Tag Archives: Hongkong

Mit Krimis in den Urlaub

Wohin geht es dieses Jahr in den Urlaub? Die aktuelle Pandemielage macht diese Entscheidung deutlich schwieriger. Länder, die gerade noch als traumhafte Urlaubsdestinationen galten, sind morgen schon wieder Risikogebiete. Die Unsicherheit hat Einzug gehalten in die Urlaubsplanungen. Deshalb biete ich als kleinen Service für den Sommerurlaub hier kurz und kompakt vorgestellt drei neue Krimis, die in ganz unterschiedliche Landstriche und Regionen entführen. Unverdächtig des üblichen Regionalkrimi-Unfugs sind hier drei originelle Autoren und Ermittler zu entdecken, die im Kopf gut verreisen lassen.

Anthony J. Quinn – Auslöschung

Anthony J. Quinn- Auslöschung (Cover)

Der erste Tipp führt auf die grüne Insel. Wobei sich das Grün in diesem Roman eher als Grau ausnimmt. Denn wir sind am See Lough Neagh in der irischen Provinz Armagh, der im Nebel liegt. Hier wurde auf einer Insel ein alter Vogelbeobachter brutal ermordet. Ein weiterer betagter Senior ist verschwunden. Polizeiinspektor Celcius Daly ist mit der Suche nach dem Vermissten betraut. Allmählich kristallisieren sich Verbindungen zwischen dem toten Vogelbeobachter und dem Verschwundenen heraus. Verbindungen, die zurück in die Zeiten der Troubles und damit zu den Machenschaften von Special Branch und IRA führen.

Nebel auf dem See, eine nebulöse Vergangenheit der alten Männer und dazu noch Nebel im Kopf. Schwaden von Erinnerungen und Fetzen von früher durchziehen den Geist des Verschwundenen, den Anthony J. Quinn neben Celcius Daly zu Wort kommen lässt. So besitzt der Originaltitel Disappearing eine Mehrdeutigkeit, die sich im deutschen Titel nur unzureichend ausdrückt. Neben dem etwas unfokussierten Nachwort sind das aber nur marginale Schwachstellen, die Quinns Buch sonst gut zu kompensieren weiß.

Besitzt Quinns Debüt auch nicht die erzählerische Raffinesse eines Adrian McKinty und die subtile Entfaltungskraft einer Tana French, ist Auslöschung doch ein gehobener Krimi von der grünen Insel, deren wechselvolle Geschichte in jüngster Vergangenheit wieder wach werden lässt. Ein Krimi über die Schuld und Sühne, Loyalitäten und Vergebung – und nicht zuletzt über das Vergessen und das Nicht-Vergessen Können, das über allem in Auslöschung schwebt.

  • Anthony Quinn – Auslöschung
  • Aus dem Englischen von Sven Koch
  • ISBN: 978-3-948392-26-0 (Polar Verlag)
  • 424 Seiten. Preis: 14,00 €

Javier Cercas – Auslöschung

Vom nebligen Norden führt der nächste Tipp in den deutlich wärmeren Süden. Der katalanische Autor Javier Cercas hat sich mit Terra Alta erstmals an einem Krimi versucht. Dieser Versuch ist ihm wirklich geglückt!

Spätestens seit der Trilogie von Eva García Sàenz ist das Katalonien einer der interessantesten kriminalliterarischen Landstriche in der gegenwärtigen Literaturlandschaft. Fernab aller von Deutschen unter Pseudonym verfassten und nach Schema F heruntergeschriebenen Regiokrimis zeigt sich hier eine spannende Facette des literarischen Krimis. Ähnlich wie im Falle von Anthony Quinn ist es auch hier die wechselvolle und blutige Geschichte des Landstrichs, die die Grundierung des Buchs bildet. Im Weinanbaugebiet von Terra Alta ist es zu einem Doppelmord gekommen, der den Ermittler Melchor Marín auf den Plan ruft. Dieser hatte sich nach traumatisierenden Erfahrungen in seiner Vergangenheit in diesen Landstrich versetzen lassen, um dort ein ruhiges Leben mit seiner Familie zu führen (hier enden dann auch alle erzählerischen Gemeinplätze). Der Mord an dem Paar bringt den Ermittler in Konflikt mit alten Loyalitäten und lässt ihn verzweifeln.

Neben der Darbietung des Plots zählt die Gestaltung von Melchor Marín zu den interessantesten Aspekten dieses Romans. Seine Geschichte, seine Begeisterung für Literatur, insbesondere die des 19. Jahrhunderts und seine eigenen Brüche in der Biografie machen ihn zu einer Ermittlerfigur, von der man gerne noch mehr lesen würde. Und an dieser Stelle gibt es dann auch gute Nachrichten zu verkünden, da weitere Bände der Reihe bereits in Planung sind.

  • Javier Cercas – Auslöschung
  • Aus dem Spanischen von Susanne Lange
  • ISBN: 978-3-10-397070-8 (S. Fischer)
  • 428 Seiten. Preis: 24,00 €

Chan Ho-kei – Die zweite Schwester

Chan Ho-kei - Die zweite Schwester (Cover)

Etwas weiter weg führt der dritte Urlaubskrimi-Tipp, nämlich nach Japan. Dort, wo momentan die olympischen Spiele stattfinden, gibt es eine blühende Krimilandschaft zu entdecken. Asiatische Autor*innen wie Keigo Higashino, Fuminori Nakamura, Young-ha Kim, Hideo Yokohama oder Kanae Minato liefern immer wieder frische Impulse für das Genre. Und auch Chan Ho-kei passt sich ganz hervorragend in diese Reihe ein. Sein Krimi Das Auge von Hongkong war einerseits ein klassisches Detektiv-Porträt, andererseits auch eine präzise Nachzeichnung der Entwicklungen Hongkongs über die letzten Jahrzehnte. Und nun liefert der Atrium-Verlag Nachschub.

