Selene Mariani – Ellis

Schon das Cover von Selene Marianis Debüt Ellis macht klar: hier geht es um Teilung, Hälften, aber auch das Verbindende, das unsere Persönlichkeiten ausmacht. In ihrem Debüt erkundet die 1994 geborene Autorin tastend und springend das Leben ihrer Protagonistin Ellis und deren Freundin Grace. Ein interessant montiertes Porträt einer prägenden Freundschaft.


„Das beste Lied der Welt“, sagt Grace.

„Oh ja“, sage ich, und ihr Lächeln spiegelt sich in meinem Gesicht.

„Du magst sie auch?“ Grace hält mir begeistert das Cover hin.

„Klar“, sage ich und schaue darauf. „Kim“, lese ich laut.

„Langsam wird das unheimlich“, sagt Grace begeistert. „Wir sind ja ein und dieselbe Person.“

Selene Mariani – Ellis. S. 87

Sind sie das wirklich, ein- und diesselbe Person, die sich da in ihren Gesichtern spiegeln? Oder sind Grace und Ellis in Wahrheit nicht zwei ganz unterschiedliche Hälfte, die doch einander bedingen und brauchen? Um diese Frage kreist Selene Mariani in ihre Roman, der die Zerrissenheit der Ich-Erzählerin Ellis schon in der Struktur des Buchs selbst findet. Denn Mariani springt wild durch die Lebensjahre von Ellis – und wechselt auch zwischen dem Schauplatz Deutschland und Italien hin und her. So findet man sich nach knappen eineinhalb Seiten in Deutschland 2015 auf den nächsten Seiten schon wieder im Italien des Jahres 2019. Kurze Kapitel mit deutlichen Sprüngen markieren den Rhythmus des Textes.

Zwischen Vater und Mutter, Italien und Deutschland

Nachdem sie mit ihrer Mutter nach Deutschland gezogen ist, besucht sie zu Anfang der 2000er Jahre die Schule. Während die No Angels tausende von jungen Mädchen faszinieren und träumen lassen – darunter auch Ellis – ist die Schule alles andere als ein Ort für Träume. Ellis wird gemobbt und ausgegrenzt – bis eines Tages ein neues Mädchen das Klassenzimmer betritt und gleich darauf Freundschaft mit Ellis schließt. Ihr Name ist Greta – genannt Grace – die zudem im gleichen Haus wie Ellis und ihre Mutter wohnt.

Selene Mariani - Ellis (Cover)

Im Jahr 2019 nun läuft Grace fast in Ellis hinein, als diese auf offener Straße für ein Unternehmen Unterschriften einwerben soll. Nach Jahren des Schweigens und der Distanz begegnen sich die beiden Frauen so wieder, was Selene Mariani als Rahmenhandlung die Möglichkeit gibt, in hingetupften Erinnerungsfragmenten der Beziehung der ehemaligen Freundinnen nachzuspüren. So erhält man Stück für Stück Einblick in die komplizierte Bindung der beiden Frauen, die von Schulzeiten über einen Urlaub in Italien bei Ellis‘ Großeltern bis hinein in die erzählte Gegenwart reicht, als sie sich beide langsam wieder annähern.

Dabei ist die Dichotomie stetes Erzählprinzip. Angefangen beim Cover reicht die Spiegelung der Dinge von Offensichtlichem bis hinein in kleinste Details. So lebt Ellis zwischen Vater und Mutter, Italien und Deutschland hin- und hergerissen, hat mit Grace eine zweite für sie spiegelgleiche Hälfte entdeckt, besucht mit dieser Verona (mit seinem berühmten Balkon und Liebespaar) und darf ganz knapp vor Ende des Buchs auf Seite 147 dann noch Mulino Bianco-Kekse futtern. Es sind jene Kekse, die mit einer je einer hellen und einer kakaofarbenen Hälfte dann doch wieder einen Kreis ergeben. Immer wieder finden sich solche Stellen, die Interpretationen erlauben und vielgestaltig gelesen werden können.

Zerrissenheit und nicht gesagte Dinge

Ellis ist aber auch ein Roman, der vom Schweigen, von den nicht gesagten Dingen handelt, die man verdrängt oder die sich in der Rückschau verformen. Durch die spartanische und pointillistische Erzählweise Selene Marianis eröffnen sich genau dafür Freiräume, da sie die Ausdeutungen und Wertungen den Leserinnen und Lesern überlässt.

Das ist ein spannendes Erzählkonzept, das bei mir leider nicht in Gänze verfangen hat. Denn mir waren die Interpretationsräume etwas zu groß und das Erzählte zu wenig, als dass dieses Debüt in meinem Kopf Luftwurzeln geschlagen hätte, wie es im Buch an einer Stelle heißt (womit Mariani en passant dem Geburtstagskind Novalis die Ehre erweist).

Die Idee, die Zerrissenheit der Protagonistin durch die Struktur des Textes abzubilden, ist durchaus lobenswert, erwies sich für mich aber auch als kleiner Schwachpunkt des Ganzen.

Persönlich hätte ich mir noch etwas mehr Tiefe in der Schilderung der Beziehung gewünscht, noch intensivere Blicke in das Seelenleben von Ellis, das an allen Stellen, an denen es interessant werden könnte, gleich wieder abbricht, um an einem anderen Ort und anderen Jahr wieder neu anzusetzen. Auch das Ende in seiner Abruptheit ließ mich etwas überrascht zurück – aber im erzählerischen Mut ist das Buch natürlich zu loben.

Fazit

Von persönlichen Einwänden und Geschmacksurteilen abgesehen ist Ellis ein in seiner Knappheit und seiner Affinität zu interpretatorischer Vielgestaltigkeit interessantes Debüt, das der Wallstein-Verlag hier präsentiert. Selene Mariani überzeugt mit Zurückhaltung, Mut zu erzählerischen Leerstellen und gibt Einblick in das Seelenleben einer Deutsch-Italienierin, die sich selbst nicht immer gewiss ist.


  • Selene Mariani – Ellis
  • ISBN 978-3-8353-5152-3 (Wallstein)
  • 147 Seiten. Preis: 20,00 €
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