Zwischen Ablehnung und intensivem Begehren oszilliert die Beziehung zweier Frauen, die die niederländische Autorin Yael van der Wouden in ihrem Debütroman In ihrem Haus in den Mittelpunkt stellt. Sie erzählt in ihrem als Kammerspiel angelegten Roman von verdrängter Schuld, die in den Niederlanden der Nachkriegszeit langsam wieder zum Vorschein kommt.
Wenn auf der ersten Seite eines Buchs etwas aus der Erde ausgegraben wird, so darf man davon ausgehen, dass dies – ganz in der Tradition Tschechows – nicht das einzige Vorkommnis bleiben wird, das aus dem Dunkel der Vergangenheit ans Licht unserer Tage gefördert wird. Bei Yael van der Wouden ist das nicht anders. Ihr Roman hebt wie folgt an:
Isabel fand die Pozellanscherbe unter den Wurzeln einer faulen Kürbispflanze. Nach dem Frosteinbruch im Frühling und dem vielen feuchten Schnee schrumpfte das Gemüsebeet jetzt, an der Schwelle zum Sommer, in sich zusammen. Radieschen, Bohnen, Blumenkohl: alles braun und vergammelt. Isabel kniete mittendrin, mit Handschuhen und geschnürtem Hut, und entfernte das sterbende Grün. Die Scherbe schnitt durch ihren Handschuh, hinterließ ein kleines Loch.
Yael van der Wouden – In ihrem Haus, S. 9
Hochsymbolisch ist das alles, was Yael van der Wouden da an den Beginn ihres Romans setzt. Verfaulte braune Wurzeln in der Erde, überraschend zutagegeförderte Scherben aus der Vergangenheit, eine Verletzung, die die Entdeckerin der Scherbe erleidet. Hier deutet sich schon vieles an, was die kommenden Seiten noch ausbuchstabiert werden wird.
In der Erde Vergrabenes
Denn der Fund, den Isabel im Garten ihres Hauses macht, lässt sie nicht los. Eine Porzellanscherbe ist es, deren Gestaltung zum guten Geschirr passt, das sie im Auftrag der Familie im Inneren des Hauses hütet. Doch beim familieneigenen Porezellanservice fehlt eigentlich kein Teller. Denn hat ISabel die Haushälterin Neelke im Verdacht, mit dem vergrabenen Teller etwas zu tun zu haben.
Für Vergrabenes aus der Erde bleibt aber eigentlich kaum Zeit. Bei einem gemeinsamen Abendessen mit ihren Brüdern Louis und Hendrik eröffnet ihr ältester Bruder Louis Isabel nämlich, dass er gedenke, seine zum Dinner mitgebrachte neueste Eroberung namens Eva im von seiner Schwester gehüteten Haus einzuquartieren. Entgegen dem Willen von Isabel werden Tatsachen geschaffen. Die beiden Brüder brechen nach ihrer Stippvisite im elterlichen Haus wieder rasch auf und Eva bleibt. Sie wird zur neuen Mitbewohnerin von Isabel.
Von dieser argwöhnisch und ablehnend beäugt, müssen sich die beiden Frauen miteinander arrangieren. Isabel verabscheut den Eindringling, führt Listen, da immer wieder Gegenstände aus dem Haus verschwinden – doch plötzlich kippt die Aversion gegen die unscheinbare Eva in eine Affäre, die die beiden Frauen miteinander beginnen. Ausführlich geschildert erwacht ein nie gekanntes Begehren in Isabel, die sich mit Leidenschaft in die neue Erfahrung stürzt. Doch wer ist diese Eva eigentlich überhaupt, in die sie sich da überraschend verliebt hat?
Die Hüterin des Hauses
In ihrem Haus (im englischen Original The safekeep) ist das Kammerspiel über zwei Frauen in einem abgelegenen Haus irgendwo in der niederländischen Provinz. Der Wandel von Misstrauen und Ablehnung hin zu Anziehung und Leidenschaft kennzeichnet die überraschende Beziehung der beiden Frauen. Dabei spielt der Großteil der Handlung in dem Haus, welches der Handlung den Charakter eines Kammerspiels auf engem Raum verleiht.
