R. F. Kuang – Babel

Es klingt zugegebenermaßen nach einer wilden Mischung: Babel ist ein Fantasyroman, angesiedelt in einem alternativen Oxford der 1830er Jahre, der sich hauptsächlich mit Sprache, Kolonialismus und Übersetzen beschäftigt. Was in der reinen thematischen Zusammenfassung noch recht disparat klingen mag, entfaltet im Falle von R. F. Kuangs Buch eine große Faszination, die auf mich den gleichen Reiz ausübte wie im Roman das Silber auf das gesamte britische Empire .


Sprache und Übersetzen als zugrundeliegende Themen eines Fantasyromans einer Amerikanerin, der in Oxford, also dem Herzen britischer Gelehrsamkeit spielt? Dass das funktioniert, stellt die Rebecca F. Kuang in ihrem Roman Babel eindrücklich unter Beweis. Denn sie weiß, wovon sie schreibt, was auch ein Blick in ihre eigene Biografie zeigt. Denn die Autorin arbeitet neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Übersetzerin, hat an der Universität von Oxford einen Soziologie-Master im Fach zeitgenössischer Chinastudien erworben, besitzt noch dazu einen Philologie-Master in Chinastudien, den sie an er Universität von Cambridge erlangt hat.

Viele dieser beruflichen und studierten Themenfelder finden sich in ihrem Roman, der im seuchengeplagten Kanton in den 1830er Jahren seinen Ausgang nimmt. Hier wird ein Junge kurz vor dessen Tod vom englischen Professor Lovell gerettet, der ihn mithilfe eines mysteriösen Silberbarrens anders als die restliche Familie vor dem Tod bewahren kann. Er nimmt den Jungen als sein Mündel an und reist gemeinsam mit seiner Haushälterin Mrs Piper zurück nach in sein Herrenhaus in Hampstead nahe London. Dort soll der Junge, der sich auf der Überfahrt in seine künftige Heimat das Alias Robin Swift zu seinem neuen Namen erwählt hat, eine grundlegende Ausbildung erhalten.

Gewissenhaft bereitet ihn der britische Professor auf eine besondere Karriere vor – denn für ihn ist ein ganz besonderer Ausbildungsplatz vorgesehen. Er soll in Oxford Sprachen und Übersetzungskunst studieren, um später der Gilde der Übersetzer im legendären Bauwerk Babel beizutreten. Dort übersetzen und übertragen viele studierte Arbeitskräfte und Professoren Texte aus der ganzen Welt, korrespondieren und leisten damit wichtige Arbeit für das Fundament des britischen Empires, das auf der Kraft des Silbers beruht.

Silber, die Kraft des britischen Empires

Denn durch die Kraft der unterschiedlichen Sprache werden Silberbarren mit Energie aufgeladen, die wiederum das koloniale Weltreich Großbritanniens am Laufen hält. Übersetzungen und Herleitungen von Begriffen sind es, die ins Silber hineingraviert diesem seine unnachahmliche Kraft verleihen. Eine Kraft, die an allen möglichen und unmöglichen Stellen der Städte Anwendung findet. Laternen leuchten heller, Gärten blühen ausgiebiger und der Unrat in den Abwasserrohren wird durch die Einwebung von Silberadern schneller abtransportiert.

Sie standen gemeinsam am Fenster. Während er den Blick über Oxford streifen ließ, hatte Robin den Eindruck, dass die ganze Stadt einer exakt konstruierten Spieluhr ähnelte, die sich ausschließlich auf Zahnräder aus Silber verließ, um so zu funktionieren; wenn das Silber jemals versiegen sollte, wenn die Resonanzstäbe zerfallen sollten, dann würde ganz Oxford kreischend zum Stillstand kommen. Die Glockentürme würden verstummen, die Droschken würden mitten auf der Straße stehenbleiben, und die Bürgerinnen und Bürger würden erstarren, ihre Gliedmaßen mitten in der Bewegung eingefroren, ihre Münder offen, das nächste Wort unausgesprochen.

R. F. Kuang – Babel, S. 282

Es ist wahrlich ein komplexes Räderwerk der Technik und vor allem der Macht, dem auch Robin später einmal dienen soll. Als chinesischstämmiger Brite kommt ihm im Zusammenwirken von Sprache und Silber nämlich eine ganz besondere Bedeutung zu. Denn als er in Oxford sein Studium antritt, findet er sich in der Gesellschaft anderer Studierender, die ebenso wie Robin aus Kolonien oder weit entfernten Gegenden stammen. Vor allem deren Muttersprachen sind es, die sie für die Babbler (so eine nimmermüde Verballhornung der Spracharbeiter im Übersetzungsturm) so interessant machen, schließlich sind diese bislang noch kaum erschlossen. Viel Potential für neue Übersetzungen auf den Silberbarren also, mit denen auch Robin und Co das Fortbestehen des britischen Empires sichern sollen.

Doch wie der junge Student im Lauf dieser Mischung aus Fantasy, Campusroman und Kolonialismuskritik namens Babel feststellen muss: die Mehrsprachigkeit und sein Studium hat nicht nur Vorteile. Denn es ist keineswegs gesichert, dass die Arbeit an den Übersetzungswerken dem hehren Ziel der Völkerverständigung dient. Wie er nach einem zufälligen Treffen mit Mitgliedern des geheimen Hermes-Bundes feststellen muss, kann Übersetzung kann auch ein Akt der Ausbeutung sein. Doch für welche Seite wird sich Robin entscheiden?

