Die Phrase vom „Buch der Stunde“ ist schon wirklich abgenutzt – im Fall von Dana Vowinckels Debütroman Gewässer im Ziplock trifft sie aber auf besonders eindringliche Art und Weise zu. Denn ihre Geschichte ist gerade inmitten unserer Tage von großer Wichtigkeit – und zeigt eine junge Autorin mit bemerkenswertem schriftstellerischem Talent.
Vater, Mutter, Kind. Die Grundkonstellation einer Familie. Im Fall von Gewässer im Ziplock ist sich diese Familie aber so fremd, wie die Schauplätzen dieses Familienromans weit voneinander entfernt sind. Denn während sich Margaritas Vater Avi als Kantor und Vorbeter seiner Synagoge in seiner Wohnung in Berlin aufhält, ist seine Tochter nach Chicago zu ihren Großeltern mütterlicherseits geflogen. Bei diesen verbringt sie die Sommermonate, flieht aber regelmäßig vor der familiären Enge und träumt sich eigentlich zu ihrer besten Freundin nach Berlin.
Und dann ist da auch noch Marsha, die Mutter von Margarita. Schon als diese noch ein Kleinkind war, verließ die Mutter die Familie und lebt nun in Jerusalem, wo sie in universitärem Auftrag linguistische Forschung betreibt, besonders unter dem Eindruck von Noah Chomskys Theorie der Universalgrammatik. Nach Jahren der Funkstille lädt sie nun Margarita ins Heilige Land ein, wo sie vor dem Schulbeginn mit ihrer Tochter Zeit verbringen möchte.
Trotz anfänglicher Widerstände fliegt die fünfzehnjährige Margarita von Chicago nach Jerusalem zu jener Frau, mit der sie eigentlich nichts verbindet und die sie so gut wie gar nicht kennt. Während sie mit ihrem Vater in regelmäßigen Austausch steht und auch während des Aufenthalts in Chicago häufig schrieb und mit ihm in Berlin telefonierte, ist Marsha für Margarita eine Leerstelle, die durch die ausbleibende Abholung Ritas am Flughafen von Jerusalem erst einmal alle Vorurteile über die Mutter, die ihr eigenes Kind verlassen hat, zu bestätigen scheint.
Zwischen Jerusalem, Berlin und Chicago
Während Marsha und ihre Tochter aber dann doch durch Israel reisen und ein Land zwischen Akko, Jaffa und Jerusalem entdecken, lernt auch Rita ihre Mutter besser kennen, ehe unvorhergesehene Ereignisse die ganze Familie im Heiligen Land wieder zusammenführen.
Im Kern ist Gewässer im Ziplock ein Familienroman, der sich auf seine kleine dreiköpfige Kernfamilie konzentriert und dabei sogar diese nicht einmal gleichwertig mit Perspektiven in den Blick nimmt. Denn während Dana Vowinckel abwechselnd aus der Sicht von Avi und seiner Tochter Rita erzählt, bleibt die Stelle der Mutter zunächst völlig außen vor. Erst nachdem diese ihre Tochter nach Israel einlädt, findet ihr Blick durch die Erzählung von Vater und Tochter in die Erzählung. Allmählich entsteht durch die drei Figuren das Bild einer Familie, bei der die Zersplitterung und das Auseinanderdriften zum Wesensmerkmal zählt.
So trifft Marsha im Gespräch mit ihrer Tochter auf Seite 328 folgende Diagnose: „Everything is falling apart“. Angesichts der Ereignisse zwischen Chicago, Jerusalem und Berlin sicherlich eine völlig zutreffende Diagnose. Die Frage, die sich im Anschluss nur stellt ist die, ob im Bezug auf diese so zerrissene Familie jemals alles Vorher zu einem Ganzen gefügt war.
Eine Familie und die Frage der jüdischen Identität
Liest man Dana Vowinckels Roman liest, dann ist man geneigt, diese Frage zu verneinen. Denn hier ist nur wenig ganz. Das Familienleben nicht wirklich intakt, die einzelnen Familienmitglieder zwischen neuer Romanze, erster Liebe, alter Schuld und Geheimnissen der eigenen Herkunft zerrissen – und auch die Frage der jüdischen Identität ist eine, die Vowinckels Figuren allesamt unterschiedlich beantworten und auf die sie ganz unterschiedlich blicken.
Er dachte an die Schreie. Er dachte an die Schmerzen.
