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Virginia Woolf – Mrs. Dalloway

Bewusstseinsstrom im Takt des Big Ben. In ihrem vor hundert Jahren erschienenen Roman Mrs. Dalloway erprobt Virginia Woolf die Möglichkeiten des modernen Erzählens und erschafft so einen Roman, der dem Fluss der Gedanken, der Zeit und des Lebens Raum gibt. Literatur, deren Ästhetik auch heute noch verblüfft.


Nein, eine inhaltliche Zusammenfassung von Virginia Woolf Mrs. Dalloway muss eigentlich scheitern. Denn obschon der zeitliche Rahmen eines Tages eigentlich ganz klar umrissen ist, herrscht im Inneren dieses Rahmens ein wildes Durcheinander. So beginnt zwar alles mit Clarissa Dalloway, die sich zum Blumenkauf außer Haus begibt und durch die Straßen von London wandert. Damit lösen sich aber auch rasch sämtliche konkreten Bezüge auf. Schon nach wenigen Seiten hat Virginia Woolf die Leserinnen und Leser in einem wilden Literaturdschungel verstrickt, bei dem von den anfänglichen Gewissheiten rasch nicht mehr viel übrigbleibt.

Denn es war Mitte Juni. Der Krieg war vorbei, außer für jemanden wie Mrs. Foxcroft gestern Abend in der Botschaft, die sich zu Tode grämte, weil dieser nette Junge umgekommen war und das alte Herrenhaus jetzt einem Cousin zufallen musste; oder Lady Bexborough, die, wie es hieß, einen Wohltätigkeitsbazar eröffnet hatte mit dem Telegramm in der Hand, John, ihr Liebling, tot; aber es war vorbei; Gott sei Dank – vorbei. Es war Juni. Königin und Königin waren in ihrem Palast.

Virginia Woolf – Mrs. Dalloway, S 2 f.

Die anfänglich genauen Koordinaten leiten schon wenige Seiten später nicht mehr zielführend durch das Buch. Denn Virginia Woolf experimentiert unerschrocken mit Satzperioden, Perspektiven, wörtlicher und indirekter Rede, verschneidet innerer mit äußerer Handlung. So webt sie einen herausfordernden Sprachteppich, den Melanie Walz mindestens ebenso unerschrocken ins Deutsche übertragen hat.

Sie strich die Ecken der Papiere glatt, legte sie zusammen und verschnürte das Päckchen, fast ohne hinzusehen, saß nah bei ihm, neben ihm, als wären all ihre Blütenblätter um sie herum, dachte er. Sie war ein Baum in voller Blüte; und aus ihren Zweigen blickte das Gesicht eines Gesetzgebers, der eine Zuflucht gefunden hatte, wo sie niemanden fürchtete, weder Holmes noch Bradshaw – ein Wunder, ein Triumph, der letzte und größte.

Virginia Woolf – Mrs. Dalloway

Ein Tag im Juni in London

Virginia Woolf - Mrs. Dalloway (Cover)

Das Personal bildet einen Reigen, der von Clarissa Dalloway als Mitglied der gehobenen englischen Mittelschicht angeführt wird. Sie durchmisst Straßen und Plätze von Westminster und plant in Gedanken den abendlichen Empfang, zu dem sich kein geringerer als der Premierminister angesagt hat. Dann wiederum springt Virginia Woolf zu Peter Walsh, der Clarissa einst anbetete und es eigentlich noch immer tut.

Ärzte, Kriegsheimkehrer, Eheleute, alles wechselt sich ab, geht ineinander über und bildet das assoziative Grundrauschen dieses Romans, bei dem schnell nur noch die kontinuierlichen Schläge des Big Ben Indiz für das Verstreichen des Tages sind, den Woolf schildert. Diese Schläge sind einer der wenigen verlässlichen Bezüge auf die Außenwelt, die hier zugunsten der reichen Gedankenwelt von Woolfs Figuren in den Hintergrund tritt (und aufgrund derer der eigentlich geplante Titel The hours der treffendere gewesen wäre, ist doch der Personenreigen im Stundentakt das eigentliche Thema).

