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Virginia Reeves – Ein anderes Leben

Auch in Zeiten steigender Energiepreise ist der Strom heute doch alles andere als ein Luxusgut. Er ist immer verfügbar, kann einfach über Steckdosen genutzt werden und ist so alltäglich, dass wir gar nicht mehr über ihn nachdenken. Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves entführt in eine Zeit, in der Strom noch Gefahr bedeutete und das Leben von Menschen ins Unglück stürzen konnte. Wir sprechen hierbei aber nicht vom Zeitalter der Entdeckung der Elektrizität, sondern vom ländlichen Alabama vor nicht einmal hundert Jahren. Ein neuer Beitrag in der Rubrik #backlistlesen.


Roscoe T. Martin hadert mit seinem Leben als Farmer. Zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern sowie einem Angestellten bewirtschaftet er die familieneigene Farm. Doch das Leben in den 20er Jahren in Alabama ist hart, der Ertrag der Farm reicht kaum zum Überleben. Da entschließt sich Roscoe zu einer folgenschweren Tat. Er will die Stromleitungen der Alabama Power Company illegal anzapfen, um Strom zur eigenen Farm zu leiten und dort die Dreschmaschine elektrisch anzutreiben. Das notwendige Wissen für die Manipulation besitzt er, da er eigentlich gelernter Elektriker ist und früher im Kraftwerk arbeitete, ehe er der Liebe wegen die Farm übernahm.

Der Fluch der bösen Tat

Virginia Reeves - Ein anderes Leben als dieses (Cover)

Doch der Fluch der bösen Tat lässt nicht lange auf sich warten. Nach seinem illegalen Abzapfen des Stroms ist es nur eine geringe Zeitspanne, in der alles zu laufen scheint. Bei einer Inspektion der manipulierten Leitungen erleidet ein Inspekteur einen tödlichen Stromschlag und Roscoe T. Martin und sein Kompagnon Wilson fahren beide ins Gefängnis ein.

Während Wilson als Schwarzer in den Minen untertage schuften muss, versieht Martin seinen Dienst im Kilby-Gefängnis in der Molkerei, später der Gefängnisbibliothek und trainiert mit einem Aufseher die Hunde, die zur Unterbindung von Fluchtversuchen eingesetzt werden. Dabei treibt ihn die Frage um, wie es mit seiner Familie und der heimischen Farm wohl weitergegangen sein mag. Denn von seiner Frau hat er seit seiner Verurteilung nichts mehr gehört. Und auch vor der Kommission, die über die Aussetzung der Gefängnisstrafen als Bewährung befindet, stehen seine Chancen schlecht.

Anklänge an Klassiker des Genres

Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves zeigt die Geschichte eines Mannes, der das Gute wollte, doch das Böse tat. Sein Martyrium hinter Gittern schildert sie dabei in spannender Form. Denn es ergänzen sich im Hauptteil aus der Ich-Perspektive erzählte Passagen aus dem Gefängnis (was Erinnerungen an Klassiker des Genres weckt, etwa Stephen Kings Die Verurteilten) mit auktorial erzählten Schilderungen des Farm- und Familienlebens, das durch Martins Tat ins Unglück gestürzt wurde.

Gelungen schafft es Virginia Reeves, plastische Charaktere zu zeichnen und ihre Geschichte ohne übermäßige Schnörkel oder unnötige Passagen geradlinig und konzentriert zu erzählen. Der Rassismus, die Zwangsarbeit hinter Gittern, der brutale Umgang mit Gefangenen und die willkürliche Herrschaft der Obrigkeit wird von der Autorin eindringlich geschildert. Auch ist das Buch stark in seinem Aufzeigen, wie eine einzige, aus gutem Willen und wirtschaftlichen Nöten begangene Tat das Leben von einem halben Dutzend Menschen beeinflussen und entscheidend prägen kann.

