Zunächst muss ich mich hier erst einmal in aller Öffentlichkeit leicht revidieren. Vor einigen Wochen schrieb ich eine hymnische Besprechung für Christian Torklers Der Platz an der Sonne. Diese großartige Umkehr der bekannten Flüchtlingsroute von Deutschland nach Afrika inklusive aller Unwägbarkeiten übte eine große Faszination auf mich aus. Diese Idee und das damit verknüpfte Schicksal des Flüchtlings Josua Brenner begeistert mich immer noch uneingeschränkt – allerdings muss ich heute feststellen, dass Torklers Geschichte so neu nicht ist.
Ein Deutscher, der sich entschließt auszuwandern und auf einem anderen Kontinent sein Glück zu suchen. Der seines Lebens in Deutschland überdrüssig ist und in einem anderen Land auf bessere Bedingungen und wirtschaftlichen Erfolg hofft – Wirtschaftsflüchtling möchten da einige brüllen. Der auf Schleußer setzt, um über den Großen Teich überzusetzen. Und der anschließend in der deutschen Ausgewanderergemeinde auf Aufnahme hofft.
Alles andere als neue Themen, wie der Bericht Reise in ein neues Leben von Gottlieb Mittelberger zeigt. Wie alt dieses Thema ist, das illustriert schon die Vorrede zu Mittelbergers Bericht:
Dem Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, HERRN CARL, Herzogen zu Württemberg und Teck, Grafen zu Mömpelgard, Herrn zu Heidenheim und Justingen, etc., Ritter des goldenen Vließes: und des Löbliche Schwäbischen Krieges General-Feldmarschalln, etc. Meinem gnädigsten Fürsten und Herrn, übergibt in tiefster Submission nunmehro in einer verbesserten Gestalt gegenwärtige geringe Schrift, welche Euer Hochfürstliche Durchlaucht noch in Manuskript zum Teil anzuschauen gnädigst gewürdiget haben, und recommendieret sich zu fürwährender höchster Fürstlicher Gnade und Hulden.
Mittelberger, Gottfried: Reise in ein neues Leben, Zuwidmung
Nun, das nenne ich mal ein Vorwort. So etwas würde ich ja gerne heute auch mal in einem Roman lesen, aber wir schweifen ab.
Tatsächlich gibt der Ton, die beschriebenen Adelstitel und die Grammatik schon Hinweis, wann sich dieses Flüchtlingsschicksal abgespielt hat. Fast vor 300 Jahren nämlich, genauer gesagt im Jahr 1754. Dann machte sich Mittelberger auf, um von Amsterdam aus mit einem Schiff nach Amerika überzusiedeln.
Flucht nach Amerika
Er sollte eine Orgel nach Pennsylvania (oder wie es Mittelberger im damaligen Duktus nennt: Pennsylvanien) überführen – doch er entschloss sich, gleich dort in Amerika zu bleiben. In der von deutschen Auswanderern geprägten Gemeinde wollte sein Glück zu versuchen und einen Neuanfang wagen. In seiner Heimat in Enzweihingen drohte ihm nämlich wegen der Belästigung und Nötigung von Frauen der Prozess. Da bot sich der Neustart in Amerika natürlich an.
Ein Wunsch, der ihn mit vielen anderen Schwaben und Pfälzern verband, die in großen Mengen die im 18. Jahrhundert die Flucht nach Amerika antraten. Insgesamt kamen in diesem Jahrhundert fast 200.000 Deutsche nach Amerika. Die Motive waren vielfältig: politische Verfolgung, Hungersnot oder einfach der Wunsch nach wirtschaftlicher Verbesserung. Motive also, die uns auch heute noch sehr bekannt vorkommen, und die wohl immer die Menschen umtreiben werden. Und die man wohl auch nie in Gänze beseitigen kann.
Generell ist es verblüffend, wie bekannt einem viele Passagen aus diesem Bericht vorkommen. Ertrunkene Menschen während der Schiffsreise? Ablehnung der einheimischen Bevölkerung der Zuwanderer, die sich oftmals abschotten und eigene Sprache und Bräuche pflegen? Alles andere als neu, wie dieser Bericht eindrücklich zeigt.
