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Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus

Verträgt sich der Kapitalismus mit Umweltschutz und den Anforderungen an eine grüne Zukunft? Ulrike Herrmann meint nein und spricht sich in ihrem neuen Sachbuch für Das Ende des Kapitalismus aus und setzt statt auf neue Technologien auf Grünes Schrumpfen und die britische Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs.


Es könnte doch so einfach sein, wenn man einigen Debatten gerade nach dem Ende der Gaslieferungen aus Russland verfolgte. Wir müssen rasch die erneuerbaren Energien ausbauen, ein paar Leitungen aus dem windstarken Norden in den Süden ziehen, den Umstieg der Verbrenner auf E-Autos vorantreiben, ein paar CO²-Emissionen einsparen, Wärmepumpen hinters Haus – und dann wird das schon etwas werden mit der Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens und einer grünen Zukunft. So einfach kann es sein, schenkt man einigen Stimmen dieser Tage Glauben.

Kann es eben nicht, wie Ulrike Herrmann in ihrem Buch Das Ende des Kapitalismus behauptet. Denn um unseren Kindern eine wirklich ein einigermaßen lebenswerte Erde zu hinterlassen, braucht es weitaus radikalere Ansätze als ein Windrad vor der Haustür oder einen Solarpanel auf dem Dach. Denn eine ökologisch verträgliche Zukunft und Kapitalismus, das geht nicht zusammen. Vielmehr braucht es ein Ende des Kapitalismus und sogenanntes Grünes Schrumpfen, um auf dieser Erde den Ansatz einer Chance zu haben, unsere Umwelt und damit uns zu retten. Ein Vorbild für einen solchen Ansatz findet sie in der britischen Kriegswirtschaft

Eine Geschichte des Kapitalismus

Doch zunächst beginnt Ulrike Herrmann ihr Buch mit einer Geschichte des Kapitalismus. Warum entstand dieser im Globalen Norden und warum waren es erst die vergleichsweise hohen Löhne in Großbritannien, die ausgehend von der britischen Insel zu einem Erstarken des Kapitalismus und dessen späterer Entfesselung führten? Das erzählt die taz-Journalistin einführend, ehe sie sich der aktuellen ökonomisch-ökologischen Lage unseres Landes und der Erde widmet.

Sie blickt auf die Zerstörung, die unser menschliches Handeln angerichtet hat und beleuchtet das krasse Ungleichgewicht zwischen Globalem Süden auf der einen und dem Globalen Norden auf der anderen Seite, dessen momentaner Ressourcenverbrauch momentan eigentlich zwei bis drei Erden bräuchte, um so in der Zukunft in irgendeiner Form Bestand haben zu können. Ein Zustand, der eng mit dem Kapitalismus verknüpft ist, der beständiges Wachstum braucht, um irgendwie fortexistieren zu können, oder wie es Ulrike Herrmann formuliert:

Der Kapitalismus ist faszinierend, weil er Wachstum und Wohlstand erzeugen kann. Aber leider benötigt er diese Expansion auch, um stabil zu sein und nicht in Krisen zu schlittern. Dieser Wachstumszwang kollidiert jedoch mit dem begrenzten Planeten Erde: Unendliches Wachstum ist in einer endlichen Welt nicht möglich.

Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus, S. 84

Schon jetzt sind entscheidende Kipppunkte überschritten, die Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens so gut wie unmöglich und die wahren Gefahren wie das die Freisetzung von in Mooren gebundenem Methan, der unwiederbringliche Verlust und damit die Zerstörung unserer Lebensgrundlage so gut wie unumkehrbar. Um auch nur einen halbwegs realistischen Ansatz der Rettung unseres Planeten zu haben, braucht es radikale Ansätze.

Grüne Technologie als Irrweg

Das Hoffen auf neue Technologien, vollständigen grünen Strom und den Fortbestand der Industrie und Arbeitsplätze in der aktuellen Form sind dabei nur Schimären, die wir verzweifelt zu haschen versuchen, um unsere Augen vor der unbequemen Wahrheit noch etwas weiter verschließen zu können und an Illusionen festzuhalten, die eben nicht mehr als das sind.