Diesmal erzählt Ho-kei von einem sexuellen Übergriff in der U-Bahn, dem sich eine junge Frau ausgesetzt sieht. Im Anschluss an die Verhaftung des Täters ergießt sich ein Shitstorm über die junge Frau, die unter dieser Last zusammenbricht und Selbstmord begeht. Ihre ältere Schwester will Vergeltung, als sich herausstellt, dass der Initiator des Shitstorms ein anonymer Aufwiegler ist, der die Anonymität des Internets virtuos nutzt. Sie tut sich mit dem Hacker N zusammen, um die Identität des Täters zu lüften.

Chan Ho-kei hat hier einen Roman geschrieben, der sich mit den Abgründen des Internets und unseren (digitalen) Identitäten auseinandersetzt. Ihm gelingt ein Krimi mit manchmal etwas eindimensionalen Figuren, der aber viele Twists und Überraschungen bereithält und über seine ganze Länge von immerhin knapp 600 Seiten immer wieder Abwechslung schafft. So leicht wie hier wird man Hongkong in nächster Zeit sicher nicht besuchen können!

  • Chan Ho-kei – Die zweite Schwester
  • Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
  • ISBN: 978-3-85535-111-4 (Atrium)
  • 592 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Chan Ho-Kei – Das Auge von Hongkong

War in den letzten Wochen von Hongkong die Rede, waren es alles andere als positive Schlagzeilen, die uns von dort erreichten. Die Sanktionen gegen die Demokratiebewegung. Die Verhaftungen bekannter Politaktivisten wie Jimmy Lei oder Joshua Wong. Die Besetzung der Polytechnischen Universität. Das Vorgehen der chinesischen Regierung, allen voran der Regierungschefin Carrie Lam, das die Proteste auslöste. Und die Erkenntnis, dass die Tage der Freiheit und Exklusivrechte für alle Hongkongchines*innen schon gezählt sind.

Diese aktuelle Episode ist allerdings nur ein Beispiel für die wechselvolle Geschichte Hongkongs. Chan Ho-Kei beleuchtet diese in in seinem Kriminalroman Das Auge von Hongkong auf formal ungewöhnliche Art und Weise.


Denn statt sich für eine durchgängige Geschichte zu entscheiden, erzählt Chan-ho Kei gleich sechs Fälle. Fälle, die in unterschiedlichen Jahrzehnten angesiedelt sind und sich von der Gegenwart in die Vergangenheit bewegen. Dreh- und Angelpunkt der Geschichten ist der Ermittler Inspector Kwan, auch genannt Das Auge von Hongkong. Seine deduktorischen Fähigkeiten sind legendär, schon in jungen Jahren erwarb sich der Ermittler einen Ruf wie Donnerhall. Wie es dazu kam, das erzählt uns der chinesische Autor Stück für Stück. Löst Kwan seinen letzten Fall rund um einen Harpunenmord noch auf dem Sterbebett, bekommt er es dann in jüngeren Jahren mit einem genau orchestrierten Überfall, verdächtigen Kollegen oder einer Erpressung zu tun.

Der Sherlock aus Hongkong

Der Vergleich zu Sherlock Holmes ist insofern gerechtfertigt, da wir als Leser oft mit den Polizeikollegen lange im Dunkeln tappen, ehe Kwan dann zur Verblüffung aller Beteiligten die Indizien zu einem schlüssigen und oftmals sehr überraschenden Schluss bringt. Doch nicht nur Kwan glänzt in diesem über 570 Seiten starken Episodenkrimi. Es gibt auch einen heimlichen Hauptdarsteller, nämlich Hongkong.

Chan-ho Kei siedelt seine Erzählungen in verschiedenen Distrikten an (die man dank der Karte im Vorsatz gut zuordnen kann); er erzählt vom kolonialen Erbe und den rasanten Veränderungen, denen die Stadt unterlag. So bekommt man einen guten Eindruck von der wechselvollen Historie Hongkongs, die sich in der Gegewart nur konsequent fortsetzt. Wer Das Auge von Hongkong gelesen hat, versteht auch aus der Distanz diese Stadt und ihre Bedeutung besser.

Die Verbindung aus Stadtgeschichte und Kriminalerzählungen gelingt Chan-ho Kei überzeugen. Und wenngleich die Übersetzung wie schon bei 64 von Hideo Yokoyama einen Umweg geht und statt aus der Originalsprache aus der englischen Übersetzung von Sabine Längsfeld ins Deutsche übertragen wurde, ist das Ergebnis durchaus stimmungsvoll.

Fazit

Möchte man die Geschichte Hongkongs etwas besser verstehen, ist man mit diesem Krimi gut beraten. Sucht man ein formal ungewöhnlichen Krimi, dann ist man mit diesem Buch ebenfalls gut beraten. Und möchte man mal wieder in guter alter Arthur Conan Doyle-Manier über Verbrechen und Verbrecher rätseln, auch dann ist dieses Buch eine wirkliche Empfehlung. Drei gute Gründe, um sich Das Auge von Hongkong von Chan Ho-Kei einmal näher anzusehen!


  • Chan Ho-Kei – Das Auge von Hongkong
  • Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
  • ISBN 978-3-85535-028-5 (Atrium)
  • 576 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen