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Aus dem Leben eines Whistleblowers

Benjamin Quaderer – Für immer die Alpen

DIE ZEIT: […] Herr Walter-Borjans, seit 2008 sind viele Steuersünder aufgeflogen: Klaus Zumwinkel, Alice Schwarzer, Uli Hoeneß. Wenn die deutschen Behörden keine Steuer-CDs angekauft hätten, würden diese Menschen immer noch Steuern hinterziehen?

Norbert Walter-Borjans: Ich denke schon. Als Finanzminister in Nordrhein-Westfalen habe ich den Ankauf von Steuer-CDs jahrelang befördert. Das hat dazu geführt, dass viele Menschen Sorge hatten, entdeckt zu werden, und sich selbst angezeigt haben.

Interview „Die Zeit“, 31. Januar 2018, 16:59 Uhr

Es begann im Jahr 2006. Damals wurde in Deutschland zum ersten Mal eine sogenannte Steuersünder- oder Steuer-CD angekauft. Darauf enthalten waren die Datensätzen zahlreicher Menschen, die Steuern hinterzogen und Schwarzgeldkonten im Ausland besaßen. Für den ersten Paukenschlag in Sachen Steuer-CDs sorgte damals die Verhaftung von Deutsche-Post-Chef Klaus Zumwinkel, der öffentlichkeitswirksam 2009 bei einer Razzia festgenommen wurde. In der Folge mehrten sich die Selbstanzeigen und zahlreiche prominente Steuerhinterzieher*innen wurden publik. Ebenso setzte eine Debatte in Deutschland um die Rechtmäßigkeit des Ankaufs dieser Steuer-CDs ein. Durfte man mit Kriminellen paktieren, die diese CDs zum Kauf anboten?

Benjamin Quaderer legt seinen Fokus weniger auf dieses Dilemma. Viel mehr treibt ihn um, wer solche Menschen sind, die Steuer-CDs anfertigen und dann im Ausland zum Kauf anbieten. Sein Studienobjekt trägt den Namen Johann Kaiser und schildert uns als Leser*innen im Quaderer’schen Debüt sein Schicksal.

Das Leben des Johann Kaiser

Dass es mit diesem kein Schicksal kein gutes Ende nimmt, das zeigt sich schon auf den ersten Seiten des Buchs. Denn der 1965 Geborene versteckt sich im Exil. Als Whistleblower fürchtet er um seine Enttarnung und lebt ein Leben im Geheimen.

Mein Name war einmal Johann Kaiser. Wahrscheinlich haben Sie von mir gehört. Ich bin vierundfünfzig Jahre alt, von Sternzeichen Widder und lebe unter neuer Identität an einem Ort, von dem ich zu meinem eigenen Schutz nicht erzählen darf. […].

Um zu verstehen zu können, wieso ich gehandelt habe, wie ich gehandelt habe, muss ich nicht nur ein umfassendes Bild meiner Person und meiner Lebensgeschichte, sondern gleichzeitig der Rahmenbedingungen zeichnen, in denen ich mich hin und her geworfen fand wie eine Kugel in einem Flipperautomaten. Denn diese Geschichte, meine Geschichte, ist alles, was mir geblieben ist, um mich gegen diejenigen zu verteidigen, die mich tot sehen wollen.

Eine angenehme, aber aufrüttelnde Lektüre wünscht herzlich,

Ihr Johann Kaiser

Quaderer, Benjamin: Für immer die Alpen, S. 9 ff.

Doch wie kam es dazu? Dazu nimmt uns Kaiser mit in seine Vergangenheit und erzählt uns als Leser*innen sein Leben, beginnend im Jahr 1965.

Eine Kindheit in Schaan

Die Geburt, das Verlassenwerden von den Eltern, die Kindheit und Jugend im Kinderheim in Schaan. Davon erzählt uns Kaiser, der schon früh eine kriminelle Energie erkennen lässt. So bricht der in das Haus eines berühmten in Luxemburg wohnenden Bergsteigers ein und entwendet zusammen mit einem Freund einen Stein im Hause des Alpinisten. Eine unwahrscheinliche Freundschaft mit der Großherzogin des kleinen Fürstentums folgt.

Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen (Cover)

Dass ein Staat mit einer Fläche von 160 km², der sechstkleinste der Welt, für einen Jugendlichen vom Schlage eines Johann Kaisers zu klein ist, versteht sich von selbst. Es zieht ihn hinaus in die Welt. Bis nach Australien führen ihn seine Aventüren, die er uns in seinen Erinnerungen schildert. Der Ausbruch aus der Enge Liechtensteins ist allerdings nur ein temporärer, schlussendlich lässt sich Johann doch wieder in seinem Heimatland nieder, wo er Arbeit bei einer Liechtensteiner Bank mit drei Großbuchstaben findet, die sich im fürstlichen Besitz befindet. Dort wird er dann auch zum Erpresser und Whistleblower, der eine Staatsaffäre auslöst.

Wie es dazu kam, das erzählt uns Johann Kaiser ausführlich (manchmal auch etwas zu ausführlich) in weitestgehend chronologischer Ordnung. Die Schilderungen und Erinnerungen Johann Kaisers weisen dabei einen Ton auf, den man in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sonst kaum wahrnimmt: den des Humors. Quaderer macht aus dem Whistleblower-Roman kein bierernstes Thema, sondern lässt in einem heiteren Ton den Rückblick Kaisers passieren. Auch vor Spielereien mit Form und Text (beispielsweise Schwärzungen oder Fußnoten, die dann zur eigentlichen Erzählung werden) scheut sich Quaderer nicht. Mit einer Spiel- und Sprachfreude, die mich manches Mal an Jörg Maurer erinnerte, erzählt er Kaisers Geschichte.

Die Geschichte Heinrich Kiebers als Folie

Ersetzt man den Namen Johann Kaisers durch den von Heinrich Kieber, hält man plötzlich mit Für immer die Alpen auch eine wirklich präzise Nacherzählung der tatsächlichen Liechtensteiner Steueraffäre aus dem Jahr 2008 in den Händen. Denn die Lebensstationen Kaisers sind mit denen Kiebers nahezu deckungsgleich, vom Alter über biographische Stationen bis hin zu den Motiven.

Benjamin Quaderer lehnt seine Erzählung stark an die tatsächliche Geschichte an. Handelnde Figuren oder Institutionen sind kaum kaschiert und auf den ersten Blick wiederzuerkennen. Das besitzt alles einen Drive, drängt mit Elan voran, verliert aber im letzten Teil des Buchs, als die Erpressung und das anschließende Katz- und Maus-Spiel mit den Behörden beginnt, allerdings leider etwas an Drive.

Das Hin und Her mit den Daten, die Erpressungsversuche, die Erklärung der Motivation und der Wunsch des Protagonisten nach Anerkennung – hier geht Quaderer etwas die Luft aus – was aber angesichts des vorherigen Feuerwerks durchaus verzeihlich ist.

Ein guter Roman zur falschen Zeit

Benjamin Quaderer hat sich viel Zeit für seinen Debütroman genommen. Jahrelang schrieb er an dem Buch, nahm 2016 mit einem Textauszug am OpenMike-Literaturwettbewerb in Berlin teil (wo er den 2. Platz belegte) und veröffentliche nun im Frühjahr 2020 sein Buch. Als Spitzentitel des Frühjahrsprogramms des Luchterhand-Verlags geplant sollte eigentlich eine große Präsentation auf der Leipziger Buchmesse (auch ein Interview für diesen Blog war geplant) und eine anschließende Lesereise das Buch pushen. Und nun das. Corona und kaum eine*r interessiert sich mehr für die Bücher des Frühjahrs, am ehesten wird noch Albert CamusDie Pest gelesen. Erschienen immerhin einst 1947. Aber ansonsten verpufft das Interesse am Lesen und die Buchhandelszahlen brechen ein.

Was Benjamin Quaderer immerhin zu folgender Empfehlung motivierte:

Das ist schade. Denn Für immer die Alpen ist ein Schelmenroman, verspielte Hochstaplerprosa mit Humor, die gelesen und diskutiert werden sollte.

Leider habe ich auf anderen befreundeten Blogs noch keinerlei Besprechungen des Buchs gefunden, weshalb ich an dieser Stelle nur auf Rezensionen der Zeit und des Standard verweisen kann.

  • Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen
  • Luchterhand-Verlag, ISBN 978-3-630-87613-9
  • 592 Seiten, 22,00 €
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Maxim Biller – Sechs Koffer

Wenn man in die Printlandschaft und die Bloggospäre rund um den Deutschen Buchpreis 2018 schaut, dann scheinen sich fast alle einig: Maxim Billers Sechs Koffer ist ein Meisterwerk, ein preiswürdiger Kandidat für die Shortlist und sogar für höhere Weihen. Nach der Lektüre frage ich mich – haben all die Rezensent*innen ein anderes Buch als ich gelesen?

Die Ausgangslage zu Billers Miniaturdrama (nicht einmal 200 Seiten weist die Erzählung auf) ist sehr vielversprechend. Die Mitglieder der Familie Biller leben alle mit einer Ungewissheit. Ihr Vater bzw. Großvater, tschechisch der Tate, wurde nach einem Verrat hingerichtet. Er schmuggelte Uhren und Dollars in den Westen – bis ihn ein Tipp auffliegen ließ. Doch wer ist der Verräter, wer hat den Taten auf dem Gewissen? Niemand weiß es, und so beginnt der Enkel des Taten mit seinen Nachforschungen.

Wer spricht die Wahrheit? Wer ist der Verräter? Und welche Blicke eröffnen uns sechs unterschiedliche Perspektiven? Eigentlich ein hochspannender Ansatz, aus dem Biller allerdings leider überhaupt nichts erzeugen kann. Weder schafft er es, die unterschiedlichen Charaktere sauber herauszuarbeiten und klar zu machen, wer gerade erzählt, noch gelingt ihm, eine saubere Exposition zu kreieren, die in die Erzählung hineinträgt.

Mehrmals musste ich ansetzen, um in Sechs Koffer hineinzufinden. Wer ist nun wer, welcher Konflikt liegt dem Ganzen zugrunde, wer erzählt hier gerade? All das erschloss sich mir erst nach mehrmaligem Loslesen von Billers Geschichte. Neben einer sauberen Ausarbeitung und einem erzählerischen Plan fehlt diesem Buch Rhythmus und ein innerer logischer Fluß, der den Leser durch die Geschichte geleitet.

Zu kurz und skizzenhaft

Meist vertrete ich ja die Auffassung, dass viele Bücher stärker werden, wenn man sie kürzt, reduziert, eher auf ihren Kern fokussiert. Dass manchmal auch das Gegenteil der Fall ist, sieht man an Sechs Koffer. Billers Prosa ist gehetzt, vollgestopft wie ein muffiges und zu kleines Zimmer voller Nippes. Mit 50 oder 100 mehr Seiten hätte er in meinen Augen ruhiger ausarbeiten können, worum es ihm geht und seinen Charakteren mehr Spielzeit gönnen können. So bleibt keine Figur im Gedächtnis, alles verharrt angerissen und skizziert.

Dass man am Ende der Geschichte genauso schlau wie vorher ist, das ist da schon geschenkt.

Dafür, dass Maxim Biller in die Richtung anderer Autor*innen immer hart austeilt, ihnen Duckmäusertum, Bräsigkeit und „Schwanzlosigkeit“ vorwirft, da sie noch nichts erlebt hätten – dafür liefert er selber sehr schwach ab. Auch seine Sprache weiß leider nicht zu begeistern. Eine besondere Kreativität ist hier nicht erkennbar, störend für mich hingegen war so manches Mal ein Zuviel an (widersprüchlichen und) ungenauen Adjektiven. Ein Beispiel sei hier auf Seite 12 genannt:

Sollte Dima über seine fünf Jahre in Pankrác lachen? Sollten sie beide über den Tod ihres armen Vaters lachen, ihres geliebten, strengen und meistens viel zu großzügigen Taten?

(Biller, Maxim: Sechs Koffer, S. 12)

Für mich leider im Gegensatz zum Gros der Kritiker durch die Bank weg enttäuschend. Eine Zuerkennung des Deutschen Buchpreises 2018 für Sechs Koffer könnte ich leider nicht nachvollziehen.

Eine ebenfalls kritische Analyse und Einschätzung hat abseits von allen lobenden Bewertungen noch Marina Büttner von Literaturleuchtet geschrieben.

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Andreas Pflüger – Operation Rubikon

Bereits im letzten Jahr ging es mir so – ich las in der ersten Januarwoche des Jahres einen Krimi von Andreas Pflüger, der die Maßstäbe für alle folgenden Bücher setzen sollte. Am Ende war Endgültig dann mit Abstand mein Krimi des Jahres 2016 – und 2017 scheint sich genau das zu wiederholen. Das Buch Operation Rubikon ist Andreas Pflügers Debüt und stammt eigentlich aus dem Jahr 2004 und war jahrelang vergriffen, ehe es der Suhrkamp-Verlag nun neu auflegte.

Das Buch entfesselt ein Panorama von Politik und Organisiertem Verbrechen. Es erzählt davon, wie schwierig es ist, dieses Organisierte Verbrechen zu bekämpfen, wenn es mit der Politik verschmolzen ist. Die Kerngeschichte des Epos dreht sich um ein mysteriöses Kartell, das mit großer Brutalität alle Mitbewerber von Kolumbien bis Italien aus dem Markt drängt. Das Kartell und seine Hintermänner sind eigentlich kaum zu fassen und wirklich greifbare Hinweise auf diese neue mächtige Organisation sind nur spärlich gesät – doch das Bundeskriminalamt in Form des Präsidenten Wolf will das nicht hinnehmen. Er beschließt die geheime Gruppe Operation Rubikon zu gründen, die autark agieren und die Spuren des Kartells finden soll. In dieser Gruppe federführend ist die Staatsanwältin Sophie Wolf von der Bundesanwaltschaft. Ausgerechnet sie ist die Tochter des BKA-Präsidenten und muss sich vieler Feinde erwehren. Und es scheint, als würde auch einer davon auch in der Rubikon-Gruppe sitzen …

Operation Rubikon ist komplex, sowohl was Inhalt als auch Personen und Handlungsorte angeht. Von Krakau über Bremerhaven, Hamburg, München, Berlin, Garmisch-Partenkirchen, Lissabon bis La Paz erstreckt sich das Handlungsgeflecht und involviert fast die gesamte institutionelle deutsche Exekutive und Judikative sowie lokale Ableger des organisierten Verbrechens und allen voran das Bundeskriminalamt. Fast achthundert Seiten umfasst dieses Thrillerschwergewicht und bietet Action, Politik, Spionage, Spannung, Machtkämpfe und dergleichen mehr. Was Don Winslows Tage der Toten für den war on drugs in Amerika war, das ist Andreas Pflügers Operation Rubikon für deutsche Verhältnisse.

Auch sprachlich ist Pflügers Thriller-Opus-Magnum eine Bank. Da wird noch antichambriert, Ministerlagen abgehalten und Sherpas beschützen wichtige Entscheidungsträger. Dass sich der Autor sprachlich und inhaltlich in seine Materie eingearbeitet hat, merkt man jeder Seite des Buchs an. Man erhält höchst interessante Einblicke hinter die Kulissen der Macht und bekommt ein Gefühl dafür, wie die Arbeit der Geheimdienste und die Bekämpfung des Organisierten Verbrechens aussehen könnte-

Merkwürdig einzig und alleine, warum man das Buch bei seiner Neuauflage nicht an die neue Rechtschreibung angepasst hat. Ansonsten ist dieser Neuauflage nichts anzulasten und sie muss ein Glücksfall genannt werden, da so dieser Meilenstein der deutschen Kriminalliteratur wieder zugänglich gemacht wurde!

 

Eine besondere Schlusspointe bietet das Buch dann auch noch auf den letzten Seiten, dort heißt es nämlich (man rufe sich das Erscheinungsjahr 2004 erneut ins Gedächtnis!)

Der Flughafen Berlin-Brandenburg-International sollte eigentlich längst fertiggestellt sein, doch noch immer war einer der beiden langgestreckten Terminals, zwischen denen sich die viertausend Meter lange Start-und-Lande-Bahn „S2/5 links“ befand, nichts als ein Stahlgerippe, das aussah wie das Skelett eines Dinosauriers.

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