Ulrike Herrmann - Das Ende des Kapitalismus (Cover)

Denn in Das Ende des Kapitalismus zerstört Ulrike Herrmann gnadenlos und mit Verve sicher geglaubte Wahrheiten und angenehme Scheinsicherheiten. Wind und Sonne? Keine verlässlichen Energielieferanten. Atomenergie? Scheidet ebenfalls aus. Die Probleme von Speicherkapazitäten und Leitungsstrukturen nicht gelöst und technisch wohl auch in Zukunft kaum praktikabel umsetzbar. Generell die Vorstellung von vollumfänglicher grüner Energie eben eine Schimäre und nicht mehr als das (auch wenn beispielsweise ihr ehemaliger taz-Kollege Malte Kreutzfeldt Zweifel an dieser Hypothese äußert).

Das bisher praktizierte ökologisch-ökonomische Lebensmodell ist nicht zu halten und muss nicht nur reformiert, sondern gleich abgeschafft werden, so die mit vielen Quellen untermauerter Befund der Journalistin (die dabei auch historische Mythenbildung zu Fall bringt, wie etwa die der Kolonien, deren wirtschaftliche Bedeutung man völlig überschätzt und die abgesehen von den Verbrechen und Genoziden vor Ort wirtschaftlich immer ein reines Zuschussgeschäft waren, überstieg ihr Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt sowohl in Sachen Import als auch Export nicht einmal ein Prozent)

Digitalisierung und technische Innovationen werden uns nicht retten können, auch Wärmepumpen und neue Wohnmodelle sind nur minimale Pflaster auf einer Wunde, die im übertragenen Sinne nach einer anderen Heilung verlangt als nur kleinteiliger Kurpfuscherei.

Ein Ausweg durch Grünes Schrumpfen

Einen Ausweg sieht Herrmann nur im sogenannten Grünen Schrumpfen, einer Verabschiedung von bisher praktizierten ökonomischen Leitlinien und dem generellen Ende des Kapitalismus, dessen Bedürfnis nach Wachstum nicht mit einer Welt kompatibel ist, die dieses Wachstum nicht mehr hergibt.

Dass das nicht schmerzhaft sein kann, sondern durchaus funktioniert, dafür zieht die Journalistin das Beispiel Großbritanniens zur Zeit des Zweiten Weltkriegs heran. Denn dort hatten sich die Eliten noch zu lange in Sicherheit gewiegt, gar mit dem Hitler-Regime sympathisiert, ehe sie sie von heute auf morgen in einem Krieg wiederfanden, auf den das Land trotz moderner Truppen nicht wirklich vorbereitet war.

So musste plötzlich die ganze Wirtschaft des Landes auf Kriegsproduktion umgestellt werden, Lebensmittel rationiert und von vielen Briten und Britinnen neue Jobs in der Rüstungsindustrie ergriffen werden, um gegen das kriegshungrige Hitler-Deutschland eine Chance zu haben.

Dabei erkennt Herrmann gerade in der egalitären Natur dieser Kriegswirtschaft den großen Vorteil, der auch dem krassen Ungleichgewicht unserer Gegenwart etwas entgegenzusetzen hätte. Denn so standen allen Bürger*innen dieses Landes die gleiche Zahl an Kalorien und übrigen Zuteilungen zu, unabhängig von ihrem sozialen Stand und ihrer Klasse. Die ganze Bevölkerung wurde in dieser staatlichen Planwirtschaft gleichbehandelt, was auch mit Verzicht und der Streichung von Privilegien einherging. In unserer Gesellschaft, in der die Reichen immer reicher werden und die Armen immer mehr werden, in der oftmals das finanzielle Vermögen und die Herkunft über Chancen in der Bildung und Gesellschaft entscheiden, tatsächlich ein radikaler, aber bedenkenswerter Ansatz.

Eine solche egalitäre Einbeziehung der ganzen Gesellschaft könnte laut Ulrike Herrmann dazu angetan sein, die immer größer werdende Kluft zwischen einem kleinen Prozentsatz der Gesellschaft und dem vom Kapitalismus nicht profitierenden Rest zu verkleinern und durch neue Arbeits- und Lebensmodelle Sinn zu stiften und die von David Graeber einst als Bullshit-Jobs getauften gut bezahlten, aber sinnlosen Tätigkeiten zu überwinden. Die Vorteile fächert Ulrike Herrmann in ihrer ganzen Breite auf, wenngleich die Journalistin auch nicht verschweigt, dass unser momentaner Lebensstandard so oder so nicht zu halten sein wird und etwa Flugreisen oder Früchte außerhalb ihrer Saison ein Auslaufmodell sein dürften.

