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Die tote Debatte

Der Buchbranche und der Leserschaft geht es nicht schlecht – wenn man sich auf den boomenden Bereich des Genres New Adult kapriziert. Fans stehen auf Messen Schlange für Selfies mit Autorinnen, signierte Bücher und besondere Ausstattungen. Farbschnitte werden heiß diskutiert und alleine in der Woche, in der ich diese Zeilen schreibe, stammen sechs der Titel der Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste Paperback aus dem Hause Lyx.

Solcher Absatz weckt natürlich auch Begehrlichkeiten. Sogar eine Marke wie Gräfe und Unzer wagt angesichts solcher Erfolgsmeldungen jüngsten Nachrichten zufolge den Sprung ins Tummelbecken des New Adult-Segments. Man wolle „psychologische Expertise“ mit belletristischer Handlung verschmelzen, um zum Genre so „hochrelevante neue Aspekte“ beizutragen, lässt sich die Vertreterin des Verlags zitieren. Dass trotz solcherlei Stanze eigentlich ökonomische Interessen angesichts des wirtschaftlichen Erfolgs solcher Genretitel im Vordergrund stehen, darf nicht ausgeschlossen werden.

Doch was passiert eigentlich außerhalb dieser Erfolgssparte? Wenig Hoffnungsstiftendes. Denn obschon die steigenden Preise die Verluste auf dem Buchmarkt etwas ausgleichen können, sinkt doch die Zahl der Buchkäufer und scheinen die Verlage rat- und ideenlos. Und noch trostloser sieht es beim Thema des Sprechens über die Bücher selbst aus.

Denn nicht nur die professionelle Kritik und ihre Institutionen steht unter Druck, auch das Sprechen über Bücher im digitalen Raum durch Leserinnen und Leser selbst verödet zunehmend. Ist die digitale Literaturdebatte gar schon tot?

Elon Musk ist schuld

Blickt man auf die Gründe, warum die Literaturdebatte im digitalen Raum so verkümmert ist, könnte man es sich natürlich einfach machen, indem man auf den Mann zeigt, der schuld ist: Elon Musk.

Mit seiner Übernahme und anschließenden Abwirtschaftung des früheren Debattenraums Twitters hin zu X hat er für eine konsequenze Verödung des Mediums gesorgt. Eine Ausdünnung der Moderation ging mit dem beschönigend unter dem wolkigen Begriff der „Free Speech“ subsummierten Einlass radikaler, zumeist rechter Kräfte einher. Blaue Haken, früher ein Zeichen von Verifizierung und wenigstens einer Art von Relevanz, sind zur Ramschware verkommen. Reichweiten stagnieren, rechte Positionen fluten die Plattform und so ist es kein Wunder, dass dies zu einer Abwanderung vieler interessanter Stimmen geführt hat.

Eine wirkliche alternative und ähnlich relevante Plattform hat sich zumindest in meinen Augen bislang nicht etablieren können. Der blaue Himmel alias Blue Sky bleibt in Sachen Reichweite weit hinter den Erwartungen zurück und auch Mastodon bekommt sein Image als sympathisches, aber doch sehr nischiges und spezielles Kommunikationsforum nicht wirklich los. Auch die von Instagram angebotene Kommunikationsplattform Threads konnte sich bislang noch nicht wirklich durchsetzen.

Die Verbindlichkeit eines belebten Marktplatzes der Meinungen und Stimmen, wie es Twitter zur besten Zeit war, hat auch – über ein Jahr nach dem Niedergang des Mediums – keine der als mögliche Nachfolger gehandelten Plattformen entwickeln können. Wirkliche Debatten entspinnen sich so kaum.

Die Probleme liegen tiefer

Aber die Probleme liegen tiefer, als alleine bei Elon Musk die Schuld zu suchen. So ist die Zersplitterung der Kommunikationsplattformen nur Ausdruck dessen, was der Soziologe Andreas Reckwitz vor einigen Jahren auf die griffige Formel der Gesellschaft der Singularitäten gebracht hat.

Alles differenziert sich aus, Menschen suchen sich vermehrt ihre Nischen, in denen sie ihren Interessen nachgehen, die auch Distinktion erlauben und in denen sie das Gefühl von Besonderheit verspüren. Die Bindungskraft des Gemeinsamen, sie verliert sich zunehmend. Das kann man gut finden, etwa wenn sich im Bereich der Literatur einer verbindender Kanon auflöst, sogar Goethes Faust nicht mehr Pflichtlektüre in Schulen ist und so eine größere Vielfalt an Stimmen und vorher Übergangenem womöglich Einzug hält.

Gleichzeitig birgt das Ganze natürlich auch eine Gefahr, wenn man sich nicht mehr auf Standards und gemeinsame Nenner einigen kann, alles irgendwie gleich wertig ist und sich frühere klare Richtschnüre in einem einzigen Knoten der Beliebigkeit verheddern. So geht nicht nur die Orientierung verloren, auch die Weitung der eigenen Perspektive wird auf diesem Weg nicht unbedingt einfacher.