Auf dem Weg nach Pennsylvanien
Mittelbergers Bericht gliedert sich in zwei Teile, beide eindringlich auf ihre Art und Weise. Zunächst erzählt Mittelberger von der Reise nach Amerika, die er zusammen mit etwa „400 Seelen, Württemberger, Durlacher, Pfälzer und Schweizer, etc.“ (S. 30) antrat und die ihn von Rotterdam über England nach Philadelphia brachte. Neben dem Preis für eine solche Reise und die Unwägbarkeiten, bis man sich an Bord wiederfand, ist vor allem die Beschreibung der Zustände an Bord erschütternd.Die Enge an Bord, der ständige Hunger, die Unterversorgung und der stets präsente Tod. Man hätte wirklich nicht tauschen wollen, wenn man liest, was Mittelberger zu berichten weiß. Er erzählt von Müttern, die man wegen Komplikationen bei der Geburt ins Meer wirft. Genauso wie zahlreiche Kinder, die während der Reise umgekommen sind und die man dem Meer übergibt. Skorbut, Krätze, Mundfäule oder Geschwüre – der Transit fordert allen hohe Opfer ab.
Weiter geht es dann an Land. Familien werden auseinandergerissen. wer die Überfahrt nicht komplett entlohnen kann, wird versklavt. Mütter, Väter, Kinder – sie alle werden als Arbeitskräfte gerne gebraucht. Im Hafen herrscht ein wirklicher Menschenbasar, bei dem die Flüchtlinge geradezu verschachtert werden.
In Pennsylvanien
Der zweite Teil des Berichts beschreibt dann die Eigenheiten Pennsylvanias. Mittelberger erzählt von der Flora und Fauna, den Indianerstämmen oder auch den Tieren, die den Staat bevölkern. Er berichtet vom Rechtssystem und juristischen Präzendenzfällen, die ihm zugetragen wurden.
Vier Jahre verbringt er insgesamt in Pennsylvanien, ehe ihm auch dort aufgrund von Vergehen der Prozess droht. Oder wie es der Pfarrer der Gemeinde beschreibt, in der Mittelberger als Organist angestellt war:
[Er benahm sich] gegen eine ledige Frauenperson so … sündlich und höchst ärgerlich … dass Er künftig hin unwürdig ist, die Orgel in der Kirche zu berühren und die Jugend in der Schule zu unterrichten.
Mittelberger, Gottlieb: Reise in ein neues Leben, Vorwort
So tritt er wieder die Flucht nach Hause an, wo Frau und Kinder auf ihn warten. Er verfasst diesen Reisebericht für den Herzog von Württemberg, wovon auch das Vorwort zeugt. Schließlich hatte dieser auch ein Interesse daran, seine Untertanen von der gefahrvollen Reise und den Lebensumständen in Amerika zu warnen. Wollte er doch seine Mitmenschen von der Emigration abhalten.
Auch heute noch aktuell
Auch wenn sich manche Beschreibungen Pennsylvanias heute kurios ausnehmen: Besonders der Teil der Seeüberfahrt berührt und zeigt, wie Menschen schon immer Gefahren auf sich genommen haben, um ein besseres Leben zu suchen. Mag es nun das Jahr 1753 sein, oder das Jahr 2018. Die Gier nach Glück ist allen Menschen zueigen, das zeigt auch Mittelbergers Bericht einmal mehr sehr eindrücklich.
Dieses Streben einzuhegen und in Bahnen zu lenken. Fluchtursachen zu bekämpfen, gleiche Lebensumstände herzustellen. Dazu hätte man nun wirklich schon Jahrhunderte Zeit gehabt. Aber die Gefälle wird es immer geben – und Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, diese Gefälle irgendwie zu bezwingen. Das lehrt uns Reise in ein neues Leben.
Muss ich noch dazu erwähnen, dass das Buch wirklich herausragend gestaltet ist (farbiger Buchschnitt, eingeprägtes Verlagsemblem, toller Satz, Vorsatzpapier, ergänzendes Vorwort, Literaturapparat)? Wohl kaum. Denn wer den Verlag Das kulturelle Gedächtnis kennt, der weiß, dass sie und ihn hier ganz hohe Buchkunst erwartet.