Tag Archives: Finanzkrise

Donal Ryan – Die Gesichter der Wahrheit

Ein kleines Dorf in Irland, getroffen von der Rezession. Dieses Dorf hat sich der Schriftsteller Donal Ryan erwählt, um hier einen Blick in den Kosmos der Dorfgesellschaft und damit im Endeffekt auch auf die Lage des Landes zu werfen. Ryan erzählt von Kindergärtnern, Bauarbeitern oder auch aus der Perspektive von Kindern, die einen ganz eigenen Blick auf das Dorfleben haben.

pressebild_die-gesichter-der-wahrheitdiogenes-verlag_72dpiDie Rezension hält das kleine irische Städtchen am Boden und das Bild eben jenen Dorfes wird von Bauruinen dominiert, die nach dem Platzen der Finanzblase nicht mehr weiter gebaut wurden. Der lokale Bauunternehmer hat seine Mitarbeiter ausgeschmiert und nun brodelt es im Dorf. Doch auch zwischenmenschliche Konflikte treten immer mehr zutage, sodass am Ende dieses Erzählreigens eine Entführung und sogar ein Mord stehen werden. Wie es dazu kam erschließt sich Stück für Stück aus den einundzwanzig Geschichten, die damit die Gesichter der Wahrheit bilden.

Nach seinem sehr guten Erstling Die Sache mit dem Dezember gibt es nun Nachschlag von Donal Ryan . Abermals kam die Übersetzerin Anna-Nina Kroll zum Einsatz, die den Titel The spinning wheel als Die Gesichter der Wahrheit ins Deutsche übertrug. Sie hat es recht gut geschafft, den Slang der irischen Landbevölkerung ins Deutsche zu übertragen. Chorisch berichten die Protagonisten Ryans, die meist kein Blatt vor den Mund nehmen und so Zeugnis vom Niedergang eines ganzen Landes geben.

Dass bei einundzwanzig Geschichten auf 240 Seiten keine große Tiefe oder Profilschärfe in puncto Figurenzeichnung zu erwarten ist, das ist klar. Dafür gelingt es Ryan aber schnell, von Geschichte zu Geschichte zu wandern und sein Spinnrad der Fiktion von Speiche zu Speiche zu drehen – ein Panoptikum des Niedergangs, schnell auf ein wenig mehr als 250 Seiten erzählt.

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John Lanchester: Kapital

Ein kapitaler Roman

Leider lässt sich der wunderbar zweideutige Titel Capital im Original nur ungenügend ins Deutsche übertragen. Dennoch trifft auch Kapital fast den Kern der Sache, auch wenn das Buch noch einen zweiten Hauptdarsteller kennt, nämlich die Finanzkapitale London.
Diese bricht John Lanchester gekonnt auf die Pepys Road herunter, die Hauptdarsteller im Buch ist. In ihr lebt ein buntes Panoptikum an Londoner Bürgern an deren täglichen Leben und Sorgen Lanchester uns teilhaben lässt. Es wird geliebt, gestorben, getäuscht und gespielt. Der Autor berichtet von Bankern, Senioren, illegalen Immigranten und Fußballtalenten. Stets souverän erzählt ihr von ihren kleinen und großen Sorgen und entwickelt so einen höchst ansprechenden Episodenroman. Kapital kann als literarische Antwort auf die Finanzkrise gelesen werden – spielt ja ein Banker mit großen Problemen eine der zentralen Rollen im Buch. Ebenso kann der Roman aber auch als Panorama unserer Zeit und unserer Probleme gelesen werden, will man nicht unbedingt die Verbindung zur akuten Finanzkrise herstellen.
Als subtiles Thema flicht John Lanchester den Erzählstrang von mysteriösen Briefen und Nachrichten ein, die verkünden „Wir wollen was ihr habt“. Mal droht diese Strang ganz zu verschwinden, dann mäandert er wieder in voller Breite durch das Buch, immer um zu zeigen, wie die Bewohner die Pepys Road verändert haben und wie die Pepys Road die Menschen geändert hat. Deshalb aber aus dem Buch einen Krimi stricken zu wollen, wäre verkehrt. Vielmehr zeigt Lanchester in diesem kurzen Stück Literatur gewordener Gegenwart auf, wie sich unsere Leben gegenseitig beeinflussen und welche Folgen manche Handlungen haben können. Besonders eindrücklich wird dies an den Stellen, an denen der Engländer von einer illegalen Immigrantin oder von einem unter Terrorismusverdacht geratenen muslimischen Bürger berichtet.
Ein fesselndes Buch, da es nicht mehr sein will als eine kurze Skizze unseres täglichen Lebens. Ein Buch über Einzelschicksale, London und über das Leben allgemein!
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