Die Orientierung geht verloren

Was sich im Digitalen vollzieht, findet auch in kulturkritischen Öffentlichkeit seinen Abdruck. Formate, die früher Orientierung versprachen, sie sind zunehmend auf dem Rückzug, wenn sie nicht eh schon verschwunden sind. Rezensionsplätze schrumpfen. Im vergangenen Herbst veröffentlichte Die Zeit nicht einmal mehr ihre traditionelle Beilage zur Frankfurter Buchmesse. Im Radio scheinen sich Programmdirektionen durchzusetzen, für die Anspruch in der Programmgestaltung einer potentiellen Abschreckung der Hörenden gleichkommt, welche unbedingt vermieden werden soll (die vielfache Streichung von Formaten des Senders Bayern 2 im Frühjahr diesen Jahres zugunsten einer besseren „Durchhörbarkeit“ der Radiostrecken ist hier ein trauriges Beispiel).

Auch im Fernsehen ist die Literaturkritik und das Gespräch über Bücher auf dem Rückzug. Sprechendes Bild hierfür ist die eigene Verzwergung des einstigen Hochamts der Literaturkritik, nämlich des Literarischen Quartetts. Früher vielbeachtet, scheinen heute die Sendungen nicht nur unter Ausschluss des Publikums vor Ort alleine sitzend unter einer Lampe am Tisch stattzufinden. Relevanz und Anspruch gehen anders.

Dass nun auch noch jüngsten Pressemeldungen zufolge Denis Schecks Sendungen Lesenswert und das Lesenswert Quartett als Orte des Austauschs über Bücher und Schreiben aufgrund von Sparvorhaben des SWR zugunsten eines wie auch immer gearteten digitalen Angebots eingestellt werden, fügt sich traurigerweise in diesen Trend ein. Hätten die Öffentlich-Rechtlichen wenigstens ein Konzept für Literaturvermittlung und Kritik im Netz, das über einzelne Podcasts oder Videos hinausgeht, könnte man dies ja vielleicht noch irgendwie gutheißen.

Richtungsweisende Ideen fehlen

Aber richtungsweisende Ideen und Visionen, sie fehlen auch hier und zeigen, dass die Programmverantwortlichen ratlos vor der Fragestellunge einer angemessenen Literaturrepräsentation offline wie online stehen. Kürzungen oder Streichungen von etablierten Formaten gehen ihnen deutlich leichter von der Hand, als Antwort auf die von ihnen erzeugten Leerstellen zu geben.

All das bedauere ich umso mehr, weil eine Polyphonie an Stimmen und Meinungen ja auch den eigenen Blick auf die Lektüre schärft. Debatten und Streit fordern eine eigene Positionsbestimmung heraus, ermöglichen einen neuen Blick auf Gelesenes. Man muss alte Wertungsmaßstäbe überdenken, eventuell verschieben oder gar neu entwickeln. Durch den Austausch über das Gelesene werden neue Perspektiven möglich und man justiert den eigenen Blick auf Geschriebenes.

Aber wie soll das funktionieren, wenn Literatursendungen und Rezensionen zusammengestrichen werden, wenn sich die Teilnehmenden und Anstifter*innen solcher Debatten aus dem gemeinsamen Gespräch verabschieden und die Gesellschaft der Singularitäten sogar schon jenen Ort durchdrungen haben, der eigentlich in seiner Konzeption für eine Verbindung von alles und jedem stand, nämlich das Internet?

Das Netz trägt nicht mehr

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es an selbst an jenem Ort, der qua Grundgedanke und Konstruktion für Austausch, Wissenserweiterung und Kollaboration ausgelegt ist, nicht mehr so recht gelingt, solche fruchtbringenden Debatten zu führen.

Ermöglichte das Netz parallel zur etablierten und institutionalisierten Literaturkritik auch den Aufstieg der eigentlichen Zielgruppe der Literatur, nämlich den ganz normalen Lesenden, hin zu Kritikern, die auf verschiedenen Plattformen und Formaten Literaturvermittlung und -kritik für ihr Publikum anboten, so ist dieser Aufstieg der Laien-Literaturarbeit schon längst zum Erliegen gekommen.

Viele Blogger*innen, die sich speziell dem gehobenen Segment der Literatur verschrieben haben, haben ihre Blogs aufgegeben. Ermüdet von der zeitraubenden Arbeit, die bis heute gerne von der profesionellen Literaturkritik belächelt und als unliebsame Konkurrenz markiert wird, haben sie sich aus dem Diskurs zurückgezogen.

Der Output in Form von Postings und Dikussionsbeiträgen ist merklich geschrumpft. Viele der früheren Blogger und Bloggerinnen haben durch einen Job Zugang in die Buchbranche gefunden, sind nun Verlagsmitarbeitende oder Buchhändler*innen. Der Podcast als Gespräch zwischen zwei oder mehr Lesenden hat das digitale Schreiben über Bücher zugunsten des Sprechens in Teilen abgelöst. Reichweiten für Posts und Beiträge sinken. All das sorgt verbunden mit einer oftmals mangelnde Wertschätzung der kostenlosen und stundenintensiven digitalen Besprechungsarbeit für eine Verödung der literaturkritischen Arbeit durch Laien.

