Tag Archives: Strom

Niall Williams – Das ist Glück

Strom, das bedeutet Fortschritt und Licht. Dass der Fortschritt aber auch immer das Ende einer bisher gekannten Welt ist, das zeigt Niall Williams in seinem Roman Das ist Glück anschaulich. Vor dem Hintergrund der Elektrifizierung des ländlichen Irlands ruft er noch einmal die Erinnerungen wach an das Leben vor Glühbirnen, Radiogeräten und Co. und zeigt, welchen Reiz dieses entschleunigte Leben hatte, ehe der Fortschrittsdauerlauf einsetzte.


Er ist ein gemütlicher Erzähler, dieser Noel, genannt Noe Crowe, der uns aus seiner Sicht davon erzählt, wie es einst war, als der Strom nach Faha kam. Der Großteil seines Lebens liegt hinter ihm und so hat er viel Zeit, noch einmal ganz tief einzutauchen in seine Erinnerungen und durch sein Erzählen jene Welt lebendig zu machen, von der heute kaum mehr etwas zeugt.

Er nimmt uns als Leser*innen mit ins kleine Städtchen Faha, einem beschaulichen Ort im Südwesten Irlands im County Kerry. Zwar schreiben wir schon das Jahr 1958, dennoch ist von der Elektrifizierung dort noch nichts zu sehen. Auf dem Land gehen die Uhren auch Mitte des 20. Jahrhunderts noch anders.

Der Regen fällt in Strömen, nur der Fluss des Stroms, er hat noch seinen Weg aufs Land noch nicht gefunden, wie Noe erzählt. Noch geht alles seinen gewohnten Gang dort in Faha.

Willkommen in Faha

Man musiziert zusammen, trifft sich zu leidenschaftlichen Football-Matches zwischen Dörfern und lebt ein einfaches, aber dennoch erfüllendes Leben. So etwas wie ein Telefon ist da schon eine Sensation, die von den Einwohner*innen erst misstrauisch beäugt wird, ehe man sich zögerlich auf den Fortschritt einlässt.

Faha war der ewige Geruch von frisch gebackenem Brot, der Geruch des Torfqualms, der Geruch von Zwiebeln, von Gedünstetem, der grünen Zunge gekochten Kohls, der rosafarbenen eines Schinkens, dessen grauer Schaum emporstieg wie die Sünde, der Geruch des Rhabarbers, der am Rand des Komposthaufens zu ungeheurer Größe heranwuchs, der Geruch des Regens in all seinen Erscheinungsformen, der Geruch von fernem Regen, von bald beginnendem Regen, von eben geendetem Regen, von lang zurückliegendem Regen, der fade Geruch des Niesels, der süße eines Schauers, der lebendige Geruch von Wolle, der tote Geruch von Stein, der metallische Geistergestank einer Makrele, die den Gesetzen aller Materie nicht gehorcht und ihren eigenen Tod wie Jesus drei Tage überlebt hatte.

Niall Williams – Das ist Glück, S. 45

Man vermag es fast zu schmecken, dieses Faha in seiner ganzen Beschaulichkeit. Das ist der große Verdienst von Noe, der weit ausholt in seinen Erinnerungen und mit seinen ganzen Abschweifungen und ausführlichen Erläuterungen zu Land und Leuten ein eindrückliches Bild des irischen Landlebens erzeugt.

Der Strom kommt nach Faha

Niall Williams - Das ist Glück (Cover)

Er, der einst Priester werden soll, wurde aufgrund des kritischen Gesundheitszustandes seiner Mutter aus Dublin zu seinen Großeltern Doady und Ganga verfrachtet. Im kinderreichen Irland ein ganz normaler Vorgang, bei dem Kinder durchaus Verschiebemasse zwischen den Familienzweigen sind – oder wie es Noe in seinen Erinnerungen ausdrückt: es herrschte im ganzen Land ein starker Kinderverschickungsverkehr (wovon ja auch Williams‘ Landsfrau Claire Keegan in ihrem Roman Das dritte Licht eindrucksvoll erzählt).

