Tag Archives: Serienmorde

Ivy Pochoda – Diese Frauen

Manchmal kommen sie ganz unerwartet daher, die Lektüren, nach denen mir folgender Gedanke durch den Kopf schießt: Darum lese ich! Solch einen unerwarteten Glücksfall und ein lange nachhallendes Leseerlebnis bescherte mir aus dem Nichts heraus Ivy Pochoda mit ihrem Roman Diese Frauen. Ein eindrückliches Leseerlebnis, das für mich Maßstäbe setzt, wie ein guter Thriller heute aussehen muss.


Eine Kultur des Wegschauens

N.H.I – das ist ein polizeiinternes Kürzel, das man in seiner ganzen Unfasslichkeit erst einmal gar nicht erfasst. Die Abkürzung steht für den Ausdruck No humans involved, auf Deutsch etwa „Keine Menschen beteiligt“. Dieser Ausdruck kam bei Drogenabhängigen oder ermordeten schwarzen Prostituierten zur Anwendung, denen man kurzerhand ihre Menschlichkeit und damit eine notwendige Strafverfolgung absprach. Die Abwertung marginalisierter Menschen und potentiellen Straftätern war verheerend. So schlüpfte etwa der Serientäter Lonnie Franklin der Polizei von Los Angeles jahrelang durchs Netz.

Ungestraft konnte er über zwanzig Jahre in Los Angeles schwarze Frauen ermorden, ehe die Polizei 2007 die Community alarmierte. Der erste nachweisbare Morde des später Grim Sleeper genannten Mannes hatte sich bereits 1985 ereignet. Eine Überlebende eines Mordversuchs behandelte die Polizeibehörde nicht als Zeugin, sondern als Verdächtige. Allgemein herrschte in der Behörde trotz der Erkenntnis, dass ein Mörder die Straßen der Stadt unsicher machte, eine Kultur des Ignorierens. Sogar befürwortenden Stimmen für das Tun des Killers gab es im Polizeiapparat, da ja hier auch jemand „endlich einmal die Straßen aufräumen würde“.

Ein skandalöser Fall, der durch Wegschauen und das bewusste Ignorieren von Ermittlungserkenntnissen vielen schwarzen Frauen in Los Angeles das Leben kostete. Ein Fall, der aber auch Erinnerungen an eine ähnliche Mordserie an marginalisierten Personen in Deutschland wachruft, die die Behörden hier ähnlich lasch bis ignorierend verfolgten, ehe das NSU-Trio 2011 aufflog und plötzlich öffentliches Entsetzen darüber einsetzte, wie diese Mordserie all die Jahre nicht nachverfolgt werden konnte.

Und trotz Untersuchungsausschüssen, einem Mammut-Prozess und viel medialer Begleitung kam doch die Seite der Opfer zu kurz. In den USA wie auch hierzulande wird unter dem Schlagwort Say their names gefordert, den Opfern eine Stimme zu verleihen. Woran wir hier immer noch scheitern, das gelingt Ivy Pochoda in ihrem Roman Diese Frauen exzellent. Ein Buch, das lose auf dem Fall des Grim Sleepers basiert und das erfahrbar macht, wie es sich anfühlt, in Kontakt mit einem derartigen Verbrechen zu kommen.

Frauen in Los Angeles

Ivy Pochoda - Diese Frauen (Cover)

Dafür wählt Ivy Pochoda einen vielstimmigen Erzählansatz. Eingeteilt in mehrere Hauptkapitel verleiht sie Diesen Frauen eine Stimme. Da ist eine Frau, die einen Angriff des Mörders überlebt hat. Eine Polizistin mit zu vielen Gedanken im Kopf, die hinter der Mordserie ein Muster sieht. Eine junge Künstlerin, die mit ihren Arbeiten den Toten eine Stimme verleihen will. Und Dorian, eine Mutter eines jungen Mädchens, das ermordet wurde. Schon einmal gab es eine Mordserie an schwarzen Frauen entlang der Western Avenue in Los Angeles, ehe nach einer Pause wieder Frauen umkamen, diesmal eben auch die Dorians Tochter. Das nimmt die Besitzerin einer Fischbude zum Anlass, selbst zu mahnen und für Ermittlungen einzustehen.

Sie alle stehen in Kapiteln im Mittelpunkt, begegnen sich manchmal, beeinflussen sich durch ihr Handeln und treiben die Geschichte voran. Zwischen den Großkapiteln stehen dabei Gedankenfetzen und Schilderungen der Überlebenden, die dem Western-Killer entging. Generell ist festzuhalten, dass jede Figur eine eigene Ausformung ihrer Gedanken und Wahrnehmungen erhält. Die Fischbudenbesitzerin, die immer wieder tote Kolibris in ihrer Umgebung findet. Die Polizistin, der die Gedanken verrutschen und in deren Kopf ein großes Durcheinander herrscht. Die Gattin des Killers, die mit Strenge und Wegschauen ihr Leben zu ordnen versucht. Sie alle sind Figuren, die Pochoda großartig herausarbeitet, ihnen eine eigene Sprache verleiht und so Figuren erschafft, die auch über das jeweilige Kapitel und Buchende in Erinnerung bleiben.

Was eine Mordserie mit den Beteiligten macht, das lässt sich in Diese Frauen unmittelbar erspüren. Die Bräsigkeit des Polizeiapparats, dem einzelne Engagierte gegenüberstehen, die Gefahren, denen Frauen ausgesetzt sind, die systematische Abwertung von Marginalisierten, das ist es, was Ivy Pochoda interessiert und wovon sie auf großartige Art und Weise erzählt. Mag das Buch auch alle Zutaten für einen handelsüblichen Serienkiller-Thriller enthalten, schafft sie es doch, ihr Material so zu gewichten und zu erzählen, dass dieses Buch ganz anders ist als alles, was sich sonst dutzendfach in den Buchregalen findet.