Ein radikaler Denkansatz

Man kann Ulrike Herrmann wahrlich nicht vorwerfen, dass ihr radikaler Denkansatz zu wenig ambitioniert sei. Vielmehr legt sie einen großen Strategieentwurf für eine halbwegs lebenswerte Zukunft vor, der in vielen Punkten neben der starken Illusionszertrümmerung aber auch durchaus Bereitschaft zu einer Neubewertung der Lage erkennen lässt. Oft betont die Journalistin, dass das Buch gerade in Sachen Innovationen und technischer Neuerungen den gegenwärtige Stand und die absehbare Zukunft abbildet. Sie selbst führt in einigen Passagen auch Gegenbeispiele an, die ihrer eigenen Hypothese widersprechen oder bei denen sich sicher geglaubte Annahmen als Irrtümer herausstellt.

Das mag zwar in einigen Punkten auch zutreffen, aber an der gesamtpessimistischen und alarmistischen Grundhypothese des Buchs dürfte das auch wenig ändern (obgleich man sich natürlich anderes wünscht, Herrmann aber bei ihrer stringent durchargumentierten Schrift leider auch häufiger rechtgegeben muss, als man das eigentlich möchte. Aber tief in sich ahnt doch wohl aber jeder und jede vernunftbegabte Leser*in, dass sich unser Leben in Zukunft nicht mehr so annehmlich gestaltet wird, wie wir es aktuell gewohnt sind).

Fazit

Auch wenn die Verzahnung von Kapitalismusgeschichte und illusionszertrümmernder Streitschrift in manchen Passagen nicht ganz aufzugehen vermag und man an manchen Behauptungen zweifeln darf, so ist Das Ende des Kapitalismus doch ein eindringliches Buch, das uns die Webfehler des kapitalistischen Systems und die beschränkten Potentiale der grünen Energien und der damit verbundenen Technologien vor Augen führt.

Die Stärke von Ulrike Herrmanns Buch ist die Zugänglichkeit, mit der sie von ihrem Thema schreibt. Kurze Kapitel, die die jeweilige These schon im Titel tragen, werden allgemeinverständlich von ihr ausgeführt und mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat belegt. Dabei findet sie immer wieder plausible Bilder wie das des Radfahrers, der als Sinnbild für den Kapitalismus steht. Tritt er nicht mehr in die Pedale um voranzukommen, so droht er umzukippen, denn der Stillstand ohne Bodenkontakt ist für ihn so gefährlich wie der Stillstand für den globalen Kapitalismus.

Stellte Frederic Jameson einst fest, dass man sich leichter das Ende der Welt denn das des Kapitalismus vorstellen könne, so zeigt Ulrike Herrmann hier, dass das durchaus geht.

So ist Das Ende des Kapitalismus ein massenkompatibles Buch, das unbequeme Wahrheiten ausspricht und das energisch für eine kapitalismusfreie Welt eintritt, die weit mehr Chancen als Risiken bereithält, wenn man der Zukunftsvision der Journalistin Glauben schenken darf.


  • Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus
  • Artikelnummer 174324 (Büchergilde Gutenberg)
  • 344 Seiten. Preis: 22,00 €

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Hernan Diaz – Treue

Es gibt Buchtitel, die in ihrer deutschen Übersetzung stärker werden. Erschütterung von Percival Everett wäre so ein Fall, ist der Titel doch deutlich vielgestaltiger lesbar als das schlichte Telephone im Original. Und es gibt Titel, die auf dem Weg ins Deutsche an Nuancenreichtum verlieren. Zu letzter Kategorie zählt leider Hernan Diaz Roman Treue, der im Original den doppeldeutigen Titel Trust trägt und damit natürlich auf das Vertrauen und die Ehrlichkeit anspielt. Ebenso bringt das Wort aber auch einen ökonomischen Aspekt ins Spiel, ließe sich doch Trust auch als Treuhand oder Treuhandverwaltung übersetzen.

Auch wenn in der beim Hanser-Verlag erschienen Ausgabe ein Geldbündel auf dem Cover prangt, so lässt sich das Wortspiel doch nicht adäquat auffangen und geht auf dem Übersetzungsweg einmal quer über den Atlantik verloren. Das ist bedauerlich, denn neben der Treue und dem zwischenmenschlichen Miteinander hat Hernan Diaz vor allem einen Ökonomie-Roman in vier Teilen geschrieben, der sowohl Ökonomie im Erzählen als auch Ökonomie im Sinne von wirtschaftlichem Aufstieg beleuchtet und der dabei raffiniert gebaut ist.