So wohnt er nun im Haushalt seiner Großeltern, wo er kurz vor dem Osterfest Christy kennen, der das Dorf aufsucht, um ihm die Aussicht auf Strom zu bringen. Er soll von den Bewohner*innen Fahas das Einverständnis für die Errichtung von Strommasten einholen, um endlich das Projekt der Elektrifizierung anzugehen.

Quartier für seine Aufgabe bezieht er ebenfalls unter dem Dach von Doady und Ganga, wo er sich fortan die Schlafkammer mit Noe teilt.

Es stellt sich fast so etwas wie ein Mentorenverhältnis zwischen Noe und Christy ein, den zudem auch private Motive nach Faha führen, wie Noe langsam ergründet. Ummantelt wird diese Entwicklung zwischen den beiden Männern durch Entdeckungen, die sich die beiden gegenseitig erschließen. Der erste Rausch, die Komplexität der Liebe und das unsichtbare soziale Gefüge im Dorf all das erhellt ihre gegenseitige Freundschaft, während auch um sie herum der Fortschritt Einzug hält. Stück für Stück wachsen die Strommasten aus finnischem Holz aus dem Boden als deutlichstes Zeichen, das die Technik Einzug hält (was auch das eigenwillig schlecht aufgelöste Cover demonstriert).

Abschied und Aufbruch

So vereint Williams in Das ist Glück gleichzeitig das Progressive mit dem Konservativen und zeigt eine Welt im Umbruch. Noch ist von der großstädtischen Hektik in Faha nichts zu spüren, aber das Gefühl des Verlusts überlagert in diesem Roman alles. Nicht nur, dass die Kirche dort auf dem Land noch Einfluss, Respekt und Bindungskraft genießt, wie es heute selbst in Irland nicht mehr der Fall ist. Auch die Gemeinschaft im Dorf lebt in dieser Form nur noch in den Erinnerungen Noes auf, der sich seiner eigenen Endlichkeit und der aller Menschen nicht erst jetzt im Alter, sondern auch schon während seiner Jugendjahre in Faha bewusst geworden ist.

Nicht zuletzt betrifft das auch die Erzählweise des Romans selbst. In dieser präsentiert sich Niall Williams als Gegenentwurf zur minimalistisch-verdichteten Erzählweise einer Claire Keegan. Das ist Glück ist eine Feier des Erzählens und der Mündlichkeit, wie sie früher in Familien und Pubs gepflegt wurde. Noe schweift immer wieder ab, verliert sich in Details abseits des erzählerischen Wegrandes und führt manchmal geradezu umständlich Figuren ein, nur um dann auf seinen eigentlichen Punkt zu kommen. Er selbst beschreibt das wie folgt:

Hatte er erst einmal losgelegt, war die Art meines Großvaters, Geschichten zu erzählen, ein wildes Durcheinander, die Einheit von Handlung, Raum und Zeit wirbelte er einfach durch die Luft, ließ alle Einzelheiten kopfüber-kopfunter die Treppen seines Hirns hinauf- und zum Mund hinauspurzeln. Er selbst war noch in einer Epoche aufgewachsen, als das Geschichtenerzählen auf den beiden offen eingestandenen Prinzipien fußte, sich einen Lenz zu machen und die dunklen Stunden zu vertreiben.

Niall Williams – Das ist Glück, S. 258

Auch in Williams Buch purzelt manches durcheinander und verliert sich in Details, etwa der Sitzordnung der lokalen Kirche oder die erklärenden Erläuterungen zu einigen Figuren. Weil das aber mit Herz und Augenzwinkern passiert, verzeiht man derlei Wege und Umwege gerne.

Fazit

Wie es war, bevor der Strom nach Faha kam und welche Qualitäten das Leben einst hatte, aus der Lektüre von Niall Williams lässt sich das wunderbar erfahren. Ein Leseerlebnis, wie ein Besuch in einem Pub, in dem man auf dem Hocker neben einem lebensweisen und erzählfreudigen Alten platznimmt, der uns in seine Erinnerungen mitnimmt. Verlust und Abschied, Neubeginn und Fortschritt, erste Liebe und vertane Liebe, all das mengt sich in diesem in charmanten Plauderton vorgebrachten Buch.