Kaum Widerhall und gähnende Leere

Wo früher von Interessierten erregt in Kommentarspalten und Meinungsbeiträgen über Buchpreislisten, Nominierungen, Titel oder Auswahlverfahren vom Bachmannpreis bis hin zum Deutschen Buchpreis gestritten wurde, herrscht heute weitestgehend Stille und gähnende Leere

Ein Symbol hierfür war für mich die Verkündung der Nominierungen des Preises der Leipziger Buchmesse in diesem Frühjahr.

Haben die Literaturpreise tendentiell eher im Herbst Saison, liegt das Feld großer Literaturpreise im Frühjahr hierzulande fast brach. Ein großer Preis wie der der Leipziger Buchmesse, immerhin gleich in drei Sparten vergeben, sollte da doch eigentlich aufhorchen lassen. Aber zumindest in meiner Wahrnehmung horchte von den Leser*innen niemand recht auf, erst recht äußerte sich niemand vernehmlich. Im Netz fand der Preis kaum Widerhall. Kaum ein Leser dürfte die drei ausgezeichneten Titel noch aus dem Gedächtnis hersagen können, fanden die Bücher doch im digitalen Kulturraum fast überhaupt nicht statt.

Selbst wenn sich eine Debatte entzündet, sind es Äußerlichkeiten, mit denen sich die Debatten aufhalten und selten tiefer dringen. So war es in diesem Frühjahr wieder einmal die Zusammensetzungen der jüngst konstituierten Literaturjury des Deutschen Buchpreises, die auf Instagram die Gemüter erhitzte (oder zumindest lauwarm erwärmte).

Auch die letzte so zu nennende Debatte, die durch den Insiderberichts von Juliane Liebert und Ronya Othmann aus bzw. über der Jury des Internationalen Literaturpreis des HKW ausgelöst wurde, war hierfür symptomatisch. So ging es im Netz und in den Feuilletons um den von Liebert und Othmann erhobenen Vorwurf der außerliterarischen Kriterien bei der Entscheidungsfindung in Literaturjurys. Der damals ausgezeichnete Roman, das literarische Für und Wider der inkriminierten Titelauswahl, das alles aber fand in der Debatte nahezu nicht statt.

Blickerweiternd sind solche Debatten dann meistens auch nur in geringem Maße, versteifen sie sich doch auf äußere, denn inhaltliche Ästhetiken.

Mehr Debatte wagen!

Das ist bedauerlich, denn wir bräuchten mehr solcher blickerweiternden Debatten fernab von affirmativen Welten wie Instagram oder auf Sender-Empfänger-Modell ausgelegte Plattformen wie TikTok dringend (dass es in der boomenden Subsparte BookTok ausgerechnet wieder ein älterer Herr ist, der einen ebenso alten Kanon reproduziert, ist dabei mehr als nur eine Kuriosität für sich, die nicht nur die Bloggerin Katharina Herrmann kritisiert).

Mehr Debatte, mehr Streit, mehr Stimmen und mehr Tiefe in der Auseinandersetzung über Bücher und literarische Bewertung, das alles könnte den eigenen Blick, den gemeinschaftlichen Blick auf Literatur erweitern. Profitieren würde davon nicht nur das eigene Lesen – und weiter gefasst die Qualität der Literatur; auch die Verlage hätten ja etwas davon, wenn die Literatur wieder mehr ins Gespräch und den Austausch kommt. Für den kriselnden Buchmarkt könnte es zumindest ein Schritt in die richtige Richtung sein.

Bislang fehlen in meiner Wahrnehmung solche Iniativen aber völlig. Dabei wäre es wirklich wichtig, die tote Debatte insbesondere im Netz, aber auch in der medialen Öffentlichkeit wiederzubeleben.

Ein wertschätzender Blick auf die Akteure in den Debatten, Lust am gegenseitigen Austausch und Streit sowie entsprechende Infrastrukturen, um solche Debatten zu führen, all das könnten Ansätze für eine erste Wiederbelebungsmaßnahmen sein. Es wäre höchste Zeit, die Rettungsmaßnahmen einzuleiten und wieder mehr Debatte zu wagen!

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Canceln – Ein notwendiger Streit

Ein Geist geht um in Deutschland, der Geist der Cancel Culture. Diese Sätze stellte nicht nur Adrian Daub seinem jüngst im Suhrkamp-Verlag erschienenen Buch Cancel Culture Transfer voran, nein auch im neuen im Hanser-Verlag erschienen Essayband Canceln (zu dem auch Daub einen Aufsatz beisteuerte) tauchen die Worte wieder auf. Diesmal greift sie der österreichische Philosophieprofessors Konrad Paul Liessmann in seinem Beitrag auf.