Das Räderwerk der Macht

Babel beleuchtet ausgiebig die Macht der Sprache und der kulturellen Hegemonie, die im Falle von Rebecca F. Kuangs Roman durch die Kraft des Silbers symbolisiert wird. So beruht die Macht des Empires auf den mit Übersetzungen gravierten Silberbarren, die das Reich durch Ausbeutung anderer Länder gewinnt. Konzentriert ist die Macht und Wirkung des Silbers ganz auf die Kapitale London, in der sich wiederum alle Macht in den Kreisen der Eliten und Mächtigen verdichtet. Ein großes System der Ungerechtigkeit, das durch die Arbeit in Babel weiter gefestigt und am Laufen gehalten wird.

R. F. Kuang - Babel (Cover)

Und auch wenn die Welt von Babel auf den ersten Blick eine fantastische sein mag, so sind die Parallelen zu historischen Wegmarken in der Geschichte des British Empire groß. Die Opiumkriege, die industrielle Revolution, die zur Verarmung der Weber führt, Ludditen und Maschinenstürmer – und die davon unbeirrte Ordnung der reichen Eliten oben und armer Bevölkerung unten, einem nach Macht und Größe strebendem Weltreich und die damit einhergehende Ausbeutung des restlichen Teils der Welt. All das führt Babel eindrücklich vor Augen.

Zu den größten Verdienste Rebecca F. Kuangs zählt dabei, dass ihr die Verbindung aus kritischem Denken und Unterhaltung so mühelos gelingt. Sozial-, Kapitalismus- und Kolonialismuskritik, Elementen aus Bildungsroman, Dark Academia, Coming of Age, Frantz Fanon und Bibelzitate und ein ganzes Proseminar an Übersetzungstheorie: es steckt alles drin, was diesen Roman zudem in vielen aktuellen Diskursen und Trends verankert (was auch ein Stück weit den immensen Erfolg des Buchs weltweit erklärt).

Auf keiner Seite bricht Babel an seiner Last zusammen, im Gegenteil. Ebenso luftig und filigran wie die Bauwerke in den Gassen Oxfords, die Robin und die anderen durchstreifen, so ist auch dieser Roman. Ein unterhaltsamer Roman mit Mehrwert, der die Vergleiche zu Joanne K. Rowlings Harry Potter aufgrund der ähnlich liebevoll beschriebenen Schul- beziehungsweise Universitätswelt evoziert.

Eine Hymne auf das Übersetzen

Und nicht zuletzt, sondern vor allem ist Babel auch eine Hymne auf das Übersetzen, die Mehrsprachigkeit und die Kraft des Worts (weshalb auch die beiden formidablen Übersetzerinnen Heide Franck und Alexandra Jordan an dieser Stelle unbedingt Erwähnung finden müssen, die Babel im Deutschen neugeschöpft haben).

Kuang schafft ein Grundverständnis für die Komplexität und Schwierigkeiten von Übersetzungen, die ja immer Neuschöpfungen und Nachbildungen anderer Sprachen und Texte sind – bis hin zur Frage, ob es so etwas wie eine „reine“ Übersetzung überhaupt geben kann.

Immer ist die Übertragung und das Übersetzen Thema – was sich nicht nur in der Theorie oder der Namenswahl Robin Swifts äußert, der ähnlich wie Jonathan Swifts Schöpfung Gulliver bei dessen Reisen permanent zwischen Sprachen und Heimaten hin und herwechselt, sondern auch die Handlung vorantreibt.

Seine Überfahrt aus China nach London und später einmal retour, sein Schwanken zwischen der Welt des Turms von Babel und der Welt der revolutionären Anhänger des Hermes-Bundes, seine Ausgrenzung in der britischen Gesellschaft aufgrund des Äußeren, die alternative Freundschaft mit seinen ebenfalls ausgegrenzten Mitstudent*innen, die Bewertung anderer Figuren – stets ist dieser Roman in Bewegung, nimmt Robin unterschiedliche Positionen ein, entwickelt sich und schwankt in seinen Loyalitäten. Auch das ist es, was Babel trotz der immensen Lauflänge von über 700 Seiten so unterhaltsam und kurzweilig macht.

Fazit

So möchte ich eine große Empfehlung für diesen vielschichtigen, fantasievollen, unterhaltsamen wie kritischen Roman aussprechen, der in ein Oxford reisen lässt, das auf den ersten Blick zwar silberdurchwirkt und glänzend wirken mag, aber seine wahre Seiten erst spät zeigt. Rebecca F. Kuang gelingt es, die Leser*innen vollumfänglich in eine andere Welt abtauchen zu lassen, deren Bezüge zur Gegenwart aber unübersehbar sind. Babel hinterfragt unsere Ordnung, feiert das Übersetzen und die Widerstandskraft des Einzelnen. Besser noch als jeder Silberbarren!


  • R. F. Kuang – Babel
  • Aus dem Englischen von Heide Franck und Alexandra Jordan
  • ISBN 978-3-8479-0143-3 (Eichborn)
  • 736 Seiten. Preis: 26,00 €
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[…] Sprache, die den Spagat zwischen der mediokren Autorin und Ich-Erzählerin und der gar nicht mediokren Autorin Rebecca F. Kuang gelungen […]