Andreas Pflüger – Kälter

Zwischen Amrum und Wien, Ballerballett im Zug, RAF-Terroristen und Ausbildungscamp in der Negev-Wüste: in Kälter schickt Andreas Pflüger wieder eine hochgefährliche Frau in die nicht minder gefährliche Welt der Geheimdienste und lässt sie einen legendären Terroristen jagen. Während um sie herum nicht nur die Mauer fällt, sondern auch Gewissheiten bröckeln, muss sie erkennen, dass manche Kriege auch über ihr Ende hinaus andauern können.


Irgendwo zwischen seinem Roman Ritchie Girl und dem Kalten-Krieg-Thriller Wie sterben geht muss es passiert sein, dass Andreas Pflüger seinen appetite for destruction entwickelt hat. Zertrümmerte der in der unmittelbaren Nachkriegszeit spielende Roman Ritchie Girl hauptsächlich noch schmerzhaft Mythen und Vorstellungen, war es im darauffolgenden Roman gleich einmal die Glienicker Brücke, die der Autor zu Beginn in die Luft jagte. Mit Kälter setzt sich diese explosive Zerstörungswut nun fort, diesmal ist es das berühmte Riesenrad im Wiener Prater, das in den Pflüger’schen Fokus geraten ist und das auch das Cover im erprobten Design des Vorgängerromans ziert.

Das ist schlüssig, denn nicht nur optisch, auch inhaltlich zeigen sich viele Verbindungslinien zu Wie sterben geht, denen der Roman nachspürt. Das hat mit dem Setting zu tun, das diesmal zwar mit dem Jahr 1989 schon am Ende des Kalten Kriegs angekommen ist, dennoch aber noch dessen Geist von Spionage und Paranoia atmet, wie es der zuvor erschienene Roman tat.
Und auch einige Figuren aus Pflügers letzten Roman haben ihre Auftritt, vom Top-Spion Rem Kukura über den BND-Präsidenten Julius Boehnke bis hin zu Nina Winter, jener Frau, die im kalten Moskau den Geheimdiensten und Todesgefahren trotzte und die nun Luzy Morgenroth ein entscheidendes Stück auf deren Mission begleiten darf.

Morgenroth in der Nacht

Andreas Pflüger - Kälter (Cover)

Morgenroth – ganz typische Pflüger – ist die neue Heldin, die den Staffelstab des Kampfs gegen die Geheimdienste und Verbrecher übernimmt und dabei weder in Sachen körperlichen Einsatzes noch mit Willensstärke geizt. Denn obschon sie ein recht beschauliches Leben als Inselpolizistin auf Amrum fristet, war dem nicht immer so.

Das zeigt sich spätestens, als Luzy in einer sturmumtosten Nacht auf der Insel im Alleingang einen ganzen Trupp von Killern erledigt. Das Ein-Frau-Kommando, es hat eine Geschichte, wie Pflüger im Folgenden zeigt. Denn einst war Luzy ein „Sherpa“, schützte Politiker und trainierte in der Negev-Wüste Krav Maga. Bis heute verbindet sie eine Freundschaft mit Richard Wolf, dem BKA-Präsidenten (der wie einige Pflüger-Figuren bereits durch eine ganze Reihe von Romanen des Saarländers geisterte). Dieser bestärkt sie auch in ihrer Mission, die sie nun nach all den Jahren im Staatsdienst klarer denn je erkennt.

Der Trupp der Killer führte nämlich ein Aktenblatt bei sich, das sie wieder auf die Spur von Babel bringt. Bei ihm handelt es sich um einen Top-Terroristen, dem sie schon einmal im King-Solomon-Hotel in Tel Aviv die Klingen oder besser die Flugbahnen ihrer Kugeln kreuzte. Zahllose Terroranschläge und Morde gehen auf sein Konto – so auch in Tel Aviv, wo sich durch das Aufeinandertreffen der beiden zwei Lebensbahnen verbinden sollten, die nun wieder eng aufeinander zuzulaufen scheinen.