Und tatsächlich scheint ja wirklich ein Gespenst umzugehen. So wirklich gesehen hat es noch keiner, aber die Zeitungen sind Woche für Woche voll damit. Erst jüngst machte die Wochenzeitung Die Zeit mit der Frage auf, wie frei die Kunst überhaupt noch sei. Immer wieder entzündet sich diese Debatte über (angebliche) Verbote, die Lager stehen sich recht konträr gegenüber. Um der Frage nach einer etwaigen Cancel Culutre auf die Spur zu kommen, haben die Herausgeber*innen Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Jo Lendle und Georg M. Oswald ganz verschiedene Menschen des Literaturbetriebs nach ihrer Meinung gefragt. Ebenso unterschiedlich wie die Verfasser sind auch die Aufsätze, die diese zu der Sammlung beigesteuert haben und die versuchen, den amorphen Debattenbegriff etwas schärfer zu konturieren.

Ergebnis ist ein polyphones, im besten Sinne widersprüchliches Buch, das sich dem Debattenthema Cancel Culture auf verschiedenen Wegen und das das Phänomen anhand aktueller Streitthemen untersucht.


So ist schon die Eingangsfrage für viele der Beitragenden extrem strittig, eben ähnlich, wie es sich auch sonst ins Debatten zeigt. Gibt es überhaupt eine Cancel Culture? Auf alle Fälle, wenn man den Ausführungen Konrad Paul Liessmanns folgt oder den Eingangsessay von Ijoma Mangold liest, der konstatiert:

Halten wir fest: Cancel Culture meint nicht staatliche Zensur. Es geht nicht um Zensur von oben, sondern um Zensur von unten. Nicht um hierarchische, sondern um dezentrale Macht. Nicht der Obrigkeitsstaat ist das Problem, sondern das, was man früher mal das gesunde Volksempfinden genannt hat, also eine von einer starken moralischen Stimmung aufgeheizte Menge. Was in Rede steht, ist mithin ein kulturelles Klima, das ohne staatliche Durchgriffsrechte dafür zu sorgen vermag, dass Meinungen, die vom im jeweiligen sozialen Aktionsradius kulturell dominanten Milieu als unerträglich empfunden werden, keine Bühne mehr bekommen. Der Druck kommt von der Straße, und es sind dann Universitätsleitungen, Chefredaktionen, Festivalveranstalter oder Verlagshäuser, die sich ihm beugen.

Ijoma Mangold – An ihren Worten sollt ihr sie erkennen . In: Canceln, S. 11

Gibt es Cancel Culture oder nicht?

Au contraire der Kulturredakteur Johannes Schneider von Zeit online, der in seinem hemdsärmeligen und stark subjektiven Beitrag vom Ausgangspunkt eines Besuchs in Astrid Lindgrens Kindheitsstätte im schwedischen Vimmerby aus in Von Pippi bis Puffmutter: Ich, komplett gecancelt konstatiert:

Das aber ist die Realität: Kulturerzeugnisse aller Epochen sind zugänglicher denn je, man kann den ganzen Tag stummgeschaltete Winnetou-Filme laufen lassen und dazu „Layla“ hören, und kein Twitter-Mob wird des Weges kommen und „Du, du, du“ sagen. Oder man macht eine Pilgerfahrt zum Geburtshaus jener Schriftstellerin, deren schönste Bücher andere grad aus dem Regal räumen. Nichts ist gecancelt, alles ist möglich. Und ich bin der lebende Beweis.

Johannes Schneider – Von Pippi bis Puffmutter: Ich, komplett gecancelt. In: Canceln, S. 221

Überhaupt – oft sind es die Kinderbücher, von denen aus die Autor*innen auf die großen Debatten überleiten. Asal Dardan nimmt sich etwa Michael Endes Jim Knopf vor und blickt vom heutigen Standpunkt aus in Deutsche Kindheiten: Über Michael Ende und sein erstes Kinderbuch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer auf Probleme, die Lektüre heute aufwirft. Sie fragt sich im Resümee „also nicht, ob man Jim Knopf heute noch lesen darf, sondern weshalb man es überhaupt wollen würde, wenn man sich eine pluralistische Gesellschaft wünscht, in der unsere Kinder als Subjekte ernst genommen und ins Leben mit anderen als Gleiche geschickt werden sollen“ (S. 52)

Cancel Culture – von Joanne K. Rowling bis Othello

Canceln - Ein notwendiger Streit (Cover)

Adrian Daub widmet sich Harry Potter beziehungsweise dessen Schöpferin Joanne K. Rowling, die sich unter anderem Vorwürfen der Trans-Feindlichkeit ausgesetzt sieht und gerne als Kronzeugin für den Beleg einer Cancel Culture herangezogen wird. Diese Entwicklung und die Entstehung der Vorwürfe arbeitet Adrian Daub ebenso nuanciert heraus wie die Autorin Mithu Sanyal, die ihrer kindlichen Begeisterung für Enid Blyton trotz aller Stereotype und problematischen Ansichten der Autorin nachspürt. Und Literaturkritiker Lothar Müller schließlich widmet sich dem Feld des Kolonialismus und dessen Repräsentation im Kinderbuch, in dem er ein altes Buch aus seiner Kindheit noch einmal mit dem heutigen Blick liest, nämlich das 1963 erschienene Weißer Mann auf heißen Pfaden. Entdecker, Eroberer und Abenteurer im schwarzen Erdteil von Hermann Homann.

