Es gibt Buchtitel, die in ihrer deutschen Übersetzung stärker werden. Erschütterung von Percival Everett wäre so ein Fall, ist der Titel doch deutlich vielgestaltiger lesbar als das schlichte Telephone im Original. Und es gibt Titel, die auf dem Weg ins Deutsche an Nuancenreichtum verlieren. Zu letzter Kategorie zählt leider Hernan Diaz Roman Treue, der im Original den doppeldeutigen Titel Trust trägt und damit natürlich auf das Vertrauen und die Ehrlichkeit anspielt. Ebenso bringt das Wort aber auch einen ökonomischen Aspekt ins Spiel, ließe sich doch Trust auch als Treuhand oder Treuhandverwaltung übersetzen.
Auch wenn in der beim Hanser-Verlag erschienen Ausgabe ein Geldbündel auf dem Cover prangt, so lässt sich das Wortspiel doch nicht adäquat auffangen und geht auf dem Übersetzungsweg einmal quer über den Atlantik verloren. Das ist bedauerlich, denn neben der Treue und dem zwischenmenschlichen Miteinander hat Hernan Diaz vor allem einen Ökonomie-Roman in vier Teilen geschrieben, der sowohl Ökonomie im Erzählen als auch Ökonomie im Sinne von wirtschaftlichem Aufstieg beleuchtet und der dabei raffiniert gebaut ist.
Alles beginnt ganz klassisch, wie ein Roman ebenso beginnt. Wir lernen die Lebensgeschichte des Benjamin Rask kennen, die mit folgenden Worten anhebt:
Da er von Geburt an annähernd jeden erdenklichen Vorteil genossen hatte, blieb Benjamin Rask als eines von wenigen das Privileg eines heldenhaften Aufstieges versagt: Seine Geschichte war keine zäher Hartnäckigkeit, keine Chronik eines unbezwinglichen Willens, der sich aus wenig mehr als altem Blech ein goldenes Schicksal schmiedeten.
Hernan Diaz – Treue. S. 15
Ein bisschen was ist allerdings wirklich anders an dieser Geschichte. Denn diese Aufstiegserzählung, die in Anlehnung an die Erzähltradition des Realismus die Entwicklung von Benjamin Rask hin zu einem der reichsten Männer der Welt schildert, sie ist keine Erzählung des Autors Hernan Diaz. Es ist vielmehr ein Autor namens Harold Vanner, der hier zwischengeschaltet ist und der uns diese Geschichte vom Aufstieg Rasks, dem Siegeszug des kapitalistischen Denkens und von einem großen Verlust erzählt.
Ökonomischer Aufstieg und Verlust
Diesem Roman folgt ein zweiter Teil, der erstaunliche Berührungspunkte mit dem zuvor Gelesenen aufweist. Hier ist es allerdings kein Autor, der eine Geschichte schreibt, vielmehr handelt es sich um die Memoiren von Andrew Bevel, der „Mein Leben“ schildert. Diese Memoiren sind aber eher Manuskript denn fertige Erinnerungen. Immer wieder finden sich Lücken und Anmerkungen im Text, der den Aufstieg Bevels nachzeichnet. Inhaltlich kreisen die Memoiren um seinen Aufstieg, bei dem er sich virtuos an der Börse von Million zu Million spekuliert hat.
Die rätselhafte Kongruenz zwischen Roman und Autobiographie erklärt dann der dritte Teil des Romans, in dem wir Ida Partenza kennenlernen, die im New York der 20er Jahre eigentlich als Sekretärin arbeitet. Während Wolkenkratzer in den Himmel schießen, greifen anti-italienische Ressentiments um sich (ähnlich wie bei Eduardo Lago spielt auch hier der Prozess gegen Sacco und Vanzetti eine Rolle).
Die Kommunisten führen Kämpfe gegen den zügellosen Kapitalismus – und inmitten dieser Konflikte findet sich Ida wieder, die als Tochter eines italienischen Anarchisten ausgerechnet bei jenem aus dem zweiten Teil bekannten Milliardär Andrew Bevel Anstellungen findet. Für ihn soll sie dessen Memoiren in Form bringen und aufschreiben. Dieses Vorhaben ist allerdings ein besonderes, denn Bevel will in den Memoiren auch das Leben seiner Frau ins Licht der Öffentlichkeit bringen, deren Ruf er mit dem Projekt aufzupolieren verhofft.
Bei ihrer Arbeit kommt Ida so mit der Lebensgeschichte von Bevels Frau in Berührung, deren Aufzeichnungen den vierten und letzten Teil des Buchs bilden und die damit gewissermaßen die Klammer um die drei vorgehenden Teile formt.
Ein Roman in vier Teilen mit verbindendem Kern
Alle Teile verbindet, dass sie im Kern die Lebensgeschichte von Andrew Bevel, dessen Aufstieg durch Spekulationsgeschäfte und die Verbindung zu seiner Frau Mildred erzählen. Ob in fiktionalisierter Form oder durch Erinnerungen – stets wird titelgemäß die Treue und Ehrlichkeit der beiden verhandelt. Dabei erzählt Hernan Diaz mit einem Binnenblick auf das Miteinander, lässt beide Partner ihre jeweiligen Perspektiven schildern. Daneben ist die Treue und Ehrlichkeit aber auch eine Frage der Öffentlichkeit und des Blicks von außen. Denn notgedrungen muss sich das Paar auch in der Öffentlichkeit zeigen, besonders nachdem die gewinnbringende Ausschlachtung von Börsencrashs durch Bevel zu Gerede führt.