Auf den Spuren Babels

Einst schwor sich Luzy, Babel zur Strecke zu bringen. Nun bekommt dieses Vorhaben neuen Auftrieb, denn das Aktenblatt weckt bei Luzy und ihrem Vertrauten Richard Wolf einen ungeheuerlichen Verdacht. Wird der im Dunstkreis der RAF erstmals in Erscheinung getretene Babel vom Ministerium für Staatssicherheit geführt? Um ihrem Verdacht nachzugehen und ihre Mission zu einem Ende zu führen, quittiert Luzy den Dienst auf Amrum und begibt sich auf eine Reise, die sie von Amrum über Berlin und Pullach bis nach Wien führt – und mit mächtigen Gegner konfrontiert.

Als sie mit Babel endet, fasst Nika ihre Hand. „Du willst den gefährlichsten Mann der Welt töten. Der von der mächtigsten Organisation geschützt wird, die es gibt. Jeden anderen würde ich für wahnsinnig erklären. Dich nicht.“

Andreas Pflüger – Kälter, S. 364

Ähnlich wie Jenny Aaron (die hier ebenfalls einen kleinen Cameo-Auftritt absolvieren darf) konfrontiert Andreas Pflüger auch Luzy Morgenroth wieder mit einem schier übermenschlichen Terroristen, der durch Kugelhagel unbeschadet gehen kann und über eine mächtige Terrorinfrastruktur verfügt, mit der man es eigentlich gar nicht aufnehmen könnte, wäre man nicht aus dem Material gestrickt, aus dem Pflüger seine Heldinnen gießt.

Rache um jeden Preis

Willensstärke, Kampfkunst und viel Beharrlichkeit, sie sind die Mittel, mit denen Luzy Babel zur Strecke bringen will. Dass die Jagd nicht ohne Opfer bleiben wird, es versteht sich von alleine. Denn spätestens seit der Nacht auf Amrum sinnt sie auf Rache, die sie um jeden Preis erleben will.

Das Ergebnis des Ganzen sind genau durchchoreografierte Actionszenen, die mal in einem Zug, mal im U-Bahnnetz Münchens spielen, und die vom Geist der zerfallenden Kriegsfronten im Kalten Krieg durchdrungen sind. Vom Sturm auf die Stasi-Zentrale in der Nacht des Mauerfalls bis hin zu den undurchsichtigen Spielen zwischen KGB, Stasi, BND und anderer westlicher Geheimdienste reicht der zeitgeschichtliche Bogen, den Pflüger spannt und der in Wien sein Ende findet. Dieses Wien gerät bei ihm zu einem heißen Spionagepflaster, das die Geheimdienste ganz genau unter sich aufgeteilt haben und durch dessen Straßen immer noch eine Echo der Zither Anton Karas‘ aus Carol Reeds Der dritte Mann weht.

Beschattungen, Ballereien und ein bisschen Liebe sind die Zutaten, aus denen Pflüger seinen spannenden Cocktail mischt. Dazu gibt es wie gewohnt literarische Zitate und ungewohnte sprachliche Bilder bis hin zu Physikexkurse mit Stephen Hawking, die Pflüger in seine Action mit hineinmengt.

Fazit

Alles ist da für einen erneut außergewöhnlich guten Thriller. Und doch – ein bisschen weniger dicht ist das Ganze, als man es von Pflüger kennt. Manchmal zerfällt das Ganze in seine Einzelteile zwischen Actionsequenzen und Geheimdienstgeschichte. Die übermenschliche Nemesis, bei deren Bekämpfung die Heldin zu nicht minder übermenschlichen Taten in der Lage ist, man kennt es doch schon von Jenny Aaron und ihrem Kampf gegen Ludger Holm, der ein ähnliches Duell bedeutete, wie es hier gezeigt wird. Auch kennt man als Pflüger-Leser teilweise die Figuren und Schauplätze wie die BND-Zentrale in Pullach ebenfalls, sodass Kälter ein wenig das Neue oder Überraschende fehlt.

Gewiss, es ist Mäkeln auf höchstem Niveau – und dennoch – ein neuer kriminalliterarischer Gipfel ist es nicht, aber dafür wandelt Pflüger beachtenswert weiter auf dem Hochgrat des (deutschsprachigen) Thrillerolymp, der Zeitgeschichte und Spannung gelungen miteinander kombiniert.


  • Andreas Pflüger – Kälter
  • ISBN 978-3-518-43258-7 (Suhrkamp)
  • 495 Seiten. Preis: 25,00 €
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