Ähnlich wie ihr irischer Schriftstellerkollege James Joyce nutzt auch Virginia Woolf in ihrem Roman ausgiebig die Erzähltechnik des Gedankenstroms, der durch den Roman leitet und in dem immer wieder einzelne Motive wie der Suizid oder die unerfüllte Liebe auftauchen und Figuren miteinander verbinden.

Ein Paradebeispiel der literarischen Moderne

Mrs. Dalloway fügt sich passgenau in die Moderne ein, die auf ganz unterschiedlichen Kunstfeldern vor hundert Jahren Blüten trieb. In Deutschland etwa verfasste Alexander Döblin sein bahnbrechendes Werk Berlin Alexanderplatz, das eine Ahnung vom Durcheinander im modernen Berlin der Zwischenkriegszeit gab. In der Kunst experimentierten Lyonel Feininger, Georges Braque oder Ernst Ludwig Kirchner mit Formen und deren Auflösung, Verfremdung und malerischem Ausdruck. In Wien brachen Arnold Schönberg und seine Schüler wie etwa Alexander von Zemlinsky das herkömmliche Tonsystem auf und entwickelten die Zwölftontechnik, die die bisher eingeübte harmonische Praxis vollends auf den Kopf stellte.

Virginia Woolfs Text ist das literarische Gegenstück zu diesen Entwicklungen in den anderen Kunstsparten. Ihr gelingt es mit Worten, herkömmliche Perspektiven und Lesegewohnheiten aufzubrechen und Leserinnen und Leser vor eine literarische Herausforderung zu stellen. Ihr fiebriges, unermüdlich in den Gedanken ihrer Figuren herumirrendes Werk ist eines, von dem auch heute noch Kreative zehren.

Wie dies aussehen kann, das zeigt auch die vorliegende Ausgabe der Büchergilde Gutenberg, die mit dem diesjährigen Gestalterpreis der Buchgenossenschaft ausgezeichnet wurde. So lieferten 26 Studierende und Alumni der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle Illustrationen zu diesem Werk, die ebenso polyphon und vielgestaltig sind, wie es die Prosa von Virginia Woolf ist.

Leicht unterschiedliche Schrifttypen und eine Uhr anstelle von herkömmlichen Seitenzählungen unterstreichen den Fluss des Textes, der durch die Schläge des Big Ben strukturiert wird. Zahlreiche Fußnoten mit hilfreichen Erläuterungen zu Bezügen und Anspielungen in Woolfs Text runden das Lese- und Kunsterlebnis dieser Ausgabe ab. So zeigt sich wieder einmal, welche Kraft noch immer von dieser Mrs. Dalloway ausgeht und wie sie Kunst und Künstler inspiriert. Ein eindrucksvoller Beweis für die Modernität dieses Werks!


  • Virginia Woolf – Mrs. Dalloway
  • Aus dem Englischen von Melanie Walz
  • Artikelnummer 174707 (Büchergilde Gutenberg)
  • 368 Seiten. Preis: 32,00 €
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Ulrike Draesner – Kanalschwimmer

Wenn Grenzen verschwimmen

I salute at the threshold of the North Sea of my mind
And I nod to the boredom that drove me here to face the tide
And I swim, I swim, oh swim

Dip a toe in the ocean, oh how it hardens and it numbs
The rest of me is a version of man built to collapse and crumb
And if I hadn’t come now to the coast to disappear
I may have died in a landslide of rocks and hopes and fears

So I swim until you can’t see land
Swim until you can’t see land
Swim until you can’t see land
Are you a man? Are you a bag of sand?

Frightened Rabbit: Swim until you can’t see land

Are you a man? Are you a bag of sand? Charles, der Ich-Erzähler in Ulrike Draesners neuem Roman Kanalschwimmer ist sich da nicht mehr so ganz sicher.