Er dachte an die Gedenkveranstaltungen, bei denen die Hülle seines Körpers, nur getragen durch die Stimme, sang. Würde auch sein Herz singen, müsste ihm die Stimme versagen, vor dem Bundeskanzler, vor dem Bundespräsidenten, wenn sie vom „Schutz der jüdischen Mitbürger“ sprachen. Würde auch sein Herz zuhören, bräche er nicht in Gesang, sonder in hämisches Lachen aus. doch sein Herz hörte nicht, nicht einmal die Ohren hörten, was sie sagten, die immergleichen Anzüge, sie schalteten sich taub, er musste nur verstehen, was er hören wollte.
Juden, hörte er manchmal, aber nur, wenn es um die Toten ging. Die Lebenden waren jüdisch, so viel hatte er mittlerweile verstanden.
Nichts in Deutschland hatte sich geändert, alles in Deutschland hatte sich geändert.
Dana Vowinckel – Gewässer im Ziplock, S. 210
Hochaktuell und politisch
Gewässer im Ziplock ist ein hochaktueller und politischer Roman, der traurigerweise mitten hinein in unsere Gegenwart zielt, in der jüdisches Leben abermals nicht wirklich sicher scheint und in der die Politik trotz aller Rituale und formelhaften Bekenntnissen – wie am vorgestrigen 9. November wieder einmal vorgetragen – merkwürdig hilf- und tatenlos erscheint.
Während in Berlin und an so vielen anderen Stellen in unserem Land hasserfüllte Parolen gebrüllt werden und der Antisemitismus wieder unverhüllt zutagetritt, an Türen von jüdischen Mitbewohner*innen der Davidstern prangt, müssen jüdische Zeitungen anonymisiert ausgeliefert werden und Jüd*innen mit Kippa auf dem Kopf auf der Straße Beschimpfungen und Attacken erleiden.
Dana Vowinckel zeigt das Kontinuum dieses Antisemitismus beeindruckend und erzählt von schnell wieder verdrängten Episoden wie dem Terrorangriff in Halle auf eine Synagoge, die in der Öffentlichkeit schon gar nicht mehr diskutiert werden, geschweige denn, dass man Lehren aus solchen Vorfällen gezogen hätte.
Wie umgehen mit der eigenen jüdischen Identität, wie leben im Jahr 2023 mit dem Wissen um das Leid und die Verluste des eigenen Volks? Das thematisiert Gewässer im Ziplock ebenso überzeugend, wie Dana Vowinckel von jüdischem Leben hierzulande erzählt und damit in unseren Tagen so wichtige Arbeit für Verständigung und die Sichtbarkeit anderer Lebenswelten leistet.
Beeindruckende literarische Flughöhe
Ihr gelingt ein Roman über Familie, jüdische Identität und die Findung eines eigenen Umgangs mit dem familiären Erbe, der auf einer beeindruckenden literarischen Flughöhe unterwegs ist. Spielend leicht übertrumpft Dana Vowinckel mit diesem Debüt literarische Wegmarken wie Yasmina Reza, deren Auseinandersetzung mit jüdischem Leben namens Serge weit hinter diesem Roman zurückbleibt.
Souverän gelingt es Vowinckel, die beiden unterschiedlichen Erzählperspektive von Vater und Tochter einzunehmen und deren Wahrnehmungen und Gedanken dieser nicht nur durch den Altersunterschied getrennten Figuren glaubhaft zu Papier zu bringen. Sie schafft sogar die Herkulesaufgabe, angemessen und figurenpsychologisch stimmig austariert vom Besuch in Yad Vashem zu erzählen. Ein Balanceakte, der ihre ebenso wie der Rest dieses formidablen Buchs großartig gelingt.
Fazit
Man kann sich dieser Tage bei der Lektüre leider nicht freimachen vom Hintergrundrauschen der antisemitischen Exzesse, die ausgelöst vom Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober hierzulande um sich greifen. Liest man Vowinckels Debüt, dann schlägt einem die diagnostischen Schärfe entgegen, die zeigt Vorbehalte gegen Jüd*innen, die alles andere als neu sind. Diese Hellsichtigkeit und leider so große Aktualität paart sich im Falle von Gewässer im Ziplock mit souveräner Figurenführung und überzeugenden literarischem Talent, was diesen modernen Familienroman zu einer großen Empfehlung macht. Besonders jetzt, aber natürlich auch darüberhinaus. Ein außergewöhnliches und in diesen Tagen schmerzhaft aktuelles Debüt!
- Dana Vowinckel – Gewässer im Ziplock
- ISBN 978-3-518-47360-3 (Suhrkamp)
- 362 Seiten. Preis: 23,00 €