Geht es den Autor*innen dabei keinesfalls darum, die jeweiligen Autor*innen und Werke zu verbieten, so legen sie allesamt mal offensichtlichere, mal subkutanere Probleme der Lektüren und Autor*innen offen und leisten damit das Gegenteil, was Cancel Culture-Anhänger meist befürchten, nämlich Verbote und Zensur. Erfrischend, wenn Lothar Müller einfach konstatiert, dass er froh ist, dass es der Markt geregelt habe, dass man das antiquierte Buch seiner Kindheit heute nur noch umständlich erhalten könne, da die Gesellschaft heute aufgeklärter sei und der Markt für eine Verdrängung dererlei Lektüre gesorgt habe. Eine geerdete Ansicht, die eben nicht den Fehler der Nostalgie macht, wie er in Debatten um die Cancel Culture schnell Einzug findet.

Cancel Culture, ein Ausdruck falscher Nostalgie?

Denn viele der Aufsätze in Bezug auf Kinderbücher arbeiten in unterschiedlichen Ausprägung eine Erkenntnis heraus, die Adrian Daub in seinem Beitrag Your fave is problematic: Der Fall J. K. Rowling wie folgt formuliert, wenn Stimmen Probleme an Kinderbüchern mit dem Argument herunterspielen, es handele sich dabei ja „nur“ um Kinderliteratur:

Dieser Imperativ sagt etwas aus über das Problem der Nostalgie, das der Klage über die Cancel Culture immer auch innewohnt: eine hermeneutische Nostalgie, die sich eine Zeit zurückwünscht – eine höchstwahrscheinlich fiktive – in der bestimmte Aspekte von Werken, Personen, Diskursen nicht als rassistisch, sexistisch usw. ins Auge sprangen, eine Ära, in der es noch unproblematische „Faves“ geben konnte. Diese Nostalgie äußert sich aber konkret in einer unmöglichen Forderung: dass andere nicht sehen, was sie nicht nicht sehen können.

Adrian Daub – Your fave is problematic: Der Fall J. K. Rowling. In: Canceln, S. 125

Die Nostalgie und Verklärung der eigenen Lektüre, das Verschließen der Augen vor problematischen Weltbildern und der Wunsch nach einer subjektiven heilen Kindheitswelt, in Canceln tritt dieser Aspekt der Debatte in den Gedanken ganz unterschiedlicher Autor*innen deutlich hervor.

Um diese Schwerpunktsetzung der Kindheitslektüre herum gruppieren sich weitere Aufsätze, die Debatten der letzten Zeit aufgreifen und noch einmal rekonstruieren (wie dies etwa Anna-Lena Scholz in ihrem Beitrag mit dem Streit um Dieter Nuhr und dessen Beitrag zum Jubiläum der DFG macht, der schon wenige Jahre nach dem Ereignis gar nicht mehr wirklich nachvollzogen werden kann).

Daniela Strigl widmet sich der Übersetzer*innen-Debatte, die nach dem Protest in den Niederlanden gegen die Übertragung des Inaugurationsgedichts von Amanda Gorman durch eine Nicht-Schwarze Übersetzerin entstand. Jürgen Kaube beschäftigt sich mit der Inszenierungsfrage von Shakespeares Othello in unseren Tagen oder Hanna Engelmeier zeigt eine alternative Möglichkeit auf, wie man mit Texten umgehen kann, die mit unserer heutigen Weltsicht kollidieren, etwa Heinrich von Kleists Die Verlobung in St. Domingo, das sie mit einem Text der Schweizer Autorin Dorothee Elmiger kontrastiert und so neue Erkenntnisse gewinnt.

Cancel Culture, oftmals ein Sturm im Wasserglas?

Interessant ist die Akribie, die die Autor*innen in ihren Aufsätzen verwenden, um Fälle wie den schon genannten Fall von Dieter Nuhr und der DFG stets mit zahlreichen Quellen und Verweisen zu rekonstruieren. Viele der Debatten wurden ja höchst hitzig geführt – das aber nur über einen kleinen Zeitraum hinweg und sind heute schon von anderen Debatten längst überlagert worden, so auch etwa die Querelen um Monika Maron, die von ihrem Verlag S. Fischer nach der Publikation in einem rechten Verlagshaus keinen neuen Vertrag mehr erhielt, und bei der auch schnell von Canceln die Rede war.

22 Tage lang dauerte der Spuk, wie die Literaturkritikerin Marie Schmidt in ihrem Aufsatz zeigt. 22 Tage, dann hatte Maron einen neuen Vertrag vom Publikumsverlag Hoffmann und Campe erhalten. Ein Sturm im Wasserglas, bei dem aber auch wieder ähnliche Mechaniken zu beobachten waren, wie sie in anderen Essays herausgearbeitet werden. Spannend auch, wie sich etwa auch die Rückgriffe auf Argumente und Kronzeugen in den unterschiedlichen Lagern ähneln.

So zitieren sowohl Ijoma Mangold als auch Konrad Paul Liessmann den erst abgesagten und dann doch stattfindenden Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht an der Humboldt Universität in Berlin oder die Kontroverse um die österreichische Kabarettistin Lisa Eckart als Kronzeugen als Beleg für eine Cancel Culture.