Im Falle von Charles ist es nicht die Langweile, die ihn an die Nordsee getrieben hat, wie es die schottische Band Frightened Rabbit in ihrem Song besingt. Es sind viel tiefergehende Ereignisse, die ihn hierhergebracht haben. Hierher, das heißt die englische Küste vor dem Ärmelkanal.

Dort will er sich selbst stellen und hinterfragen. Nachdem seine Frau aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen ist, sucht er nun die ultimative Erfahrung. Ein Jugendtraum, der ihn seit seiner Kindheit und der damit verbundenen Mitgliedschaft im Schwimmverein von Camden umtreibt. Er will den Ärmelkanal durchschwimmen. 34 Kilometer offene See zwischen Dover auf der englischen und Cap Gris-Nez auf der französischen Seite. Der Kampf gegen das Meer und sich selbst. Charles wagt ihn, und wir als Leser*innen sind unmittelbar dabei.

Schwimmen – eine Erfahrungsgeschichte

Ulrike Draesner erzählt ihren Roman als große Erfahrungsgeschichte. Als Erfahrungsgeschichte des Schwimmens, als Austesten der eigenen Grenzen. Und als Erfahrungsgeschichte der eigenen Schmerzen, des Verdrängens, der nicht geschlossenen Wunden, die sich in der eigenen Biographie so verstecken.

Das tut sie, indem sie Gestern und Heute kunstvoll verschränkt. Der Kunstkniff, der durch die Verwendung in Virginia Woolfs Mrs Dalloway populär wurde, er funktioniert auch im Falle von Kanalschwimmer einmal mehr ausgezeichnet. Denn während Charles schwimmt und das Meer und die Widerstände seines Körpers zu überwinden versucht, erinnert er sich in zahlreichen Rückblenden

Er erinnert sich an die Freundschaft zu seiner späteren Frau Maude, ihrer Schwester Abbie und Silas, seinem besten Freund seit dem Camdener Schwimmverein. Die komplizierte Freundschaft der Vier mitsamt dramatischer Ver- und Entwicklungen, einer Art britischer Wahlverwandschaften, steht im Mittelpunkt der Erinnerung.

Schließlich hatten und haben die Freundschaften und ein verhängnisvoller Sommer auf der Insel Sylt im Jahr 1978 Auswirkungen. Auswirkungen, die Charles nun bis ins Wasser der Meerenge zwischen Großbritannien und Frankreich getrieben haben.

All das erschließt sich nur ganz langsam und erfordert ein absolut konzentriertes Lesen. Denn Ulrike Draesner kondensiert eine ganze Biographie, eine mehr als komplexe Freundschaft und eine sportliche Herkulesaufgabe auf lediglich 174 Seiten. Das Prinzip von knapper Rahmenhandlung und dafür umso intensiver und umfassender Binnenhandlung, es geht auf. Aber man muss am Ball bleiben und auch die stellenweise nur hingetupften Bemerkungen im Kopf behalten, um am Ende ein ganzes (sehr stimmiges) Bild zu erhalten.

Großartig erzählt, montiert & formuliert

Kanalschwimmer ist große Erzählkunst. Und das hat mehrere Gründe.

Denn da ist zum einen die oben schon geschilderte Montagetechnik, mit der die 1962 geborene Autorin arbeitet. Die Verschränkung von Gegenwart und Vergangenem und das Einbinden der Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms geht auf und ist plausibel. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen den Zeiten. Das Abgleiten in die Erinnerung, wenn Charles‘ Kraulzüge durch das Meer zu monton werden, das ist toll gemacht.

Hier in Frankreich in der Nähe von Dover möchte Kanalschwimmer Charles anlanden.

Auch ist es bewundernswert, mit welcher Akribie sich Ulrike Draesner in die Thematik des Schwimmens eingearbeitet hat. Das Schwimmen im offenen Meer im Allgemeinen und das Durchschwimmen des Ärmelkanals im Besonderen schildert sie detailreich und höchst plastisch, sodass man sich förmlich an der Seite Charles im Wasser spürt. Welche Regeln für die Anlandung auf der französischen Seite des Ärmelkanals gelten, mit welchen körperlichen Schwierigkeiten man zu kämpfen hat, wie das Wasser des Kanals beschaffen ist: all das erfährt man in Kanalschwimmer, ohne dass es den Lesefluss zu sehr behindert.

