Hinterwäldler-Eltern kollidiert. Letzten Endes ist der amerikanische Traum und das Aufstiegsversprechen aber doch nur ein fernes Glimmen am Horizont. Das zeigt Lee Cole in Kentucky sehr deutlich.

Fazit

Das macht aus Kentucky ein wirklich lesenswertes Buch, das die amerikanische Mittelschicht mit Scharfsinn und Beobachtungsgabe in den Blick nimmt. Lee Cole gelingt ein Roman, der weniger durch seine Handlung als vielmehr durch sein Talent für die Schilderung der Lebenswelt von ganz durchschnittlichen Amerikanern in der Tradition von Richard Russo besticht. Großartige Literatur aus dem Bible Belt im Jahr 2016, das durch den großen Realitätsgehalt und die Schilderung des Großen im Kleinen überzeugt. Ein großartiges Debüt, das noch viel erhoffen lässt.


  • Lee Cole – Kentucky
  • Aus dem Englischen von Jan Schönherr
  • ISBN 978-3-498-00270-1 (Rowohlt)
  • 416 Seiten. Preis: 25,00 €
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