Ulla Lenze – Der Empfänger
Romane über den Zweiten Weltkrieg, besonders über die Deutschen und ihr Tun und Treiben gibt es wie Sand am Meer. Mal sind sie besser, mal sind sie etwas überflüssiger. Ulla Lenze gelingt es nun allerdings in ihrem Roman „Der Empfänger“, dem Thema des Zweiten Weltkriegs eine wirklich neue Facette abzuringen und einen ganz eigenen Blick auf die Thematik zu werfen. Sie erzählt von einem Deutschen, der sich im Geflecht der deutschen Abwehr in Amerika verstrickt. Ein Buch über Nazis in Amerika und die Frage, wie man vom Mitläufer zum Täter wird.
Ulla Lenze ist eine weitgereiste Schriftstellerin. So war sie schon Stadtschreiberin in Damaskus und wurde mit einem Arbeitsstipendium der Konrad Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Vor vier Jahren bekam sie den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft für ihr Gesamtwerk zugesprochen, das fünf Romane und zahlreiche Aufsätze und Beiträgei in Anthologien umfasst. Das jüngste Werk in ihrem Schaffen ist nun der Roman Der Empfänger. Ein Buch, das den Blick über den großen Teich wagt und von einem Einwanderer und dessen Verstrickung in die Arbeit der Deutschen Abwehr zu Zeiten des Dritten Reichs erzählt.
Die Geschichte des Josef Klein
Ihr Protagonist heißt Josef Klein, ebenso wie Lenzes eigener Großonkel. Im Vorwort stellt sie allerdings fest:
Dieses Buch ist ein Roman. Obowohl ich die Lebensgeschichte meines Großonkels Josef Klein zu großen Teilen verarbeitet habe, ist die literarische Figur Josef Klein meine Erfindung.
Lenze, Ulla: Der Empfänger
Sein Leben erzählt Lenze achronologisch springend in mehrere Teile fragmentarisiert. So erleben wir gleich zu Beginn Josef Klein alias Don José im Jahr 1953 auf Costa Rica, wohin er über Belgien und Casablanca geflüchtet ist. Dann führt uns die Autorin zurück ins Jah 1925, als Klein als Einwanderer ins „Gelobte Land“ Amerika kam. Sein Leben in Harlem im Moloch New York ist anschließend genauso Thema wie sein Aufenthalt bei seinem Bruder in der Nachkriegszeit 1949 in Neuss.
Vieles wird zunächst im Buch nur skizziert. Die wichtigsten Lebensstationen stellt uns Lenze gleich zu Beginn durch die spunghafte Erzählweise dar. Die Verbindungen und das dahinterstehende Leben füllt sie allerdings erst Stück für Stück. Allmählich zeichnet sie das Bild eines Mannes, der nach der Ankunft in der harten Realität der Millionenmetropole New York mehr oder minder ungewollt immer weiter in den Dunstkreis deutscher Nazis im Big Apple rutscht. Was zunächst mit dem Funken als harmlosen Hobby beginnt, führt schon bald zu gefährlichen Verstrickungen Josef Kleins in die Geschäfte der Deutschen Abwehr, die im Auftrag Wilhelm Canaris Amerika unterwandern sollen.
Wie eine Fliege im Netz
Es sind kaum fassliche Szenen, die Ulla Lenze in ihrem Roman schildert. So organisierte der Amerikadeutsche Bund im Jahr 1939 eine Nazi-Kundgebung im Madison Square Garden, an der über 20.000 Menschen teilnahmen. Mit Julius Kuhn als Hautptredner wollte man auf dieser Veranstaltung für den Nationalsozialismus auch in Amerika werben. Hakenkreuze und ähnliche Devotionalien wurden ebenso wie der Hitlergruß gezeigt und ein Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte und die Propagierung des Antisemitismus standen auf der Tagesordnung.
Ein schier unglaubliches Kapitel, an dem Lenze auch ihren Protagonisten Josef Klein teilhaben lässt. Dieser ist zu diesem Zeitpunkt schon in den Dunstkreis des Nazis Schmuedderich geraten. Wie eine Fliege hängt Klein im Netz der Nazis, in das er sich immer weiter verstrickt. Hin und hergerissen zwischen seiner Loyalität zu Schmuedderich, zu einer jungen Amerikanerin, die er durch das Funken kennengelernt hat und die Furcht vor den Konsequenzen seiner Taten durchstreift er die Häuserschluchten New Yorks. Schlussendlich wird Josef Klein zum Doppelagenten, immer wieder schwankend in der Frage seiner Loyalität.
Ulla Lenze bringt in ihrem Roman eine mir bislang wirklich kaum bekannte Facette des Zweiten Weltkriegs nahe. Die Unterstützung Hitler-Deutschlands durch den Amerikanischen Bund und die Umtriebe der Deutschen Abwehr in Amerika habe ich so in keinem zeitgenössischen Roman gelesen. Manchmal erinnert Lenzes Werk etwas an Oliver Guez, gerade was die letzten Jahre des Romans 1953 in Costa Rica angeht. Die Beschreibung des Lebens der deutschen Auswanderer in Buenos Aires, die Endstation der Rattenlinie und das Fortbestehen der alten Nazi-Kader lässt schaudern.
Auch ist Lenze besonders stark, was die Skizzierung ihre Charakters Josef Klein angeht. Dieser entzieht sich einer klaren Einordnung. Ist er nun Täter oder nur ein Mitläufer? Zeigt er Reue oder verweigert er sich der Anerkennung seiner Schuld? Die schlussendliche Deutung dieser Figur überlässt Lenze ihren Leser*innen, was durchaus überzeugt.
Fazit
Insofern ein wirklich starkes Buch, das einen komplexen Charakter und ein unbekanntes Stück Geschichte in den Mittelpunkt stellt. Noch dazu interessant montiert. Große Empfehlung für diesen Empfänger!
Ganz anders sieht das im Übrigen der Literaturblog Aufklappen. Und auch die Meinung von Marina Büttner sei hier hingewiesen.