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Ivan Gončarov – Die Schwere Not

Wenn die Wanderlust zur tödlichen Gefahr wird. Der russische Schriftsteller Ivan Gončarov zeichnet in seiner Novelle Die Schwere Not aus dem Jahr 1838 die Bedrohung nach, die der Drang zum Spazieren in einer russischen Familie entwickelt. Eine Wiederentdeckung aus dem Frühwerk Gončarovs, die uns die Friedenauer Presse nun in der Übersetzung Peter Urbans wieder zugänglich macht.


Fällt der Name Ivan Gončarov, dann denkt man wohl am ehesten an sein Großwerk Oblomow, das die Geschichte des russischen Adeligen Ilja Iljitsch Oblomow erzählt, zu dessen hervorstechenden Charaktereigenschaften Faulheit und Phlegmatismus zählen. Ein Roman von solch durchschlagenden Erfolg, das der Name seines Helden sogar in der Psychiatrie als Beschreibung eines Krankheits- oder Charakterbildes Eingang fand.

Eine Erzählung aus Sankt Petersburg im Jahre 1838

Vor dieser überragenden Analyse seines Faulenzers stand das Frühwerk Ivan Gončarovs stets etwas zurück, wie der Übersetzer Peter Urban in seinem Nachwort zu Die Schwere Not schreibt. So finden sich in der Literaturgeschichte wenig Spuren dieses Werks, das Gončarov als 26-Jähriger verfasste.

Ivan Gončarov  - Die Schwere Not (Cover)

Erschienen war es einst in der Hauszeitschrift eines Petersburger Salons, löste aber keine große Reaktion der literarischen Öffentlichkeit aus. Zu Lebzeiten des Schriftstellers wurde die Novelle nie wieder veröffentlicht, erst 1936 finden sich wieder Spuren der Schweren Not, für die sich zum damaligen Zeitpunkt aber auch niemand so recht interessierte.

2001 gab es dann die erste deutsche Ausgabe, die in der Friedenauer Presse erschien. Nun, dreiundzwanzig Jahre später, gibt es diese vergessene Novelle erneut in einer bibliophilen Ausgabe der Friedenauer Presse zu lesen, diesmal ergänzt um ein (recht eigenwilliges) Nachwort des Autoren und Regisseurs Kior Janevs.

Es ist eine Entdeckung, die sich lohnt. Denn Die Schwere Not besticht durch Humor und Skurrilität – und zeigt in Ansätzen schon die Gončarov später mit seinem Oblomow perfektionieren sollte.

Ein besonderer medizinischer Fall

Die Ausgangslage ist der medizinische Fall, die uns der Erzähler Filipp Klimyč mit folgenden Worten ankündigt:

Doch dafür möchte ich der Welt meinerseits von einer nicht minder sonderbaren und unbegreiflichen, epidemischen Krankheit berichten, deren verheerende Wirkungen ich mit eigenen Augen gesehen habe und der ich beinahe selbst zum Opfer gefallen wäre. Wenn ich meine Beobachtungen mit größter Ausführlichkeit offenlege, erkühne ich mich, den Leser im Voraus darauf aufmerksam zu machen, dass diese keinem Zweifel unterliegen, auch wenn sie, leider, weder durch die Sicherheit des Blickes noch durch Wissenschaftlichkeit der Darstellung beglaubigt sind, wie sie dem Medikus eigen.

Ivan Gončarov – Die Schwere Not, S, 12

So begegnete er in jungen Jahren der Familie Zurov, einer „herzensguten, netten und gebildeten“ Familie. Man verbrachte gemeinsam Abende und Klimyč bewunderte das Idyll der Petersburger Familie Zurov, die aus drei Generationen besteht.

Die Schwere Not der Familie Zurov

Von einem Bekannten, dem an Gončarovs späteren Helden Oblomow erinnernden Nikon Ustinovič, wird der Erzähler wenig später aber dann über einen beunruhigenden Zustand informiert. Laut seinen Worten sei die ganze Familie Zurov krank, sie litte unter einer Krankheit, die im Sommer ausbricht und von der Klimyč bislang noch nicht Kenntnis erlangt hat, da er nur die Winter bei der Familie in Petersburg verbringt.