Johannes Schneider hingegen verweist deutlich entspannter ebenso wie Mithu Sanyal auf Astrid Lindgren, deren Südseekönig vor einiger Zeit für Aufregung sorgte. Lothar Müller benennt Kleist als Beispiel für einen aufgeklärten Umgang mit „moralisch veralteten“ Ansichten, ebenso wie sich Hanna Engelmeier für ihre Thesen auf den 1777 geborenen Kleist bezieht.

Immer wieder kommt es zu spannenden Interferenzen zwischen diesen vielstimmigen Beiträgen, die neben ihren Hauptthemen auch viele weitere Diskurse und heißblütig geführte Debattenthemen abräumen, so etwa auch die Debatten um das N-Wort oder Triggerwarnungen, zu denen die unterschiedlichen Autor*innen unterschiedliche, aber sehr bedenkenswerte Gedanken äußern.

Man mag mit vielem nicht d’accord gehen, grundsätzlich anderer Meinung sein. Aber der Widerspruch, der aus diesem Essayband strömt, würde auf diesem Niveau und dieser Differenziertheit der öffentlichen Debatte auch gut zu Gesicht stehen, abseits von albernen Schlagzeilen um verbotene Sombreros auf Bundesgartenschauen oder Ballermannhits, die jedes Niveau unterschreiten.

Cancel Culture, ein Ausdruck für die Sehnsucht akademischer Freiheit?

Persönlich halte ich das Gespenst der Cancel Culture für ein ebenjenes – ein Phantom, das den Blick auf viele wirkliche und dringend zu führende Debatten verstellt. Für die immer wieder perpetuierten Debatten um eine eingeschränkte Meinungsfreiheit und kleiner werdende Meinungskorridore an Universitäten und anderswo möchte ich fortan die Worte Anna-Lena Scholz‘ zitieren, in deren Gedanken zur hermeneutischen Figur der Cancel-Culture ich viel Bedenkenswertes gefunden habe. Ihr Verständnis der Debatten und Mechaniken, bezogen auf die angeblich bedrohte wissenschaftliche Freiheit und die Freiheit generell ist eines, dem ich mich anschließen würde.

All jene Fälle, die in den letzten Jahren als Cancel Culture gerahmt wurden, stehen aus meiner Sicht nicht für einen Niedergang der akademischen Freiheit in Deutschland. Sondern für ein drängendes Interesse dran, dass sie gelten möge. Wenn aber ungesellschaftliche Sehnsucht und juristische Norm deckungsgleich sind, dann kann es um die Möglichkeit zur Freiheit und Erkenntnisgewinnung all schlecht nicht bestellt sein.

Anna-Lena Scholz – Cancel Culture: eine hermeneutische Figur. Der Streit um die Freiheit der Wissenschaft. In: Canceln, S. 101

Fazit

Das kann man so sehen – oder eben ganz anders. Aber genau hier liegt die Qualität, weil Canceln eben nicht zu einem billigen Kompromiss gelangt, sondern das Widersprüchliche aushält und keiner Seite einen wirklichen Vorzug gibt. Das Buch steht für Differenzierung, genaue Betrachtungsweise und ein produktives Gegen- und Miteinander von Perspektiven, das aus einem Dissens erwachsen kann. Könnte Streiten nur öfter so anregend, fundiert und horizonterweiternd sein, es wäre schon viel gewonnen!


  • Canceln – Ein notwendiger Streit
  • ISBN 978-3-446-27613-0 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Warum Bücher keine Lebensmittel sind

Es ist doch etwas albern, eine Blogbeitrag mit einer derart selbsterklärenden Überschrift zu beginnen. Und dennoch steht meine Aussage im Widerspruch zu der Empfindung vieler Menschen da draußen, wenn ich die Diskussionen der vergangenen Tage Revue passieren lasse. Noch immer scheint in Teilen des Bildungsbürgertums ein romantisierender Literaturbegriff vorzuherrschen, was den Umgang mit Büchern und ihren Stellenwert betrifft.

Eigentlich ist es ja ganz einfach: Nein, Bücher sind keine Lebensmittel. Spätestens, wenn man einmal versucht, von ihnen abzubeißen, sollte auch der letzte oder die letzte dieses Faktum zur Kenntnis genommen haben.

Aber dennoch erfreut sich die Aussage größter Beliebtheit. Schon während des ersten Shutdowns im März und der damit verbundenen Schließung von Buchhandlungen und Bibliotheken grassierte diese Aussage, um für offene Bibliotheken und Büchereien zu werben. Und nun, da der zweite Shutdown angebrochen ist, feiert die Ungleichung Bücher=Lebensmittel ihr Comeback.

Die Maslow’sche Bedürfnispyramide

Dabei ist die Sache doch recht einfach, wenn man einfach mal die berühmte Maslow’sche Bedürfnispyramide zur Hand nimmt. Diese klassifiziert verschiedene menschliche Bedürfnisse, aufsteigend nach ihrer Wichtigkeit.

