Ganz und gar unzeitgemäß. Emanuel Maeß in seinem zweiten Roman Alles in allem über einen Bummelstudenten, der weder bei der Verfertigung seiner Dissertation noch auf amourösem Gebiet so recht an Land gewinnen mag. Doch obschon die Handlung eher ein einem lauen Lüftchen gleicht, so erzeugt die Sprache Maeßens doch einen starken Windstoß, der mitreißt, wenn man sich auf dieses auf alte Meister schielende Erzählhandwerk einlässt.
Passt so etwas noch in die Zeit? Da eröffnet Maeß seinen Roman mit einer seitenlangen Beschreibung eines auf dem Bett hingestreckten weiblichen Körpers, über den der Blick des Erzählers schwelgerisch gleitet und seiner Faszination mit Beschreibungsmitteln irgendwo zwischen Nature Writing und Architekturkritik Ausdruck verleiht:
Nicht jene allgegenwärtigen, sich ebenfalls raffiniert aus der Kugel ableitenden Runddesigns von Brust und Gesäß schienen dann das Hinreißendste an einer Frau (an dieser hier sowieso), sondern die Täler, Furchen, Mulden und Gruben, jene inkommensurable Dynamik nach innen gehender Biegen und Krümmungen, ihrer unterschwelligen Spiralformen, Schraubenlinien und Trichter. Ganz zur Geltung kamen sie vermutlich erst durch die Nachmitternachtswärme und flaumweise Textur ihrer Inhaberin, auch eine leichte Note von Osterlilien spielte ohne eigentlich klaren Ursprung hinein.
Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 8
Von Berlin-Friedenau bis zum Parnass
Schon vor diesen ersten Seiten, die nach der sprachmächtigen Lobpreisung des weiblichen Körpers irgendwo in Griechenland am Fuße des Parnass beginnen, ist ein weiteres, ebenso unzeitgemäßes Element gesetzt. Es handelt sich um das Zitat von Eckart von Hochheim, der, besser bekannt unter seinem Namen Meister Eckart, als Mytiker und einer der Väter der Theologe den Seelengrund beschrieb und das Gottesbild des Mittelalters entscheidend prägte.
Ebenso antiquiert mag einigen auch der Beruf des Helden von Maeß‘ Roman erschienen. Der namenlose Ich-Erzähler, hat sich – durchaus mit heißem Bemühen – der Theologie zugewendet. Nimmt nicht nur die Zahl der Kirchenaustritte hierzulande immer mehr zu, ist auch die Zahl der Theologie-Studierenden über die Jahre stark rückläufig. Doch der Erzähler hat sich der nicht mehr recht gefragten Theologie mit großer Ernsthaftigkeit verschrieben. So will er über das Thema der Ikonen promovieren. Eine Reproduktion der berühmten ikonischen Darstellung Wladimirskaja leistet ihm sogar zuhause Gesellschaft. Zuträglich für das Vorankommen in Sachen akademischer Meriten ist aber auch die Anwesenheit der Ikone nicht.
Auch mit meinem Professor, Dietrich von Staden, einem kurz vor der Pension stehenden Luther- und Melanchthon-Experten, hatte ich Glück, ein angenehmer und verständnisvoller Mann, der überdies und freundlicherweise nach drei Jahren aufgehört hatte, mich nach dem Stand meiner Arbeit zu fragen. Dafür war er auch zu sehr mit den eigenen Sachen beschäftigt. Er musste hohe Erwartungen in mich gesetzt haben, nachdem er mich bei der Diplomprüfung, damals noch mit manchem Charme und Schneid, über Thomas Müntzers Apokalyptik hatte reden hören, aus der ihm eine unübliche spirituelle Empfänglichkeit, wenn nicht gar Ergriffenheit zu sprechen schien.
Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 35
Verharren im Phlegma
Das Voranschreiten in Sachen Fortschritt bei der Dissertation lässt auf sich warten – und auch ansonsten lässt der Bummelstudent nicht wirklich Ambitionen erkennen und verharrt ganz bequem im Phlegma. Ein anspruchsloser Job als Hiwi beim Lehrstuhl, die bequeme Beziehung mit seiner Freundin Clara, die er einst bei einer Studienreise an biblische Schauplätze kennenlernte, das kennzeichnet den Alltag des ebenso unsportliche wie nicht sonderlich attraktiven Denkers.
