Man kennt diesen unangenehmen Moment, wenn man bei fremden Menschen oder wahlweise sogar den potentiellen Schwiegereltern zu Gast ist. Gerne wird das willfährige Opfer zum richtigen Zeitpunkt zur Ahnengalerie geführt, die sich irgendwo im Hause befindet. Am besten in Petersburger Hängung sind sie dann an der Wand angebracht, dicht an dicht: Bilder von sämtlichen nahen und entfernten Verwandten. Urlaubsbilder, schon meist mit etwas Patina versehen. Kinderfotos, die den erwachsenen Zöglingen schon lange peinlich sind. Urlaubsfotos von Tante Gerda, Hochzeitsbilder der eigenen Großeltern. Verlobungsfotos von Onkeln und Tanten, in Sepia getränkte nostalgische Urlaubserinnerungen.
Die Fotos wollen kein Ende nehmen. Und dann ist da auch noch der Hausherr oder die Hausherrin, die sämtliche Fotos mit weitschweifigen Erklärungen versieht. Verwandtschaftsverhältnisse, Anekdoten aus Urlauben, peinliche Kindheitserinnerungen. Alles wird haarklein erzählt, man kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen. Es dauert und dauert und schon nach fünf Fotos hat man eigentlich den Überblick verloren. Aber man ist ja ein netter Gast und heuchelt Interesse. Und schon geht es weiter und das nächste Foto ist an der Reihe.
Wer je in einer solchen Situation gefangen war, der kann sie schlecht vergessen. Natürlich ist eine Vergegenwärtigung der eigenen Familiengeschichte schön und gut, aber nicht immer ist diese sonderlich spannend oder für Außenstehende verständlich. Einen Anflug dieses Gefühls hatte ich auch bei der Lektüre von Regina Porters Roman Die Reisenden (übersetzt von Tanja Handels), dessen Veröffentlichung ich schon entgegenfieberte. Ein schillerndes Zeitpanorama und ein intimes Familienepos zweier gegensätzlicher Familien, von der Bürgerrechtsbewegung bis hin zur Obama-Ära. Das versprach der Klappentext sowie die lobenden Stimmen, die das Erscheinen begleiten.
Konnte die Autorin diese Versprechen einhalten? Wie sich meinen Einleitungsworten entnehmen lässt, ist dies leider überhaupt nicht der Fall. Aber warum ist das so? Hier mein Versuch einer persönlichen Analyse.
Die Erzählkonstruktion als Fluch und Segen
So erweist sich der von Regina Porter gewählte Erzählansatz zugleich als Fluch und Segen. Als Segen, weil sie immer wieder durch unterschiedliche Jahre hüpft und die Erzählung so merklich auflockert und das starre narrative Gefüge durchbricht. Auch stehen ihr mit den zwei unterschiedlichen Familien viele Möglichkeiten offen, um Entwicklungen, Moden und Schicksale zu beleuchten und zu spiegeln. Allerdings liegt hier auch die Krux des Romans. Denn jede der beiden Familien hat zahlreiche Familienmitglieder, die von Regina Porter recht unverbunden alle lang und breit in Episoden gewürdigt werden. So bekommen Enkel, Eltern und Großeltern in verschiedenen Lebensstadien in unterschiedlichen Jahrzehnten ihre Auftritte. Mal wieder auktorial erzählt, dann gibt es wieder für ein Familienmitglied eine*n Ich-Erzähler*in.
So weit so gut. Allerdings schafft es Regina Porter nicht im Ansatz, sich zu beschränken und sich auf dieses Personal zu fokussieren. Denn sie führt auch noch außerehelich gezeugte Kinder, deren Nachbarn, deren Kindern und noch weiter entfernte Figuren ein, die alle in ERzählungen vorgestellt werden. Da sie diese Schicksale und Sprünge durch die Jahre auch nur mit sehr dünnem literarischen Kleber verbindet (manchmal ist es auch nur ein Name aus der vorherigen Episode, der dann in der 20 Jahre später spielenden Geschichte wieder relevant wird). Die Bezüge müssen dann mühsam selbst im Text herausgesucht werden – oder man schaut diesen gelinde gesagt etwas komplexen Stammbaum auf dem hinteren Vorsatzpapier an).
Der Wahnsinn hat Methode
Ich mag ja Literatur, die mich fordert und die es mir nicht allzu leichtmacht. Hier hatte ich allerdings das Gefühl, einer etwas wirren und reichlich unstrukturierten Erzählerin vor ihrer gigantischen Bilderwand zu lauschen. Sicher: alles ist mit allem verbunden oder um mit dem mehrfach im Text zitierten Hamlet zu sprechen: Mir scheint, der Wahnsinn hat Methode. Auch mag es viele Leser*innen geben, die Freude an dem detektivischen Suchspiel der versteckten Bezüge haben. Ich hatte diese leider zu keinem Zeitpunkt der Lektüre. Etwas mehr literarischer Kitt hätte es schon sein dürfen. Da helfen auch keine etwas wahllos im Buch eingestreuten Fotografien, die den Realitätsgrad erhöhen sollen.
Auch hatte ich mir von der politischen Komponente in diesem Werk mehr erhofft. Natürlich werden Begebenheiten wie die Ermordung Martin Luther Kings oder der Rassismus in Form des Green Books erwähnt. Der Vietnamkrieg spielt sogar eine große Rolle. Allerdings hat es sich damit auch schon. Der große Gesellschaftsroman und Kommentar zu den politischen Entwicklungen ist dieses Buch mitnichten. Hier wird etwas zu einem Ereignis hochgejazzt, das es leider in meinen Augen nicht ist.
Für mich ist Die Reisenden somit alles andere als das erhoffte erzählerische Highlight des Frühjahrs. Ein Roman wie eine dreistündige Beschau einer eklektischen Bildersammlung. Schade drum!
Mir hat’s gefallen 😉
Ich habs vernommen. Die Kritik ist dem Buch ja auch sehr gewogen – aber mir war es einfach zu viel und zu viel gewollt, als dass es mich begeistern hätte können. Schön, wenn es dir da anders ging!
Ich finde es spannend, dass du es so anders empfunden hast. Und ich kann es auch ein bisschen nachvollziehen. Viele Grüße!