  • Niall Williams – Das ist Glück
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-550-20296-4
  • 456 Seiten. Preis: 24,99 €
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Virginia Reeves – Ein anderes Leben

Auch in Zeiten steigender Energiepreise ist der Strom heute doch alles andere als ein Luxusgut. Er ist immer verfügbar, kann einfach über Steckdosen genutzt werden und ist so alltäglich, dass wir gar nicht mehr über ihn nachdenken. Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves entführt in eine Zeit, in der Strom noch Gefahr bedeutete und das Leben von Menschen ins Unglück stürzen konnte. Wir sprechen hierbei aber nicht vom Zeitalter der Entdeckung der Elektrizität, sondern vom ländlichen Alabama vor nicht einmal hundert Jahren. Ein neuer Beitrag in der Rubrik #backlistlesen.


Roscoe T. Martin hadert mit seinem Leben als Farmer. Zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern sowie einem Angestellten bewirtschaftet er die familieneigene Farm. Doch das Leben in den 20er Jahren in Alabama ist hart, der Ertrag der Farm reicht kaum zum Überleben. Da entschließt sich Roscoe zu einer folgenschweren Tat. Er will die Stromleitungen der Alabama Power Company illegal anzapfen, um Strom zur eigenen Farm zu leiten und dort die Dreschmaschine elektrisch anzutreiben. Das notwendige Wissen für die Manipulation besitzt er, da er eigentlich gelernter Elektriker ist und früher im Kraftwerk arbeitete, ehe er der Liebe wegen die Farm übernahm.

Der Fluch der bösen Tat

Virginia Reeves - Ein anderes Leben als dieses (Cover)

Doch der Fluch der bösen Tat lässt nicht lange auf sich warten. Nach seinem illegalen Abzapfen des Stroms ist es nur eine geringe Zeitspanne, in der alles zu laufen scheint. Bei einer Inspektion der manipulierten Leitungen erleidet ein Inspekteur einen tödlichen Stromschlag und Roscoe T. Martin und sein Kompagnon Wilson fahren beide ins Gefängnis ein.

Während Wilson als Schwarzer in den Minen untertage schuften muss, versieht Martin seinen Dienst im Kilby-Gefängnis in der Molkerei, später der Gefängnisbibliothek und trainiert mit einem Aufseher die Hunde, die zur Unterbindung von Fluchtversuchen eingesetzt werden. Dabei treibt ihn die Frage um, wie es mit seiner Familie und der heimischen Farm wohl weitergegangen sein mag. Denn von seiner Frau hat er seit seiner Verurteilung nichts mehr gehört. Und auch vor der Kommission, die über die Aussetzung der Gefängnisstrafen als Bewährung befindet, stehen seine Chancen schlecht.

Anklänge an Klassiker des Genres

Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves zeigt die Geschichte eines Mannes, der das Gute wollte, doch das Böse tat. Sein Martyrium hinter Gittern schildert sie dabei in spannender Form. Denn es ergänzen sich im Hauptteil aus der Ich-Perspektive erzählte Passagen aus dem Gefängnis (was Erinnerungen an Klassiker des Genres weckt, etwa Stephen Kings Die Verurteilten) mit auktorial erzählten Schilderungen des Farm- und Familienlebens, das durch Martins Tat ins Unglück gestürzt wurde.

Gelungen schafft es Virginia Reeves, plastische Charaktere zu zeichnen und ihre Geschichte ohne übermäßige Schnörkel oder unnötige Passagen geradlinig und konzentriert zu erzählen. Der Rassismus, die Zwangsarbeit hinter Gittern, der brutale Umgang mit Gefangenen und die willkürliche Herrschaft der Obrigkeit wird von der Autorin eindringlich geschildert. Auch ist das Buch stark in seinem Aufzeigen, wie eine einzige, aus gutem Willen und wirtschaftlichen Nöten begangene Tat das Leben von einem halben Dutzend Menschen beeinflussen und entscheidend prägen kann.