Und doch gerät das vergeistigte Leben des Theologen schon bald in Aufruhr, als er nämlich bei einer Tagung in Wittenberg die Bekanntschaft mit Katharina macht. Schon bald kommt es zu einer Affäre mit der Frau, die mit spirituellen Interventionen und Kunstinstallationen Kirchenräume verwandelt. Eine Trennung von Clara und ein „Ghosting“ mit Katharina wird folgen, weitere Frauenbekanntschaften und Umzüge von Berlin-Friedenau bis Lichterfelde werden das Leben des Denkers kennzeichnen.
Dabei ist die Handlung von Alles in allem nicht das, was das Buch ausmacht. Vielmehr sind es die mit Sprachmacht und Bildung manchmal schon fast prunkenden Gedanken- und Beschreibungsorgien, in denen sich der Denker verliert. Die Füße Katharinas erinnern ihn dabei gleich an frühantike Statuen Polyklets (S. 134) oder ein gemeinsamer Spaziergang durch den Apollensberg bei Wittenberge führt den Nature-Writing/Architektur-Blick fort, mit dem der Erzähler schon eingangs den weiblichen Körper beschrieb.
Wir gingen auf den Wallpfad hinauf und liefen eine Weile auf ihm entlang, zur einen Seite und Elbaue hin die fernen Waldungen und Äcker mit mächtigen Solitäreichen, die den Park nahezu übergangslos in die Landschaft auslaufen ließen, zur anderen das verhaltene Lächeln des Garten. So etwas stelle man also auf, wenn einen Winckelmann ein halbes Jahr lang durch Rom geführt hatte. Zur südlichen Aufschmückung der Landschaft hatte man sich Lombardische Pappeln, italienische Schwarzkiefern und Koniferen kommen lassen, die wie Pinien und Zypressen aussehen sollte. Als wollte jemand zeigen, welch irrsinniges Spektrum sich allein aus der Farbe Grün auffächern lasse, arrangierte man das alles in ausgeklügelter Raumseligkeit um Alleen, Hecken, verschwiegene Eckchen, Lauben und Sitze herum.
Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 112
Antiquiert und artifiziell und großartig
Das ist manchmal mitreißend, manchmal vielleicht sogar etwas zu viel des Guten, etwa wenn der Erzähler feststelle, dass „man (…) nicht um die Einsicht herum[kam], dass das jahrelang eingespielte Miteinander – ähnlich wie der freiheitlich-säkularisierte Staat im Böckenförde-Theorem – von Voraussetzungen lebte, die es nicht garantieren konnte“ (S. 85).
Zugegeben – es ist eine spezielle Prosa, die man mögen muss. Emanuel Maeß schielt mit seinem Erzählen klar auf alte Meister wie Thomas Mann oder Heimito von Doderer. Wie schon in Gelenke des Lichts gelingt es dem 1977 in Jena geborenen Autor, männliche Seelenerkundung, Humor und sprachliche Wucht zu einem Buch zu vereinen, bei dem sich das Antiquierte mit dem Artifiziellen großartig verbindet. Seine Landschaftsschilderungen von Griechenland bis Wittenberg stehen schon fast in romantischer Tradition und tragen zum rückwärtsgewandten Eindruck des Romans bei.
So entsteht ein Werk, das ganz und gar unzeitgemäß wirkt – mich dafür aber umso mehr einnahm, weil es keiner der aktuellen Moden folgt oder folgen will, obgleich es im letzten Drittel etwas an Spannkraft verliert, wenn die Lust und Triebe in ihrer ganzen Ausführlichkeit etwas zu sehr überdramatisiert werden. Angesichts dessen, was Maeß zuvor aber richtig macht, ist das mehr als verzeihlich.
„Ich kann ja nur für mich sprechen, aber ich verdanke deiner Gegenwart ganz erhebliche Zugewinne an Immanenz, Komplexität und Einsichtsvermögen. Leider auch meinen Niedergang, aber immerhin habe ich wenigstens einmal im Leben an den Kern der Dinge gerührt.“
Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 334
Fazit
Alles in allem hat mich Alles in allem sehr eingenommen, auch wenn man den Retro-Faktor dieses Erzählhandwerks natürlich ebenso ablehnen kann, wie ich diese Spracharabesken genossen habe. Da schreibt jemand mit einer eigenen Agenda – und ich schätze es sehr!
- Emanuel Maeß- Alles in allem
- ISBN 978-3-7371-0155-4 (Rowohlt)
- 400 Seiten. Preis: 24,00 €