„Sag mir wenigstens Namen und Symptome dieser Krankheit“, bat ich.

„Einen Namen hat sie nicht, weil das, wahrscheinlich, der erste Fall ist; die Symptome erkläre ich dir gleich. Doch wie, wo soll ich anfangen? … Also, hör zu … Aber es ist verhext mit Dingen, deren Namen man nicht kennt … Also, sagen wir, ich nenne sie einstweilen „die Schwere Not“, später, wenn Ärzte dahinterkommen, werden sie ihr schon den richtigen Namen geben. Die Sache ist die, dass es die Zurovs den Sommer über nicht zu Hause hält! welch schreckliches, welch mörderisches Leiden.“

Ivan Gončarov – Die Schwere Not, S. 32 f.

Was den Erzähler erst zum Lachen bringt, glaubt er doch an eine Übertreibung seines stets zuhause verharrenden und der Völlerei huldigenden Freundes, wird wenig später tatsächlich zur realen Gefahr. Denn es scheint, als könne nichts und niemand die Familie Zurov aufhalten, die sich auf Wanderungen rund um Petersburg begeben. Aus der Wanderlust wird schnell ein Wahnsinn, der um sich greift…

Die Schwere Not ist eine kurze Novelle, die innerhalb ihrer gut hundert Seiten das skurrile Miteinander der Figuren zelebriert. Da ist die Bilderbuchfamilie Zurov, deren andere Seite erst im Sommer zum Vorschein kommt. Der phlegmatische und wohlbeleibte Nikon Ustinovič, der als Gegenentwurf zu den Zurovs sein Zuhause nie verlässt. Und mittendrin findet sich Gončarovs Erzähler, der diesen seltsamen Fall genau rekapituliert.

Eine lohnenswerte Wiederentdeckung

Freilich ist dieses kein literarischer Weitwurf wie Oblomow, aber als Ausgangspunkt für die Entwicklung seines legendären Helden und als Schilderung einer skurrilen Familie besitzt Die Schwere Not zweifelsohne durchaus ihren Werk, die das jahrzehntelange Verschwinden dieses Werks in den literarischen Bedeutungslosigkeit umso befremdlicher erscheinen lässt.

Durch das Nachwort Peter Urbans und die informative Begriffserklärung einiger russischer Besonderheiten wie etwa das Längenmaß Werst setzt die vorliegende Ausgabe der Friedenauer Presse inhaltlich und gestalterisch Maßstäbe.

Etwas unverständlich bleibt für mich nur das nun zugegebene Nachwort Kior Janevs, dessen Rätselhaftigkeit und sprachliche Chiffrierung mir Gončarovs Text leider mehr verschlossen denn erschlossen hätte, hätte es das zuvor gesetzte Nachwort Peter Urbans nicht gegeben. Denn mit verschwurbelten Passagen wie der folgenden kann ich leider recht wenig anfangen:

Ein weiteres Muster ist die Reise, wobei alle chtonischen Schönheiten und äußeren Naturkräfte dem Liebesamok dienlich sein müssen.

Kior Janev in seinem Nachwort zu Ivan Gončarov – Die Schwere Not, S. 136

Fazit

Mit Die Schwere Not gibt uns die Friedenauer Presse die Chance, ein bis dato recht unbekanntes Frühwerk Ivan Gončarovs wiederzuentdecken, das mit seiner skurrilen Geschichte, Humor und einer mustergültigen Edition überzeugen kann. Dieser besondere Fall von Wanderlust lohnt der Lektüre und sei nicht nur Fans der großen russischen Erzähler gerne ans Herz gelegt!


