Da wohnt ein Sehnen tief in uns, so heißt es in einem populären evangelischen Kirchenlied. Und auch viele der Figuren, die Maria Messinas Erzählungen Sterne, die fallen bevölkern, kennen das in ihnen ruhende Sehnen sehr gut. Die sizilianischen Autorin erkundet dieses Sehnen, indem sie von unglücklichen Verliebten, von Eltern und Kindern, von Auswanderern und Daheimgebliebenen erzählt. Mit einem Auge für Details besieht sie gescheiterte Lebensträume und das Glück, das sich einfach nicht einstellen will.
Die sizilianische Katherine Mansfield, so nannte sie ihr Wiederentdecker Leonardo Sciascia. Der italienische Autor setzte sich sehr für die Autorin ein, die zum Zeitpunkt von Sciascias Entdeckung völlig aus dem literarischen Bewusstsein Italiens verschwunden war. Ein Brand im Archiv hatte sein Übriges dazu getan, das Vergessen der 1887 in Palermo geborenen Autorin zu befördern, bei der lange Zeit noch nicht einmal ihr Sterbedatum feststand, wie das Nachwort von Messinas Roman Das Haus in der Gasse erklärte.
Seit den 1990er Jahren gibt es aber Bestrebungen, Messina diesem Vergessen zu entreißen – und auch der Verlag der Friedenauer Presse tut in Zusammenarbeit mit der Übersetzerin Christiane Pöhlmann sein Übriges dazu, die Wiederentdeckung Maria Messinas hierzulande zu befördern. Neben einer Publikation des bereits erwähnten Romans Das Haus in der Gasse erschien im vergangenen Jahr auch der Roman Eine Blume ohne Blüte, auf das nun die Kurzgeschichten in Sterne, die fallen folgen.
Diese Kurzgeschichten plausibilisieren den Vergleich mit Katherine Mansfield, da beide Schriftstellerin die Kunstfertigkeit in Sachen Erzählungen auf kleinem Raum eint.
Abermals von Christiane Pöhlmann aus dem Italienischen übersetzt bietet der Band sechzehn Erzählungen auf, bei denen es sich in einigen Fälle um deutsche, wenn nicht sogar weltweite Urübersetzungen handelt, die die erzählerische Kraft von Maria Messina unter Beweis stellen.
Figuren im Korsett gesellschaftlicher Konventionen und nicht gelebter Leben
Sie zeigen eine Autorin mit einem genauen Gespür für die Lebenswelten ihrer Figuren, die sich oftmals in ein Korsett von gesellschaftlichen Konventionen geschnürt sehen. Immer wieder umflort sie die Traurigkeit der nicht gelebten Leben, derer sie sich im Laufe der Geschichten so manches Mal bewusst werden, ohne dass es klar buchstabiert werden muss.
Mal sehnt sich eine gesellschaftlich höhergestellte Signorina nach dem Leben, das ihr der Besuch einer Hochzeit zweier junger Leute verheißt, dem sie beiwohnt und doch ein Fremdkörper bleibt (Die Signorina). Mal verzehrt sich ein genesender Musiker nach einer Frau, die er in einem gegenüberliegenden Haus erspäht. Mit seinem Geigenspiel möchte er diese betören und für sich gewinnen, wovon Messina ungeheuer sinnlich zu erzählen weiß:
Im Dunkel griff er abermals zu seiner Geige. Abend für Abend ließ diese nun ihr Lied erklingen. Sie wandte sich einzig an die Unbekannte, die ihr im Dunkel am offenen Fenster lauschte.
Die warme Stimme der Geige floss über die verödete Piazza und stieg im Duft des Gewürzstrauchs hinauf zum besternten Himmel. Die langen, leidenschaftlichen Töne zitterten mit der Zartheit, welche sich in der romantischen Seele des Rekonvaleszenten, die während der Krankheit noch feinfühliger geworden war, fand. In diesen Tönen erzitterten die Freude über die Genesung ebenso wie die Wehmut der Stunde, die bange Hoffnung eines gesunden Jungen auf sein Morgen ebenso wie das traurige Sehnen nach den Dingen von gestern und die Glut eines grenzenlosen Verlangens, das keinen Namen besaß.
Maria Messina – Sterne, die fallen, S. 30
Sehnen und Sehnsucht allerorten
Da ist es wieder, das Sehnen und das Verlangen, das sich durch die Geschichten zieht. Dass sich die angebetete junge Frau sich als taub erweist, ist die bittere Pointe der Geschichte (Sandro und seine Geige), zu der sich viele weitere Erzählungen gesellen, die von Hoffnung, Glück und Enttäuschungen erzählen.
Mal geht es um Auswanderer, deren Pläne von einer Augenkrankheit durcheinandergewirbelt werden (La mèrica), mal um die Möglichkeit einer Ehe im fortgeschrittenen Alter, die sich dann aber motivgemäß als Schaum erweist (Bevor…). Und immer wieder die Sehnsucht, Enttäuschung und Melancholie, die die Erzählungen durchweht
Und so sah man sie tagtäglich. Am Ende jener Menge, die über den Corso flanierte, leuchtet in den schwarzen Wogen aus Umhängen und Mänteln das rote Kleid Liborias. Wie drückte Don Pepè es aus? Eine Stange Siegellack. Am Abend saßen sie wie eh und je auf der Bank vor dem verlassen daliegenden Park, verharrten reglos und sprachen kein einziges Wort. Nur die Bäume, die sanft wogten, schienen von traurigen Dingen zu flüstern.
Maria Messina – Sterne, die fallen, S. 180
Fazit
Die unterschiedlichen Stände, die Möglichkeiten der ungelebten Leben, all das scheint in Maria Messinas präzisen Erinnerungen auf, die sich auch in der Kurzform als eine wirkliche Entdeckung erweist. Mit leichten dialektonalen Einsprengsel fein von Christiane Pöhlmann übersetzt sind diese vielschichtigen Erzählungen eine echte Entdeckung, die einmal mehr den Wunsch verstärken, dass die Bewusstwerdung dieser literarischen Autodidaktin (ihr Vater, ein Schulinspektor, verweigerte Messina den Schulbesuch und damit jegliche literarische Bildung, wie die Übersetzerin in ihrem Nachwort ausführt) möge eine endgültig dauerhafte sein!
- Maria Messina – Sterne, die fallen
- Aus dem Italienischen von Christiane Pöhlmann
- ISBN 978-3-7518-8047-3 (Friedenauer Presse)
- 236 Seiten. Preis: 24,00 €