Die Bedürfnispyramide nach Maslow (Quelle: Wikipedia)

Betrachtet man diese Pyramide, finden sich Bücher höchstens in der Kategorie der Individualbedürfnisse, eher noch in der Spitze bei der Selbstverwirklichung. Es mag in gewissen Teilen des Bildungsbürgertums immer noch en vogue sein zu bekennen, man könne ohne Bücher nicht leben. Und ja, Bücher bieten Wissen und Zerstreuung, lassen uns in andere Welten eintauchen, verändern bestenfalls unser Denken und unsere Wahrnehmung. Aber überlebenswichtig ist das alles nicht. Bücher sind keine Lebensmittel, ich kenne gar Menschen, die prima durchs Leben gekommen sind, ohne mehr als eine Handvoll Bücher gelesen zu haben. Persönlich kann ich mir einen derartigen Lebensstil auch nicht vorstellen: zum Überleben brauchen wir die Bücher aber nicht. Da sind es schon eher die physiologischen Bedürfnisse und die Fragen der Sicherheit, die im täglichen (Über)Leben eine Rolle spielen.

Oder man folgt dem Vorschlag der Kolleg*innen der Büchereien Wien:

Eine privilegierte Diskussion

Die Diskussion, die sich nun um geöffnete Buchhandlungen entspann, in der obiges Argument reflexhaft wiederholt wurde, zählt für mich auch zu einer überprivilegierten Diskussion, über die ich nur den Kopf schütteln kann. Hängt unser Wohl und Wehe in der wohl schwersten Pandemie seit vielen Jahrzehnten davon ab, dass wir weiterhin in geöffneten Buchhandlungen einkaufen können? Sind Buchhandlungen wirklich lebensnotwendig? Und müssen wir diese trotz besseren Wissens wirklich offenhalten und die Mitarbeitenden dem Risiko des Kundenkontakts aussetzen?

Zahlreiche Stimmen von Buchhändler*innen, die ich in den letzten Tagen vernahm, lassen mich wirklich daran zweifeln. Viel war da zu lesen von enervierenden Gesprächen mit Kund*innen, die Hygieneregeln oder Wartezeiten nicht beachten wollten. Warum sollte man die Mitarbeitenden diesem Stress und Infektionsrisikos aussetzen, wenn es auch anders geht?

Warum sollen Buchhandlungen sicherere Einkaufsmöglichkeiten als Discounter, Baumärkte oder Drogerien darstellen? Dem Virus ist es aktuellen Erkenntnissen nach ja ziemlich egal, wo es sich verbreitet. Wo sich Menschen befinden, ist das Risiko einer Infektion gegeben. Und wenn wir wirklich alle sozialen Kontakte drastischer einschränken müssen, als bisher geschehen, warum dann nicht auch in Buchhandlungen?

Buchhandlungen funktionieren auch geschlossen

Es ist ja nicht so, dass Buchhandlungen keine Bücher mehr vertreiben, nur weil sie geschlossen sind. Im Gegenteil. Der Shutdown im März und April hat es ja bewiesen: Buchhandlungen funktionieren auch unter Pandemiebedingungen hervorragend und stellen die Versorgung mit Lesestoff sicher.

Die meisten Buchläden bieten Onlineshops an, sie liefern aus oder bieten kontaktlose Abholmöglichkeiten. Man kann digital E-Books downloaden oder Hörbücher streamen. Bibliotheken bieten die Onleihe, Plattformen wie Genialokal oder Mojoreads helfen aus, wenn gerade keine Buchhandlung in der Umgebung digital eine Bestellplattform bietet. Ganz zu schweigen von Bücherkisten in der Nachbarschaft oder offene Bücherschränke in vielen Städten. Jede Menge Möglichkeiten also, um teilweise wenigen Minuten später, in den allermeisten Fällen spätestens am nächsten Tag, das gewünschte Buch zu besitzen. Braucht es da zwingend geöffnete Buchläden, in denen man das Personal dem Risiko von Kontakten aussetzt? Ich meine nein.

Ich gehe sogar soweit und biete eine Wette an: in den meisten Haushalten der lautesten Trommler für geöffnete Buchhandlungen dürften mindestens eine Handvoll ungeleser oder wiederlesenswerter Bücher stehen, sodass man auch mal zwei oder drei Tage ohne eine realiter geöffnete Buchhandlung überlebt (exklusiv von mir schon getest: Spoiler – es funktioniert!)

Entweder, wir nehmen die Pandemiebekämpfung jetzt ernst und behandeln alle gleich, oder wir lassen es. Dann suchen wir für alles Ausnahmen, relativieren die Risiken, erschaffen einen Flickenteppich der regionalen Regelungen und erneuter Ausnahmen. Wundern brauchen wir uns dann aber auch nicht, wenn die Wirkung des „harten Lockdowns“ dann verpufft und wir wieder da stehen, wo wir losgelaufen sind.

Warum sind Buchhandlungen wichtiger als Büchereien?