Fazit

Virginia Reeves ist ein eindringliches Buch gelungen, das den amerikanischen Süden vor nicht einmal hundert Jahren heraufbeschwört. Dass sie es als Debütantin mit Ein anderes Leben als dieses auf die Longlist des Bookerprizes im Jahr 2016 schaffte (genauso wie Ian McGuire mit seinem Roman Nordwasser), das ist beachtlich und angesichts der Dichte und Präzision ihres Schreibens auch gerechtfertigt. Auch vier Jahre nach dem Erscheinen in der Übersetzung von Simone Jakob und Hannes Meyer ist dieses Buch noch absolut frisch und lesenswert und sollte als Backlistperle hier in der Buch-Haltung gerne Erwähnung finden.


  • Virginia Reeves – Ein anderes Leben als dieses
  • Aus dem Englischen von Simone Jakob und Hannes Meyer
  • ISBN 978-3-8321-9869-5 (Dumont)
  • 320 Seiten. Preis: 23,00 €
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Reif Larsen – Die Rettung des Horizonts

Von New Jersey bis in den Kongo, von Visegrad bis nach Kambodscha. Das Netz, das der amerikanische Autor Reif Larsen in seinem zweiten Roman Die Rettung des Horizonts aufspannt, ist gewaltig. Schon eine Beschreibung des Inhalts im Rahmen einer Rezension ist für mich nicht ohne Weiteres möglich, noch schwieriger wird es mit einer Einordnung dieses Buchs.

Reif Larsen hat mit seinem Roman eine Wundertüte geschaffen, ein postmodernes Erzählkonstrukt, das in New Jersey seinen Ausgang nimmt. Dort kommt nämlich inmitten eines Stromausfalls der Junge Radar Radmanovic auf die Welt. Schon mit seinem Eintritt in die Welt sorgt das Kind für Erstaunen und Kopfzerbrechen, denn Radar ist dunkelhäutig – und das bei zwei weißen Elternteilen. Eine Sensation, für die es keine rationale Erklärung zu geben scheint, weshalb die Eltern verzweifeln. Wie ein Ruf des Himmels ereilt sie da eine Nachricht aus der nördlichsten Spitze Norwegens, wo eine Gruppe von Wissenschaftlern glaubt eine Möglichkeit zur Heilung von Radar gefunden zu haben.

In diese Rahmengeschichte montiert Reif Larsen zwei weitere Geschichten, die einmal ins vom Bürgerkrieg Serbien und die davon gebeutelte Stadt Visegrad und zum anderen nach Kambodscha zur Zeit von Pol Pot führt. Diese beiden Seiterzählungen scheinen zunächst nichts mit der Geschichte um Radar zu tun zu haben, aber je weiter man im Text voranschreitet, umso mehr verbinden sich die Geschichten. Larsen verwebt einzelne Motive, erfindet eigene Bücher im Buch und arbeitet mit allen möglichen postmodernen Stilmitteln. Immer wieder werden Bilder in die Erzählung eingebettet, der Text fließt manchmal über den Rand hinaus und man weiß nie genau, was die nächsten Seiten beinhalten werden.

Dies alles macht das Buch zu einer Wundertüte, die sich konsequent einer genauen Einordnung entzieht. Ausflüge in die Physik, Elektronik, Buchgeschichte, Religion und Philosophie machen das Buch zu einer Ausnahmeerscheinung. Die Rettung des Horizonts liest sich, als hätten David Mitchell, Jorge Luis Borges und Peter Hoeg gemeinsame Sache gemacht, um dieses fast 800 Seiten umfassende Werk zu schreiben. Ihr Übriges tut die gelungene Übersetzung von Malte Krutzsch dazu, um dieses Buch auch im Deutschen gut lesbar zu machen. Bei all diesen technischen, sprachlichen und theoretischen Ausflügen von Reif Larsen war das sicher keine leichte Aufgabe.

Wenn man mich um einen Satz bäte, um den Buchinhalt zu beschreiben: ich könnte es nicht sagen. Was ich aber sagen kann, ist: das Buch ist lesens- und lohnenswert!

 

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