Formal ambitioniert und anspruchsvoll

Ihr Buch ist formal ambitioniert und anspruchsvoll. Durch den Fokus auf die Opfer des Killers und sein unmittelbares Umfeld gelingt es ihr, neu und unmittelbar vom Bösen zu erzählen, das die Gegend rund um die Western Avenue in Los Angeles jahrelang unsicher machte. Diese Frauen ist ein Porträt der dunklen Seiten von Los Angeles, die Ivy Pochoda hier präzise vermisst. Ihr Buch lässt sich auch als feministischer Warnruf auf das Treiben des Grim Sleepers und anderer Serientäter lesen, die jahrelang ungestraft ihren Trieben nachgehen konnten. Das Buch hat mit der Frage vom gesellschaftlichen und polizeilichen Umgang mit marginalisierten Personen ein Thema, das weit über seinen eigentlichen Rahmen und Genregrenzen hinausweist.

Übersetzt wurde dieses Buch von Sigrun Arenz, die weitestgehend einen tollen Job erledigt (auch wenn ich beispielsweise den Terminus des „wildfire“ eher einem „Wildfang“ oder „Wirbelwind“ anstelle eines „Wildfeuers“ vorgezogen hätte) doch ganz großartig, den einzelnen Erzählerinnen auch im Deutschen eine markante Stimme zu verleihen.

Fazit

Wie man meinen Worten vielleicht entnehmen kann: ich bin begeistert und empfehle dieses Buch nachdrücklich. So sehen gute, gesellschaftlich relevante und moderne (Spannungs-)Romane aus. Literarisch hochspannend ausgeformt, formal überzeugend und anders als das Spannungseinerlei. Mit einem gesellschaftlichen Anliegen versehen, dass das Leseerlebnis nie übertüncht, gelingt Diese Frauen das Kunststück, zugleich höchst aktuell und zeitlos zu sein. Eines meiner ganz großen Entdeckungen in diesem Jahr!


  • Ivy Pochoda – Diese Frauen
  • Aus dem Amerikanischen von Sigrun Arenz
  • ISBN 978-3-7472-0218-0 (Ars Vivendi)
  • 356 Seiten. Preis: 23,00 €
Diesen Beitrag teilen

Ulf Torreck – Fest der Finsternis

Paris im September 1805. Der Sturm auf die Bastille ist genauso beendet wie die blutige Terrorherrschaft der Jakobiner . Napoleon herrscht über Europa und in der Hauptstadt seines Reichs große Armut und Elend. Der ehemalige Inspektor Louis Marais, dessen Name noch immer die Unterwelt von Paris in Unruhe versetzt, kehrt genau hierhin zurück. Eigentlich hatte ihn der Polizeiminister Joseph Fouché nach Brest abgeschoben, doch nun braucht er den Polizisten dringend wieder in Paris. Die Leiche eines jungen Mädchens wurde schwer verstümmelt aus der Seine gefischt. Wenn ein Ermittler dem Täter das Handwerk legen kann, dann Marais.

Und dieser stößt bei seiner Recherche recht schnell auf höchst beunruhigende Information. Denn offenbar wurde von oberster Stelle her vertuscht, dass diese Leiche des jungen Mädchens nicht die erste ist, die in letzter Zeit aufgefunden wurde. Eine ganze Reihe weiterer Morde gibt es – nur war an der Aufklärung niemand interessiert. Marais verbeißt sich in den Fall und fordert damit Täter heraus, die keinerlei Interesse an der Wahrheit hinter den Morden haben. Seine Spuren führen in okkulte Kreise und sorgen schließlich dafür, dass aus dem Jäger einer Gejagter wird.

Ulf Torreck ist mit seinem Debüt im Heyne-Verlag ein großer Wurf gelungen. Bisher publizierter er unter dem Namen David Gray im Pendragon-Verlag, nun gibt es im neuen Verlag einen historischen Thriller von ihm zu lesen. Und der hat es in sich. Wendungsreich entführt er den Leser in ein dunkles und dreckiges Paris, das nicht viel mit der Seine-Metropole zu tun hat, die man heute kennt. In großer Armut lebt die französische Bevölkerung, während das Establishment rauschhafte Feste feiert und sich in Eskapismus ergeht.

Als besonderen Clou integriert Torreck zahlreiche historische Gestalten, deren Treiben den Rahmen des Buchs bildet. So spielt der damalige Polizeiminster Joseph Fouché genauso eine entscheidende Rolle wie auch der Staatsmann und Lenker Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord. Schon fast ein Holmes/Watson-Doppel ergibt dann Torrecks Idee, Marais mit dem legendären Marquis de Sade zusammenzuspannen, der den Ermittlungen entscheidend weiterhilft. Diese Idee und die entsprechende Umsetzung bilden das Salz in der Suppe und machen aus Fest der Finsternis ein besonderes Erlebnis.

Eine Prise Jean-Christophe Grangé, ein wenig Das Parfüm, ein wenig Okkultismus, ein bisschen Alexandre Dumas – die Mischung geht auf. Wenn die nächsten Fälle für Louis Marais genauso gut ausgearbeitet sind wie dieser erste Fall, dann stehen uns noch viele großartige Titel ins Haus, bei denen alleine das Lektorat deutlich bessere Arbeit machen muss. Ansonsten eine stimmige Geschichte!

Zum Hintergrund und der Idee hinter dem Roman sei an dieser Stelle noch das Interview empfohlen, das Alexander Roth vom hervorragenden Blog Der Schneemann mit Ulf Torreck alias David Gray geführt hat. Man findet es an dieser Stelle.

Diesen Beitrag teilen