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Mary Shelley – Frankenstein

Ein Sommer ohne Sonne im Jahr 1816, eine Fünferbande in einer Villa am Genfer See – und ein Dichterwettstreit, aus dem einer der wirkmächtigsten Schauer- oder besser Science Fiction-Romane aller Zeiten hervorgeht. Das ist Frankenstein von Mary Shelley, der literarische Urvater aller mahnenden Technikgläubigkeit – und zudem ein grandioser Roman über die Einsamkeit.


Es war ein Sommer, wie ihn sich sicherlich keiner der fünf Anwesenden in der Villa Diodati vorgestellt hatte. Denn statt Baden und Ausflügen am nahegelegenen Genfer See musste man den Großteil der Zeit im Anwesen selbst verbringen. Schuld war ein Vulkan namens Tambora, der ein Jahr zuvor auf der indonesischen Insel Sumbawa ausgebrochen war – mit Auswirkungen, die auf der ganzen Welt zu spüren waren. Ernten verdorrten, Kälte und Schnee dominierten, Menschen machten sich auf die Flucht vor dem Wetter und das sogenannte „Auswandererfieber“ befiel Menschen rund um den Globus.

Viele Ereignisse, die uns heute als Ergebnis der Klimakatastrophe begleiten, zeigten sich auch in diesem Sommer. Durch einige Stadtteile von Genf konnte man sich nur noch per Boot bewegen. In England sorgten Proteste ob der hohen Getreide- und folglich auch Brotpreise für ein neues Klassenbewusstsein und die Ausbildung der Arbeiterschicht. Und Goethe klagte ob des Wetters, das ihm in einem Gedicht vom 6. Juni 1816 zur Chiffre wurde, um den Tod zu seiner Frau Christiane zu verarbeiten. Dort heißt es: „Du versuchst, o Sonne, vergebens, / Durch die düstren Wolken zu scheinen! / Der ganze Gewinn meines Lebens / ist, ihren Verlust zu beweinen.“

Extremwetter am Genfer See 1816

Auch Mary Shelley, damals noch Mary Godwin, beobachtete das extreme Wetter und hielt in ihrem Tagebuch folgende Notizen fest:

Unglücklicherweise können wir uns nicht an jenem strahlenden Himmel erfreuen, der uns bei unserem ersten Besuch dieses Landes so freudig begrüßte. Beinahe unablässiger Regen bringt uns dazu, hauptsächlich zu Hause zu bleiben […]. Die Gewitterstürme, die uns heimsuchen, sind grandioser und furchterregender, als ich es je erlebt habe. Wir sehen, wie sie von der anderen Seite des Sees herannahen, beobachten die Blitze, die in verschiedenen Himmelsregionen zwischen den Wolken tanzen und in den zerklüfteten Formationen auf bewaldeten Anhöhen des Jura einschlagen, verdunkelt von drohenden schwebenden Wolken […].

Zitiert nach: Wolfgang Behringer: Tambora und das Jahr ohne Sommer, C. H. Beck 2018

Die Zeit vertrieben sich die Gäste der Villa Diodati, darunter neben Mary Shelley auch der berühmte Dichter Lord Byron und Percy Bysshe Shelley, der spätere Ehemann Marys, mit der Erzählung von Schauermärchen. Ein Dichterwettstreit, den die junge Mary gewinnen sollte, die im Alter von gerade einmal 19 Jahren jenes Werk namens Frankenstein schaffen sollte, das bis heute die Zeit überdauert, vielfach verfilmt und in unserer Zeit des technischen Fortschritts in seiner prophetischen Prägnanz geradezu bestechend.

Schauergeschichten unter Freunden

Liest man die Zeilen aus dem Tagebuch Mary Shelleys, dann fällt die hohe Kongruenz mit Stimmung und Motiven auf, die auch ihr 1818 zunächst anonym publiziertes Werk durchdringen.

Mary Shelley - Frankenstein (Cover)

Vor allem der Blitz ist es, der immer wieder auftaucht und dem jungen Victor Frankenstein in Form eines zerstörten Baumes erstmals eine Ahnung davon gibt, welche Macht in der Elektrizität steckt. Denn zuvor war der Blitz in den Baum in den Schweizer Alpen eingeschlagen – für den jungen nach Forschung dürstenden Mann eine erste Ahnung davon, welche Kraft in der Natur steckt, wenn sie entfesselt wird.