  • Ivan Gončarov – Die Schwere Not
  • Aus dem Russischen von Peter Urban
  • Mit einem Nachwort von Jior Janev
  • ISBN 978-3-7518-8011-4 (Friedenauer Presse)
  • 137 Seiten. Preis: 20,00 €
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Robert Moor – Wo wir gehen

Unser Weg durch die Welt

Die kürzeste Verbindung zweier Punkte, sie ist eine Strecke. Diese Definition kenne ich noch aus aus der Schule, und auch Robert Moor zitiert diese Definition in seinem Buch. Strecken oder Wege, sie spielen in Wo wir gehen eine entscheidende Rolle. Darin erzählt er von Wegen, die wir alle beschreiten, egal ob Mensch oder Tier. Seien es Wanderwege, Viehpfade, Wildwechsel oder Straßen – fast immer bewegen wir uns auf Pfaden, die schon jemand vor uns gegangen ist. Egal ob in der Natur, in der Stadt oder im Geist. Wege finden sich überall. Mal sind es Pfade zur Weisheit, mal stellen wir im Geist Verbindungen her, mal sind es Wunschlinien, die unbewusst in Parks oder Gärten entstehen.

Robert Moor erforscht in seinem Debüt die Vielfalt von Wegen und ihre Bedeutung. Als leidenschaftlicher Wanderer bezwang er einst den Appalachian Trail und reiste rund um die Welt, um auf Wegen zu wandeln und ihre Geschichte zu ergründen.

Von fossilen, tierischen und menschlichen Wegen

Sein Buch unterteilt er dabei in sechs Abschnitte. So erzählt er zunächst von Fossilienspuren, den ältesten Zeugnissen von Wegen. Danach widmet er sich den Insekten und erzählt, wie beispielsweise Ameisen immer effizientere Wege erschaffen. Nach den Insekten geht er dann zu den Wildtieren über. Er erzählt von Wildwechseln, seinen Jagderfahrungen und vom Hüten von Schafen. Danach folgt der anthropologische Teil des Buchs. Moor erzählt vom Wandern auf dem Appalachian Trail, seinen Begegnungen und den Ursprüngen dieser Pfade, die auf die indigene Bevölkerung Amerikas zurückgehen. Die Cherokees und ihre Orientierung im Gelände sind hierbei genauso Thema wie die Entstehung der ersten Reservate und Naturschutzparks.

Robert Moor - Wo wir gehen (Cover)

Robert Moor endet dann in der Gegenwart, indem er vom Appalchian Trail berichtet, den er einst erwanderte. Dieser Trail zählt mit über 1900 Kilometern zu den längsten Fernwanderwegen der Welt. Er erzählt von seinen Erfahrungen, dem Reiz dieses Wegs und den Versuchen, den Weg nach Kanada auf Inseln oder auch in Marokko fortzuführen. So entsteht ein Kaleidoskop verschiedener Wege, ihrer Entstehung und ihrer Zwecke. Moor gelingt ein Buch, das eine Mischung aus Erfahrungsbericht eines Wanderes, historische und naturwissenschaftliche Forschung und philosophische Überlegungen darstellt. So entsteht ein Sachbuch mit hohem Nature Writing-Anteil.

Der Ton ist klar, von gelegentlichen thematischen Abschweifungen abgesehen gelingt ihm eine vielschichte Darstellung von Wegen und ihrer Bedeutung. Wo wir gehen lädt ein, den Untergrund, über den wir wandeln, genauer in den Blick zu nehmen. Denn egal ob Oregon Trail, Wunschlinie in der Stadtplanung oder fossile Spuren in Neufundland – Wege haben immer eine Geschichte zu erzählen. Robert Moors Buch sensibilisiert dafür.

Ins Deutsche übertragen wurde das Buch, das auch zum New York Times Bestseller avancierte, von Frank Sievers. Erschienen ist es im Insel-Verlag.


  • Robert Moor – Wo wir gehen
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Sievers
  • ISBN 978-3-458-17874-3 (Insel)
  • 413 Seiten. Preis: 24,00 €
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