Fazit

Virginia Reeves ist ein eindringliches Buch gelungen, das den amerikanischen Süden vor nicht einmal hundert Jahren heraufbeschwört. Dass sie es als Debütantin mit Ein anderes Leben als dieses auf die Longlist des Bookerprizes im Jahr 2016 schaffte (genauso wie Ian McGuire mit seinem Roman Nordwasser), das ist beachtlich und angesichts der Dichte und Präzision ihres Schreibens auch gerechtfertigt. Auch vier Jahre nach dem Erscheinen in der Übersetzung von Simone Jakob und Hannes Meyer ist dieses Buch noch absolut frisch und lesenswert und sollte als Backlistperle hier in der Buch-Haltung gerne Erwähnung finden.


  • Virginia Reeves – Ein anderes Leben als dieses
  • Aus dem Englischen von Simone Jakob und Hannes Meyer
  • ISBN 978-3-8321-9869-5 (Dumont)
  • 320 Seiten. Preis: 23,00 €
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Reif Larsen – Die Rettung des Horizonts

Von New Jersey bis in den Kongo, von Visegrad bis nach Kambodscha. Das Netz, das der amerikanische Autor Reif Larsen in seinem zweiten Roman Die Rettung des Horizonts aufspannt, ist gewaltig. Schon eine Beschreibung des Inhalts im Rahmen einer Rezension ist für mich nicht ohne Weiteres möglich, noch schwieriger wird es mit einer Einordnung dieses Buchs.

Reif Larsen hat mit seinem Roman eine Wundertüte geschaffen, ein postmodernes Erzählkonstrukt, das in New Jersey seinen Ausgang nimmt. Dort kommt nämlich inmitten eines Stromausfalls der Junge Radar Radmanovic auf die Welt. Schon mit seinem Eintritt in die Welt sorgt das Kind für Erstaunen und Kopfzerbrechen, denn Radar ist dunkelhäutig – und das bei zwei weißen Elternteilen. Eine Sensation, für die es keine rationale Erklärung zu geben scheint, weshalb die Eltern verzweifeln. Wie ein Ruf des Himmels ereilt sie da eine Nachricht aus der nördlichsten Spitze Norwegens, wo eine Gruppe von Wissenschaftlern glaubt eine Möglichkeit zur Heilung von Radar gefunden zu haben.

In diese Rahmengeschichte montiert Reif Larsen zwei weitere Geschichten, die einmal ins vom Bürgerkrieg Serbien und die davon gebeutelte Stadt Visegrad und zum anderen nach Kambodscha zur Zeit von Pol Pot führt. Diese beiden Seiterzählungen scheinen zunächst nichts mit der Geschichte um Radar zu tun zu haben, aber je weiter man im Text voranschreitet, umso mehr verbinden sich die Geschichten. Larsen verwebt einzelne Motive, erfindet eigene Bücher im Buch und arbeitet mit allen möglichen postmodernen Stilmitteln. Immer wieder werden Bilder in die Erzählung eingebettet, der Text fließt manchmal über den Rand hinaus und man weiß nie genau, was die nächsten Seiten beinhalten werden.

Dies alles macht das Buch zu einer Wundertüte, die sich konsequent einer genauen Einordnung entzieht. Ausflüge in die Physik, Elektronik, Buchgeschichte, Religion und Philosophie machen das Buch zu einer Ausnahmeerscheinung. Die Rettung des Horizonts liest sich, als hätten David Mitchell, Jorge Luis Borges und Peter Hoeg gemeinsame Sache gemacht, um dieses fast 800 Seiten umfassende Werk zu schreiben. Ihr Übriges tut die gelungene Übersetzung von Malte Krutzsch dazu, um dieses Buch auch im Deutschen gut lesbar zu machen. Bei all diesen technischen, sprachlichen und theoretischen Ausflügen von Reif Larsen war das sicher keine leichte Aufgabe.

Wenn man mich um einen Satz bäte, um den Buchinhalt zu beschreiben: ich könnte es nicht sagen. Was ich aber sagen kann, ist: das Buch ist lesens- und lohnenswert!

 

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