Später wird er in Ingolstadt an der Universität so vom wissensdurstigen Leser der Schriften von Albertus Magnus und anderer alter Denker zum Praktiker. Aus Leichenteilen wird er das Monster schaffen, das er einem Golem gleich zum Leben erweckt, dann aber im Moment des Erkennens vor seinem eigenen Werk flieht.

Dieser bekannte Kern der Erzählung wird aber von einem ebenso komplexen wie durchdachten Romangerüst ummantelt. Denn Shelleys Roman setzt an einem unerwarteten Ort ein, nämlich an Bord eines Expeditionsschiffs, das unterwegs ins ewige Eis ist. Von dort berichtet ein Polarforscher in Briefen von seiner Einsamkeit, die durch die Begegnung mit einem übergroßen Wesen im Eis und wenig später der Begegnung mit einem erschöpften Mann im ewigen Eis einsetzt. Dieser entpuppt sich als Viktor Frankenstein, der dann zur Erzählung seiner Lebensgeschichte anhebt, die von dessen Aufwachsen in der Schweiz, seinem Erkenntnisdurst, dem Studium in Ingolstadt und den Folgen seiner Tat erzählt, die ihn nun an diesen Ort im Eis geführt haben.

Ein Roman mit Matroschka-Struktur

Als letzte Schicht dieser Roman-Matroschka ist es das von Frankenstein erschaffene Monster, das in Frankensteins Erzählung wiederum von seinem Leben nach seiner Erweckung erzählt. Es beschreibt seine sich ausprägenden Sinne, sein Wahrnehmen und wird schließlich auch zur Offenbarung seines größten Leids, nämlich seiner Einsamkeit, der der Wunsch erwächst, Frankenstein möge ihm eine Partnerin schaffen, auf dass er sich mit dieser der Welt entziehen möge.

Immer wieder taucht in den drei miteinander verbundenen Erzählungen die Einsamkeit auf, die von menschenleeren Schauplätzen wie den Schweizer Alpen oder dem ewigen Eis bis hin zur Erkenntnis der Figuren selbst reicht, die sich nach Gefährt*innen und Partnerinnen verzehren. Eindrücklich versteht es Mary Shelley, in ihrem Roman diese große Unbehaustheit und die Sehnsucht nach Austausch und Begegnung zu schildern.

Klug montiert fügen sich die Bilder ineinander und verweisen immer aufeinander. Für eine neunzehnjährige Frau zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine bewundernswerte Leistung – die sich allerdings auch durch einen Blick in die Vita von Mary Shelley alias Mary Godwin plausibilisieren lässt. Denn obschon sehr jung, hatte sie im Jahr zuvor ein Kind geboren, das allerdings kurz nach der Geburt starb. Diese Verzweiflung und der unbedingte Wunsch, die Kräfte der Natur zu beeinflussen, findet sich auf allen Seiten dieses Romans.

Ein zusammengestückeltes Monster – und zusammengestückelte Motive

Wie die im Roman beschriebene Figur des zusammengestückelten Monsters ist auch dieser Roman dabei selbst Amalgam. Die biblische Schöpfungsgeschichte um Adam und Eva, die Sage des Golem, griechische Mythenwelt und Goethes Faust sind Motive, sie sich allesamt in Shelleys Roman wiederfinden. Und ebenso wie das aus seinen unterschiedlichen Teilen erschaffene Monster lebendig wird und ein Bewusstsein entwickelt, so gilt das auch für Shelleys Text, der aus Vorhandenem etwas ganz Neues schafft, das in seiner Beschreibungskraft und diagnostischen Schärfe bis heute seine Wirkung entfaltet.

Denn der Versuch des Menschen, mithilfe von Technik die Natur zu überwinden und Neues zu schaffen, das sich dann allerdings nicht mehr kontrollieren lässt, ist seit der industriellen Revolution ein Zeichen der Moderne. Egal ob Atombombe, Gentechnik oder nun die KI – stets ist der Mensch bestrebt, einen Schritt weiterzugehen, alles Menschenmögliche zu versuchen und wird – noch einmal mit Goethe gesprochen – die Geister, die er rief, nicht mehr los.

Dies macht aus Frankenstein eine Lektüre, die sowohl thematisch als auch literarische immer noch ihren Reiz entfaltet und der das Kunststück gelingt, trotz des Alters von 200 Jahren, scheinbar nicht zu altern, sondern immer aktueller und relevanter zu werden. Das alles macht diesen Roman zu einem Klassiker, dem auch heute noch möglichst viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind.