Alles beginnt ganz klassisch, wie ein Roman ebenso beginnt. Wir lernen die Lebensgeschichte des Benjamin Rask kennen, die mit folgenden Worten anhebt:

Da er von Geburt an annähernd jeden erdenklichen Vorteil genossen hatte, blieb Benjamin Rask als eines von wenigen das Privileg eines heldenhaften Aufstieges versagt: Seine Geschichte war keine zäher Hartnäckigkeit, keine Chronik eines unbezwinglichen Willens, der sich aus wenig mehr als altem Blech ein goldenes Schicksal schmiedeten.

Hernan Diaz – Treue. S. 15

Ein bisschen was ist allerdings wirklich anders an dieser Geschichte. Denn diese Aufstiegserzählung, die in Anlehnung an die Erzähltradition des Realismus die Entwicklung von Benjamin Rask hin zu einem der reichsten Männer der Welt schildert, sie ist keine Erzählung des Autors Hernan Diaz. Es ist vielmehr ein Autor namens Harold Vanner, der hier zwischengeschaltet ist und der uns diese Geschichte vom Aufstieg Rasks, dem Siegeszug des kapitalistischen Denkens und von einem großen Verlust erzählt.

Ökonomischer Aufstieg und Verlust

Hernan Diaz - Treue (Cover)

Diesem Roman folgt ein zweiter Teil, der erstaunliche Berührungspunkte mit dem zuvor Gelesenen aufweist. Hier ist es allerdings kein Autor, der eine Geschichte schreibt, vielmehr handelt es sich um die Memoiren von Andrew Bevel, der „Mein Leben“ schildert. Diese Memoiren sind aber eher Manuskript denn fertige Erinnerungen. Immer wieder finden sich Lücken und Anmerkungen im Text, der den Aufstieg Bevels nachzeichnet. Inhaltlich kreisen die Memoiren um seinen Aufstieg, bei dem er sich virtuos an der Börse von Million zu Million spekuliert hat.

Die rätselhafte Kongruenz zwischen Roman und Autobiographie erklärt dann der dritte Teil des Romans, in dem wir Ida Partenza kennenlernen, die im New York der 20er Jahre eigentlich als Sekretärin arbeitet. Während Wolkenkratzer in den Himmel schießen, greifen anti-italienische Ressentiments um sich (ähnlich wie bei Eduardo Lago spielt auch hier der Prozess gegen Sacco und Vanzetti eine Rolle).

Die Kommunisten führen Kämpfe gegen den zügellosen Kapitalismus – und inmitten dieser Konflikte findet sich Ida wieder, die als Tochter eines italienischen Anarchisten ausgerechnet bei jenem aus dem zweiten Teil bekannten Milliardär Andrew Bevel Anstellungen findet. Für ihn soll sie dessen Memoiren in Form bringen und aufschreiben. Dieses Vorhaben ist allerdings ein besonderes, denn Bevel will in den Memoiren auch das Leben seiner Frau ins Licht der Öffentlichkeit bringen, deren Ruf er mit dem Projekt aufzupolieren verhofft.

Bei ihrer Arbeit kommt Ida so mit der Lebensgeschichte von Bevels Frau in Berührung, deren Aufzeichnungen den vierten und letzten Teil des Buchs bilden und die damit gewissermaßen die Klammer um die drei vorgehenden Teile formt.

Ein Roman in vier Teilen mit verbindendem Kern

Alle Teile verbindet, dass sie im Kern die Lebensgeschichte von Andrew Bevel, dessen Aufstieg durch Spekulationsgeschäfte und die Verbindung zu seiner Frau Mildred erzählen. Ob in fiktionalisierter Form oder durch Erinnerungen – stets wird titelgemäß die Treue und Ehrlichkeit der beiden verhandelt. Dabei erzählt Hernan Diaz mit einem Binnenblick auf das Miteinander, lässt beide Partner ihre jeweiligen Perspektiven schildern. Daneben ist die Treue und Ehrlichkeit aber auch eine Frage der Öffentlichkeit und des Blicks von außen. Denn notgedrungen muss sich das Paar auch in der Öffentlichkeit zeigen, besonders nachdem die gewinnbringende Ausschlachtung von Börsencrashs durch Bevel zu Gerede führt.