Überhaupt, der Raum. Der entscheidende Darsteller neben den beiden Frauen ist das Haus, welches Isabel in familiärem Auftrag hütet. Dessen Geschichte, das in der Endphase des Zweiten Weltkriegs 1944 von Onkel Karl für die Familie „gefunden“ wurde, Yael van der Wouden betrachtet sie näher. Dabei entfaltet der deutsche Titel eine treffende Nuance, schließlich stellt sich im Lauf des Romans auch die Frage von Besitzverhältnissen des Hauses. Wer ist hier überhaupt zu Gast? Ist das Haus wirklich Isabels Besitz?
Sonderlich überraschend oder subtil sind die Andeutungen über die Natur des Hausbesitzes in den Roman nicht eingearbeitet. Eher steckt die Wahrheit scharfkantig schneidend im Text, gleich der Scherbe im Beet, die die Isabel aus dem Beet hervorholt.
Schon auf Seite 42 deutet sich die Wahrheit über den familiären Besitz an, wo van der Wouden von einer Kindheitsepisode im Jahr 1946 erzählt, als eine verzweifelte Frau vor der Tür des Hauses um Einlass bat und die Kinder von der Mutter auf ihre Zimmer geschickt wurden.
Diese hier schon recht deutlich anklingende Geschichte wird im fünfzehn Jahre später angesetzten Hauptteil des Buchs im Schluss ausführlicher behandelt. Zwar hat man sich in seinen neuen Leben eingerichtet, die gröbsten Kriegsschäden im Land sind beseitigt – aber im Untergrund lauern dann doch noch einige Überraschungen aus der nicht allzu lang zurückliegenden Kriegszeit. Diese zentrale Pointe des Buchs ist dabei nicht überraschend; frappant ist es aber doch, wie Yael van der Wouden das Schweigen über im Krieg getanes Unrecht hier aufs Tapet bringt.
Explizites Begehren
Wenig subtil ist auch die Schilderung des Begehrens, das in Isabel neu erwacht. In Zeiten, in denen der Buchmarkt nach immer exliziteren Sexszenen giert, (im Fachjargon des New Adult-Trends auch „Spice“ und „Smut“ genannt) gibt In ihrem Haus dem Affen Zucker. Die queere Romanze und Leidenschaft wird in van der Woudens Buch sehr klar und deutlich ausbuchstabiert – und das in Großbuchstaben. Die Schilderungen des Sex und der kaum auszuhaltenden Spannung zwischen den beiden Frauen ziehen sich teilweise über viele Seiten hin (übersetzt aus dem Englischen von Stefanie Ochel).
Das droht manchmal, die eigentlichen erzählerischen Anliegen des Romans zu überdecken. Ein wenig mehr Subtilität in Beschreibung und Setzung der Themen ihres Buchs hätten mir mehr zugesagt. So ist das Buch in Teilen doch etwas vorhersehbar und in Sachen Figurenentwicklung nicht sonderlich tiefenscharf. Dafür aber knallt In ihrem Haus deutlich – nicht nur zur Freude der Bookstagram-Szene auf TikTok und Instagram, wo das Buch bereits einen kleinen Hype verursacht hat. Auch die Jury der International Booker Prizes konnte Yael van der Wouden mit ihrem Buch überzeugen. Sie wählte es im vergangenen Jahr auf die Shortlist des International Booker Prizes.
Fazit
Subtilität ist nicht die Stärke, die Yael van der Woudens Debüt ausmacht. In ihrem Haus erzählt von Kriegsschuld, verdrängte Wahrheiten und weiblichem Begehren. Auch wenn vieles in diesem Debüt mit etwas mehr Raffinement vielleicht mehr Wirkung entfaltet hätte – van der Woudens Gespür für Stimmungen, etwa zwischen den beiden Frauen oder der nervös-vibrierenden und dumpfen Enge im Haus ist bemerkenswert.
- Yael van der Wouden – In ihrem Haus
- Aus dem Englischen von Stefanie Ochel
- ISBN 978-3-9894105-4-1 (Gutkind)
- 320 Seiten. Preis: 24,00 €