  • Mary Shelley – Frankenstein oder Der moderne Prometheus
  • Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe
  • Mit einem Nachwort von Christian Grawe
  • ISBN 978-3-15-020516-7 (Reclam)
  • 344 Seiten. Preis: 10,00 €
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Bram Stoker – Dracula

Sucht man wirkmächtige Romane, die nach ihrem Erscheinen ganze Genre begründet haben, dann kommt man an diesem Buch nicht vorbei: Dracula von Bram Stoker. Mit diesem Roman wurde Stoker zum einem der Urväter des Vampirromans und beeinflusst bis heute Autorin*innen, Filmemacher, Serienschöpfer und andere Kreative. Transsilvanien, Grusel, Blut und eine handvoll Verbündeter gegen Graf Dracula. Und dazu noch eine interessante Montagetechnik – das alles bietet Bram Stokers Roman.

Bram Stoker - Dracula (Cover)

Dass Bram Stokers Buch 1897 erschien und somit schon über 120 Jahre auf dem Buckel hat, das merkt man dem Buch nicht an. Die Geschichte rund um Jonathan Harker und seine Mina, den unheimlichen Graf Dracula mit seiner bleichen Gestalt und den roten Augen sowie den Kampf Professor van Helsings gegen Dracula und seine Verbündeten weiß auch heute noch mit Tempo und erzählerischer Dynamik zu überzeugen.

Um die Geschichte zu erzählen, die mit einer Reise Jonathan Harkers nach Transsilvanien ihren Ausgang nimmt, wählt Stoker eine Montagetechnik aus Tagebucheinträgen und Zeitungsberichten. So lässt er immer wieder in Tagebüchern seine Hauptfiguren zu Wort kommen, die aus verschiedenen Perspektiven das Geschehen beleuchten. Jonathan Harker erzählt, wie er dort in Transsilvanien Graf Dracula beraten will, dann aber in einen Albtraum gerät. Währenddessen verbringt Mina Harker mit ihrer Freundin Lucy einen Urlaub an der englischen Küste. Dort gerät Lucy nach dem Eintreffen eines Geisterschiffs in den Bann einer alten Macht, die sie zusehends schwächt.

Eine Handvoll Verbündeter gegen Dracula

Weitere Elemente finden dann in Gestalt von Professor Abraham van Helsing und Doktor John Seward in die Erzählung. Letzter berichtet in seinem Diarium von einem Insassen seiner Psychatrie namens Renfield. Dieser scheint von einer dunklen Macht besessen, verzehrt Fliegen und erscheint psychisch höchst labil. Zwischen Renfield, dem Geschehen in Transsilvanien und in England stellt schließlich der niederländische Forscher van Helsing eine Verbindung her.

Er bringt Seward, die Harkers und weitere Verbündete auf die Spur des Vampirismus. Dass es sich bei diesem um alles andere als eine Legende zu handeln scheint, das müssen die Verbündeten schnell feststellen. In London kommt es zu einer Serie von Überfällen auf Kinder. Und Dracula scheint dort vor Ort seine Präsenz zu verstärken. Können sie ihm etwas entgegensetzen?

Was nach billigem Klatsch und Kolportage klingt, wird bei Bram Stoker tatsächlich zu einem fesselnden Roman, der sich auch nach über 120 Jahren noch gruselig, spannend und mitreißend liest. Das liegt in der Erzähltechnik begründet, die die spätere Schnitt- und Gegenperspektive des Kinos vorwegnimmt. Ständig ereignen sich neue Dinge, bei denen wir als Leser*innen Verbindungen ahnen, die Protagonist*innen hingegen müssen diese erst entschlüsseln und herstellen. Mit dem Vampir Dracula gelingt Stoker ein scheinbar übermächtiger Gegner, der die gemeinsame Aktion aller Verbündeten erfordert. Dieser Kampf gegen das Böse ist mit einem bemerkenswerten Gespür für Tempowechsel, Überraschungen und Erzähltaktung geschildert. Dadurch bekommt das Buch etwas hastisch-cineastisches, dass das Buch auch heute noch wie einen aktuellen Thriller wirken lässt.