Während sich der Kapitalist aus der Öffentlichkeit zurückzieht, unleidlich nur das notwendigste Pflichtprogramm in Sachen sozialer Repräsentation erfüllt, findet seine Gattin in der Philantropie Erfüllung, die sie immer ausgeprägter verfolgt. Doch stimmt das wirklich? Ist diesen Schilderungen zu trauen, besonders wenn sie von einem Mann kommen, für den die eigene Perspektive gleichbedeutend mit der Wahrheit ist, die er seiner Biografin in den Block diktieren will?
Hier verhandelt Hernan Diaz auch den Trust, als Vertrauen mit der Darstellungen des eigenen Ich, wenn für Bevel nur das eigene Erleben die Richtschnur für richtiges Erinnern darstellt.
Wer hat nun recht mit seinem Blick auf das Geschehene oder welche Perspektive ist die Richtige? Die des kapitalistischen Wunderkinds und Börsengurus, die seiner Frau, die der Biografin oder gar die des spekulativen Romanautors? Oder liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen, zwischen ihm und ihr, zwischen Fakten und Fiktion? Diese Überlegungen machen aus Treue eine nachdenkenswerte Lektüre, die durch die raffinierte Montage der vier Teile Raum für eigene Bewertungen eröffnet.
Aber es ist nicht nur eine Geschichte der unterschiedlichen Blickwinkel, die ihr Blick auf Kapitalismus und Ökonomie eint. Es ist auch ein Roman, der die Erzählökonomie eindrucksvoll in den Mittelpunkt stellt.
Erzählökonomie par excellence
Denn wie oben schon beschrieben weist Hernan Diaz‘ Buch ja vier Teile mit völlig unterschiedlichen Geschichten in unterschiedlichen Stilen auf. Betrachtet man dazu die Länge von 411 Seiten, bleiben ja gerade einmal durchschnittlich gut einhundert Seiten für jede der Geschichte. Folglich muss natürlich die Frage gestellt werden, ob es Diaz gelingt, trotz dieser Länge überzeugende Episoden zu kreieren, die in der Kürze funktionieren.
Hier muss ich konstatieren: ja, in meinen Augen geht das Erzählkonzept auf und Diaz gelingt es, auch nur mit hundert Seiten gute Geschichten zu erzählen, die sich sinnreich untereinander verbinden. Im ersten Teil sind es 120 Seiten, die er braucht, um einen Entwicklungsroman in Erzähltradition des Realismus zu erzählen. Wo die (im Buch auch als Verweis auftauchenden) Klassiker, etwa von Henry James hunderte von Seiten für eine Erzählung von Aufstieg und Niedergang benötigen, schafft es Hernan Diaz hier auch mit guten 120 Seiten, eine ähnlich anmutende Erzählung zu kreieren, die sich trotzdem Zeit nimmt und bei der man nicht das Gefühl von zu sparsamen Erzählen bekommt.
Und auch die anderen Geschichten konzentrieren sich auf das Entscheidende, legen den jeweiligen Episodenkern offen, ohne dabei aufgebläht oder viel zu skizziert zu wirken (außer an Stellen wie Andrew Bevels Memoirenmanuskript, wo dies natürlich erwünscht ist). Eben Erzählökonomie par excellence.
Fazit
Das Ganze ist größer als die Summe aller Teile. Diese Binsenweisheit erfüllt sich bei Treue von Hernan Diaz einmal mehr. Obschon vielleicht der erste Blick ins Inhaltsverzeichnis einen Eindruck von disparat Geschichten oder einer Kurzgeschichtensammlung entstehen lassen könnte, ergibt sich über jede einzelne Episode hinweg ein Bild von zügellosem Kapitalismus, von Dagobert Duck-haftem Streben nach Mehr, aber eben auch von Leid und Verlust.
Gerade im Zusammenwirken der so unterschiedlichen Erzählansätze ergeben sich interessante die Brüche und Leerstellen, die Fragen bezüglich der Ehrlichkeit mit den Lesenden, der Inszenierung des eigenen Ichs und der Verlässlichkeit von geschilderten Lebenswegen aufwerfen. Das macht aus Treue in meinen Augen eine spannende, diskussionswürdige und außergewöhnliche Lektüre, die deutlich mehr anbietet, als nur eine platte Schilderung des Strebens nach ökonomischen Erfolgen zu sein. Dass es Diaz damit auf die Longlist des diesjährigen Booker Prize geschafft hat, erscheint mir nur konsequent.
- Hernan Diaz – Treue
- Aus dem Englischen von Hannes Stein
- ISBN 978-3-446-27375-7 (Hanser)
- 416 Seiten. Preis: 27,00 €