Und dann ist da neben der Form und dem Inhalt auch noch die Sprache, die ich besonders loben möchte. Denn mit ihr wird dieses Buch endgültig zu etwas ganz Besonderem. Denn mit abgegriffenen Sprachbildern oder standardisierten Formulierungen wie sie in der Gegenwartsliteratur häufig der Fall sind, gibt sich Ulrike Draesner nicht ab. Vielmehr findet sie neue Bilder, um Charles Kampf durch den Ärmelkanal zu schildern. Poetische Schilderungen, orthographische Spielereien, Rhythmisierung – Kanalschwimmer bietet unerhörten literarischen Genuss. Mit Charles durch das Meer und damit durch Draesners Prosa zu schwimmen, das ist einer große Freude.

Über Fossilien also paddelte er, über vorweltlichem, halb tropischem Laubwerk, steinzeitlichen Beilen und schaufelartig ausladenden, versteinerten Geweihen, über längst verwehten Bedürfnissen, Träumen und Seelen.

Draesner, Ulrike: Kanalschwimmer, S. 50

Oder noch eine andere Stelle, die mich begeistert und deutliche Bilder in mir geweckt hat:

Unter Wasser war der Regen wie verwandelt. Klopfte nur an, berührte, löste sich auf. So sanft. Zum zweiten Mal wurde diese Überquerung schön. Frohgemut stellte Charles sich vor, in einer mind zu treiben. Sein Körper verschmolz mit allem, was ihn umgab. Lautlos schoben große Schiffe sich hinter dem Tropfenvorhang durch die obere Welt. Er war durchlässiger geworden, vielleicht auch ein wenig löchrig, er spürte sie, ohne sie zu sehen.

Draesner, Ulrike: Kanalschwimmer, S. 83

Da verzeiht man ihr auch, dass es manchmal etwas zu viel des Guten ist.

Unversehens saß er in einer Lichtmühle. Er saß auf einer Bank des Shakespeare Inn unter quietschendem Shakespeare-Schild in einem Schauer von Leuchtkörnchen, die auf ihn heruntergemahlen wurden. Hunderte Säcke von Lichtmehl waren explodiert. Eine Welt ohne Schatten, glitzernd und dicht. Er war aufrecht in sie gefallen.

Draesner, Ulrike: Kanalschwimmer, S. 36

Solches Metapher-Dauergeprassel bleibt aber eine Ausnahme. Normalerweise sind ihre Bilder gut gewählt, dezent eingesetzt und lösten in mir durchaus Bilder und Szenen aus. Es macht großen Spaß, eine solch kreative Sprache lesen und genießen zu dürfen, die niemals zum Selbstzweck verkommt

Fazit

Man kann es meinen zahlreichen Worten zuvor schon entnehmen: ich bin von Ulrike Draesners Kanalschwimmer wirklich mehr als begeistert. Stil, Technik, Haltung: was beim Schwimmen gilt, ist auch im Falle des Buchs wichtig – und stimmt einfach. Hier schreibt eine tolle Autorin mit dem passenden Zugriff auf ihr Thema. Gehaltvoll, begeisternd und ihre Erzähltechnik wunderbar ausnutzend, wie das zuletzt einige weibliche Autorinnen taten (wie etwa Lize Spit in Und es schmilzt oder Dagmar Leupold in Lavinia). Große Literatur, sprachmächtig und souverän verschwimmend.

Finde im Übrigen nicht nur ich, sondern auch andere Blogger. Marina Büttner von Literaturleuchtet, Hauke Harder von Leseschatz und BooksterHRO.


Und jetzt – auch in Erinnerung des zu früh verstorbenen Frigthened-Rabbit-Sängers Scott Hutchinson der großartige Song, der mir während der Lektüre von Kanalschwimmer im Kopf umging.

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