Auch heute noch aktuell und hervorragend lesbar

Abgesehen von ärgerlichen antisemitischen Klischees in einer Passage des Buchs kann ich als Leser dieses Buch auch heute noch uneingeschränkt weiterempfehlen. Besonders schön die neue Aufmachung des Vampir-Schmökers, der in der aufgepeppten Lieblingsklassiker-Edition des Reclam-Verlags erschienen ist. Neben einer schönen äußeren Gestaltung mit abgestimmten Vorsatzpapier und gelungenem Cover überzeugen auch die inneren Werte. So klingt die Übersetzung von Ulrich Bossier auch im Deutsch zumeist rund. Und ein Nachwort von Elmar Schenkl rundet das Buch an. Ein Nachwort, in dem er eine Linie vom dichterische Aufeinandertreffen Mary Shelleys, John Polidori und Lord Byron im Jahr 1816 über Bram Stoker bis hin zu Stephenie Meyers „Biss“-Romanen der Gegenwart zieht.

Eine runde Sache, diese Neuauflage eines Buchs, das wie seine behandelte Figur des Dracula nicht totzukriegen ist. Hiermit von mir ausdrücklich empfohlen!


  • Bram Stoker – Dracula
  • Übersetzt von Ulrich Bossier
  • Mit einem Nachwort von Elmar Schenkl
  • ISBN: ISBN: 978-3-15-020352-1 (Reclam)
  • 608 Seiten. Preis: 12,00 €

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Erich Kästner – Drei Männer im Schnee

#klassikerlesen

Es ist Winter, man hat Zeit. Was passt da besser, als einen echten Klassiker zu lesen? Das habe ich mir gedacht und mir endlich einmal Erich Kästners Roman Drei Männer im Schnee vorgenommen. Ein Buch, das viel Nostalgie versprüht und in einer neuen Ausgabe erstaunliche Entdeckungen bereithält.


Die Bearbeitungen des Stoffs von Drei Männer im Schnee ist vielfältig. So gibt es unter anderem österreichische, schwedische und deutsche Verfilmungen des Buchs. In letztem Fall existieren sogar zwei verschiedene Versionen. Eine Verfilmung stammt aus dem Jahr 1955, die andere aus dem Jahr 1974. In dieser wirkten Größen wie Ingrid Steeger, Elisabeth Volkmann und Thomas Fritsch mit.

Einen großen Erfolg feierte auch die Uraufführung der gleichnamigen Revueoperette am Gärtnerplatztheater in München im Januar diesen Jahres. Für das Theater wurde der Stoff vom Chansonnier Thomas Pigor vertont und in die Form einer Operette gegossen. Eine solche Umarbeitung des Stoffs hatte Erich Kästner immer vorgeschwebt. Doch zu einer Umsetzung sollte es zu Lebzeiten Kästners nicht kommen. Erst 45 Jahre später war es schließlich soweit. In Kästners letzter Heimatstadt kam das Werk zur Aufführung.

Kästner als Operette im Gärtnerplatztheater München

Dass eine Umarbeitung als Operette Sinn ergibt, das steht außer Frage. Denn Kästners Roman ist voll von Verwechslungen und Humor und bewahrt stets eine schmunzlige Leichtigkeit – eben all das, wofür auch die Operette bekannt ist (und wofür sie natürlich auch stets gescholten wird). Und ja – natürlich ist es die leichte Muse, der Kästner mit seinem Werk huldigt. Doch das Werk als eine reine Lustspielnummer abzutun, das täte dem Werk und seinem Schöpfer unrecht. Denn Kästner ist hier als ein hochinteressanter Autor zu entdecken, dessen Humor manchmal auch nur Fassade ist, der die darunterliegenden Schichten und Bedeutungsebenen verhüllt.

Diese Vielschichtigkeit im Werk Kästners wird durch die vorliegende neue Ausgabe des Atrium-Verlags wieder offenbar. Denn der Geschichte ist neben einem Nachwort auch die kurze Erzählung Inferno im Hotel beigefügt. Und diese zeigt eine ganz andere Version der Hotel-Komödie, als die, von der man zuvor 200 Seiten lang unterhalten wurde.

Zwei Seiten einer Geschichte

Vielleicht sollte man mit dieser beigefügten Geschichte beginnen. Denn sie erlaubt einen völlig anderen Blick auf den zuvor so heiter wirkenden Stoff. Unverhofft gewinnt ein Mann der Arbeiterklasse einen Aufenthalt in einem Hotel. Doch aufgrund seiner Klasse und seinen fehlenden sozialen Kompetenzen (Speisenverzehr mit Messer und Gabel, mangelnde Etikette, etc.) wird er von den anderen Gästen und dem Hotelpersonal systematisch drangsaliert und gemobbt. Obwohl Kästner selbst den dramatischen Ausgang dieser Erzählung einst noch abänderte, ist sie in der vorliegenden Ausgabe in ihrer ganzen Härte und Unbarmherzigkeit zu lesen. Diese Erzählung erinnert stark an die Phase des Naturalismus und zeigt einen ganz anderen Kästner, als man diesen landläufig kennt. Inferno im Hotel ist mehr Theodor Storms Doppelgänger oder Hauptmanns Bahnwärter Thiel, denn Emil und die Detektive.