Während sich der Kapitalist aus der Öffentlichkeit zurückzieht, unleidlich nur das notwendigste Pflichtprogramm in Sachen sozialer Repräsentation erfüllt, findet seine Gattin in der Philantropie Erfüllung, die sie immer ausgeprägter verfolgt. Doch stimmt das wirklich? Ist diesen Schilderungen zu trauen, besonders wenn sie von einem Mann kommen, für den die eigene Perspektive gleichbedeutend mit der Wahrheit ist, die er seiner Biografin in den Block diktieren will?

Hier verhandelt Hernan Diaz auch den Trust, als Vertrauen mit der Darstellungen des eigenen Ich, wenn für Bevel nur das eigene Erleben die Richtschnur für richtiges Erinnern darstellt.

Wer hat nun recht mit seinem Blick auf das Geschehene oder welche Perspektive ist die Richtige? Die des kapitalistischen Wunderkinds und Börsengurus, die seiner Frau, die der Biografin oder gar die des spekulativen Romanautors? Oder liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen, zwischen ihm und ihr, zwischen Fakten und Fiktion? Diese Überlegungen machen aus Treue eine nachdenkenswerte Lektüre, die durch die raffinierte Montage der vier Teile Raum für eigene Bewertungen eröffnet.

Aber es ist nicht nur eine Geschichte der unterschiedlichen Blickwinkel, die ihr Blick auf Kapitalismus und Ökonomie eint. Es ist auch ein Roman, der die Erzählökonomie eindrucksvoll in den Mittelpunkt stellt.

Erzählökonomie par excellence

Denn wie oben schon beschrieben weist Hernan Diaz‘ Buch ja vier Teile mit völlig unterschiedlichen Geschichten in unterschiedlichen Stilen auf. Betrachtet man dazu die Länge von 411 Seiten, bleiben ja gerade einmal durchschnittlich gut einhundert Seiten für jede der Geschichte. Folglich muss natürlich die Frage gestellt werden, ob es Diaz gelingt, trotz dieser Länge überzeugende Episoden zu kreieren, die in der Kürze funktionieren.

Hier muss ich konstatieren: ja, in meinen Augen geht das Erzählkonzept auf und Diaz gelingt es, auch nur mit hundert Seiten gute Geschichten zu erzählen, die sich sinnreich untereinander verbinden. Im ersten Teil sind es 120 Seiten, die er braucht, um einen Entwicklungsroman in Erzähltradition des Realismus zu erzählen. Wo die (im Buch auch als Verweis auftauchenden) Klassiker, etwa von Henry James hunderte von Seiten für eine Erzählung von Aufstieg und Niedergang benötigen, schafft es Hernan Diaz hier auch mit guten 120 Seiten, eine ähnlich anmutende Erzählung zu kreieren, die sich trotzdem Zeit nimmt und bei der man nicht das Gefühl von zu sparsamen Erzählen bekommt.

Und auch die anderen Geschichten konzentrieren sich auf das Entscheidende, legen den jeweiligen Episodenkern offen, ohne dabei aufgebläht oder viel zu skizziert zu wirken (außer an Stellen wie Andrew Bevels Memoirenmanuskript, wo dies natürlich erwünscht ist). Eben Erzählökonomie par excellence.

Fazit

Das Ganze ist größer als die Summe aller Teile. Diese Binsenweisheit erfüllt sich bei Treue von Hernan Diaz einmal mehr. Obschon vielleicht der erste Blick ins Inhaltsverzeichnis einen Eindruck von disparat Geschichten oder einer Kurzgeschichtensammlung entstehen lassen könnte, ergibt sich über jede einzelne Episode hinweg ein Bild von zügellosem Kapitalismus, von Dagobert Duck-haftem Streben nach Mehr, aber eben auch von Leid und Verlust.

Gerade im Zusammenwirken der so unterschiedlichen Erzählansätze ergeben sich interessante die Brüche und Leerstellen, die Fragen bezüglich der Ehrlichkeit mit den Lesenden, der Inszenierung des eigenen Ichs und der Verlässlichkeit von geschilderten Lebenswegen aufwerfen. Das macht aus Treue in meinen Augen eine spannende, diskussionswürdige und außergewöhnliche Lektüre, die deutlich mehr anbietet, als nur eine platte Schilderung des Strebens nach ökonomischen Erfolgen zu sein. Dass es Diaz damit auf die Longlist des diesjährigen Booker Prize geschafft hat, erscheint mir nur konsequent.


  • Hernan Diaz – Treue
  • Aus dem Englischen von Hannes Stein
  • ISBN 978-3-446-27375-7 (Hanser)
  • 416 Seiten. Preis: 27,00 €
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