Und eine letzte Frage hätte ich da noch: warum werden Buchhandlungen in dieser Pandemie einmal mehr besser behandelt als Büchereien? Nur weil sie die lautere Lobby haben und weil man zu Weihnachten halt traditionell in die Buchhandlung stiefelt? Ich behaupte ketzerisch: bei einem Teil der zu Weihnachten rituell eingekauften Bücher ist es den Beschenkten eh wurscht und es zählt eher die Geste der Kulturbeflissenheit, denn eine wirkliche literarische Affinität beim Beschenkten.

Aber in der Diskussion der letzten Tage drehte sich alles um Buchhandlungen. Die Entscheidung Berlins, diese offenzuhalten, wurde in den sozialen Netzwerken und einschlägigen Gruppen begeistert beklatscht. Bücher SIND eben einfach Lebensmittel. Da war sie wieder, diese falsche Phrase. Kein Wort aber zu den Büchereien, die nach Länderregelung teilweise schon Ende November schließen mussten und unter erheblicher Eigeninitiative erst nach politischer Freigabe einen Abholservice auf die Beine stellen durften.

https://twitter.com/tomhillenbrand/status/1336019586576240646

Ich konnte es meinen Kund*innen hier in der Bücherei nur schwer vermitteln: warum dürfen große Rolltreppenbuchhandlungen aufhaben und ihre Bücher verkaufen, während wir geschlossen bleiben und (diesmal wenigstens nur tagelang statt wie im März Wochen) auf die Erlaubnis eines To-Go-Betriebs hoffen mussten? Nur weil wir Medien mehr oder minder gratis verleihen, statt sie zu verkaufen? Unverständnis nicht nur auf Kundenseite, sondern auch bei vielen Bibliotheksmitarbeiter*innen. Denn gerade aufgrund ihrer Kommerzfreiheit, ihre niedrigschwelligen Angebote, ihre Teilhabemöglichkeiten, ihrem breiten Informationsangebot sehe ich Bibliotheken in Sachen Wichtigkeit für die Gesellschaft noch vor Buchhandlungen.

Geistige Tankstellen – ein schiefes Bild

Ins Bild passt da auch das schiefe Bild der geistigen Tankstellen, das kontinuierlich zweckentfremdet wird und wurde. Einst versah Helmut Schmidt Bibliotheken mit dieser Bezeichnung. Doch in der Politik scheint eine derart große Begeisterung für diese Metapher zu herrschen, dass man nur noch im Bezug auf den Buchhandel von „geistigen Tankstellen“ liest. Zuletzt war es etwa Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die von Büchern als „Seelennahrung“ und eben auch von „geistigen Tankstellen“ salbaderte. Der Ursprung des Zitats und seine eigentliche Bedeutung scheint zunehmend in Vergessenheit zu geraten.

Dass es zwischen Buchhandlungen und Büchereien einen Unterschied gibt, es scheint egal. Und warum muss man in Zeiten des Klimawandels und der zunehmenden Sensibilisierung für die Umwelt immer noch von Tankstellen sprechen? Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Im Land des Autos geht halt nichts ohne einen Autovergleich? Lesen ist Benzin für den Kopf? Literatur gibts in bleifrei, Super und ohne Oktan? Im Gegensatz zur Tanke haben die meisten öffentlichen Büchereien (und auch Buchhandlungen) sonntags zu, überteuerte Fertigpizza und Bier gibts da auch nicht. Dieses Bild funktioniert immer schlechter, je länger man darüber nachdenkt.

Zurück zu einem sinnvollen Diskurs

Wie wäre es, wenn wir diese ganze Debatte um die Buchhandlungen mal wieder ein paar Stufen zurückschalten? Und ein paar wirklich wichtige Dinge in den Blick nehmen? Ja, Bücher sind keine Lebensmittel. Und ja, sie sind wichtig und, bedeuten für viele Menschen Aus- und Einkommen. Wissens- und sinnstiftend sind sie auch für unzählige Menschen. Das weiß ich alles. Aber wäre es nicht Zeit, uns mal ein paar wichtige und ehrliche Fragen zu stellen?

Warum hängt das Wohl und Wehe unserer Gesellschaft vor Weihnachten davon ab, in einer Buchhandlung persönlich zu erscheinen, statt sich telefonisch beraten zu lassen oder per Mail zu bestellen?

Warum kann man Büchereien ohne große Aufschreie wochen- und monatelang zusperren, aber erst wenn Buchhandlungen schließen sollen, kommt der große Aufschrei?

Ist es nicht auch ein bisschen peinlich, wenn andere Branchen und wirklich wichtige Einrichtungen wie Tafeln und Co. die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ohne Widerstand und Klagen mittragen – und nur von der Literaturbranche und ihrer Unterstützer*innen wehleidiges Jammern und Zetern zu vernehmen ist?

Warum sollen Buchhandlungen besser behandelt werden als Büchereien? Warum gibt es keine einheitlichen Regeln, die einfach eine kontaktlose Abholung ermöglichen, statt überall Ausnahmen und Schlupflöcher zu suchen?

Was ist uns die Pandemiebekämpfung und der Schutz unserer Mitmenschen wirklich wert? Sind Bücher lebensnotwendig?

Und wo ist jetzt hier die nächste Tanke?

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