Erich Kästner - Drei Männer im Schnee (Cover)

Dass aus diesem Lehrstück in Sachen Stigmatisierung und sozialer Determination dann ein komplett gegenläufiges Stück wurde, das nötigt mir Respekt ab. Denn Drei Männer im Schnee weist einen wirklich völlig konträren Tonfall auf. Statt als Kulisse für ein naturalistisches/soziales Drama zu dienen, wird der Hotelaufenthalt im Roman dann zum Auslöser einer wahren Revue an Verwechslungen und Chaos.

Diese nimmt im Wunsch des Millionärs Tobler ihren Anfang, einmal inkognito als armer Mann in ein Hotel zu reisen. Aufhänger ist ein Preisausschreiben seiner eigenen Putzblank-Werke, bei dem er unter Pseudonym den zweiten Platz belegt. Der Gewinn ist ein Aufenthalt in einem Grandhotel im alpinen Bruckbeuren. Doch nicht nur er reist ins Hotel, auch der Gewinner des Ausschreibens begibt sich dorthin. Bei ihm handelt es sich um einen arbeitslosen Werbefachmann mit dem Namen Dr. Fritz Hagedorn. Neben diesen beiden Männern reist auch noch Toblers Diener Johann an. Er soll seinem Chef Tobler zur Seite stehen. Als Tarnung mimt er einen reichen Reeder.

Eine klassische Verwechslungskomödie – und mehr

So viel zur Ausgangslage. Durch eine Verwechslung wird nun allerdings der arbeitslose Hagedorn vor Ort in Bruckbeuren für den verkleideten Millionär gehalten. Und umgekehrt. Ein Reigen aus Situationskomik, Chaos und – natürlich – auch der Liebe entspinnt sich, der manchmal wie eine leichte Hommage von Shakespeares Viel Lärm um Nichts erinnert. Da werden Maskenbälle gegeben, Toblers Diener muss einen Skikurs absolvieren und im Hotelgarten wird ein Schneemann namens Kasimir errichtet. All das wird in einem leicht antiquierten Ton erzählt, als man noch exaltiert Dinge wie „Ach du grüne Neune“ ausrief oder Person of Colors mit dem N*-Wort bezeichnete. Darüber kann man wahlweise schmunzeln oder irritiert sein. Das Alter merkt man Kästners Werk in sprachlicher Hinsicht natürlich an. Aber die Sprache ist es ja auch, die den nostalgischen Reiz des Buchs zu einem großen Teil ausmacht.

Man kann Kästners Buch als leichte winterliche Komödie der Irrungen und Wirrungen lesen. Man kann aber auch eine soziale Satire in dem Buch entdecken, die um die Frage kreist, welche sozialen Folgen die Kategorisierung als reicher oder als armer Mensch hat. So habe ich eine durchaus sozialkritische Note auch im aus dem Inferno im Hotel entstandenen Text entdeckt. Zudem bemerkenswert, dass diese Leichtigkeit dem tatsächlichen Entstehen entgegensteht. Denn Kästner konnte den Text nur unter Pseudonym 1934 veröffentlichen. Seit der Machtergreifung der Nazis und der Bücherverbrennung seiner Werke war der Autor mit Schreibverbot belegt und konnte nur heimlich publizieren. Dies tat er im vorliegenden Fall unter dem Pseudonym Robert Neuner.

Die sozialkritischen Untertöne und das schriftstellerische Vermögen, aus einer Ausgangssituation zwei völlig unterschiedliche Erzählungen zu kreieren, das nötigt mir wirklich Respekt ab. Mithilfe dieser neuen Ausgabe aus dem Atrium-Verlag ist ein Kästner zu entdecken, der bei aller Operettenseligkeit und Nostalgie fast zu verschwinden drohte. Schön, dass er sich hier wiederentdecken lässt. Ein lohnender Fall von #klassikerlesen.


  • Erich Kästner – Drei Männer im Schnee
  • ISBN 978-3-03882-016-1 (Atrium)
  • 240 Seiten. Preis: 12,00 €

Bildrechte Operette „Drei Männer im Schnee“: © Christian POGO Zach

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