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Clemens J. Setz – Monde vor der Landung

Querdenken. Ein Begriff, der früher einmal ein Begriff für unkonventionelle Denkansätze und innovative Geistesarbeit stand. Heute steht das Querdenken als Synonym für das ziemliche Gegenteil. Krude Theorien, unbeirrbar vorgetragen, Inszenierung als Widerstand gegen den „Mainstream“, so das Bild, das sich verstärkt im Zuge der öffentlichen Kritik gegen die Corona-Schutzmaßnahmen auf den Straßen der Republik manifestierte. Selbsternannte Querdenker und Querdenkerinnen waren es, die ihre Wut auf die Straßen trugen und so zunehmend für eine Begriffsverschiebung des Querdenkens sorgte.

Clemens J. Setz porträrtiert in seinem neuen Roman Monde vor der Landung nun einen historischer Vorgänger solcher Querdenker, nämlich den Fantasten Peter Bender, der die Theorie der Hohlerde verficht.


Den alleinigen Besitzanspruch der Wahrheit, er ist nicht nur heutigen Querdenkern zu eigen. Auch in der Geschichte lassen sich Beispiele für Menschen finden, die unbeirrt ihre abstruse Sicht der Dinge und ihre eigenwillige Lesart der Welt fernab des wissenschaftlichen Konsens predigten und sich im alleinigen Besitz der Wahrheit glaubten. Der Büchnerpreisträger Clemens J. Setz hat ein Beispiel für einen solchen „Denker“ gefunden und aus den Archiven ausgegraben. Peter Bender ist sein Name, der in der Stadt Worms lebte und seine Forschungen und Theorien über die Hohlwelt dort publizierte.

Bei Clemens J. Setz gleicht das Worms, durch das sich Peter Bender bewegt, einer Art Lummerland. Da ist die Nachbarin Frau Blun oder der Briefträger Herr Erdelmeier, die grüßen, wenn Bender mal wieder durch die Gassen der herbstlichen Nibelungenstadt eilt. Meist bewegt er sich auf dem „von der Sonne knusprig gebratenen Laub“ (S. 13) auf dem Weg nach Hause zu seiner Familie oder zu seiner Geliebten Else

Das Weltbild einer hohlen Erde

Auch den Obrigkeiten der Stadt Worms ist Bender dabei wohlbekannt, wie Clemens J. Setz in einer Mischung aus Rückblenden und gegenwärtiger Handlung beschreibt. Immer wieder eckt er mit seinem Weltbild und der Agitation für selbiges an. Sich selbst und seine Frau Charlotte betrachtet er als eine Art Priesterpaar, das seine Anhänge der von ihm verkündeten Lehre um sich schart. Doch seine Reden und die Verstöße gegen die Sitten rufen auch die Verwaltung auf den Plan, denn Bender wird für seine ketzerischen Äußerungen auch für mehrere Wochen inhaftiert.

Clemens J. Setz - Monde vor der Landung (Cover)

Doch seinem missionarischen Eifer setzt das keine Grenzen. Mögen die Zeichen in der Zwischenkriegszeit noch so schlecht stehen, Bender lässt sich nicht beirren. Während das Rheinland besetzt wird und die Inflation galoppiert, ist er weiterhin mit der Theorie der hohlen Erde befasst, die im Inneren ihrer Kugel den Himmel und herabsinkende Monde umschließt. Auch mit anderen Theoretikern, die ähnliche Gedankenmodelle propagieren, steht Bender im Austausch und reist dafür sogar bis nach Augsburg, um befreundete Denker zu treffen.

Doch die Zeiten werden schlechter, zunehmend leidet die Familie unter Armut und Benders Frau Charlotte, die er während seiner Zeit als Jagdflieger in einem Lazarett in Polen kennenlernte, wird aufgrund ihrer jüdischen Herkunft immer mehr ausgegrenzt. Spätestens mit der Machtergreifung Hitlers gerät die Familie immer weiter unter Druck, obschon sich Hitler selbst als Anhänger der Astrologie auch für abstruse Gedankengebäude zu begeistern vermag, lässt die Unterstützung Benders immer mehr nach, der nach wie vor von seinem Gedanken eines „Weltbilderkongress“ zu Worms besessen ist.

Die Geschichte der Inhaftierung Benders wird sich wiederholen – diesmal allerdings unter bedeutend schlechteren Umständen, denn der Amtsarzt stellt Bender nun die Diagnose „Geisteskrankheit“ aus, was für diesen wieder in Haft bringen und später auch sein ganzes Schicksal besiegeln wird.

Ein spannendes Leben – mit Lücken

Clemens J. Setz hat eine spannende Biographie ausgegraben, bei der ich persönlich allerdings den Eindruck hatte, bei der trotz des großen Umfangs noch deutliche Lücken bleiben. So bleibt bei mir nach der Lektüre von Monde vor der Landung das etwas unkonkrete Gefühl, dass in dieser Geschichte noch deutlich mehr drin gewesen wäre, als das, was uns Setz hier auf 520 Seiten präsentiert. Vieles bleibt hier so nebulös und angedeutet, wie Benders Weltbild selbst.

Man erfährt von der sogenannten Koresh-Gemeinde in Florida, die ihrem Lehrer Dr. Cyrus Teeds huldigt, bekommt am Rande eine Ahnung eines Buchs, dass Charlotte Bender über ihren Kampf um Peter Bender geschrieben hat – und auch Benders Roman Karl Tormann findet an mehreren Stellen (und einigen – in meinen Augen überflüssigen -Text- und Bildabbildungen) Erwähnung.

So richtig greifbar werden diese seitlich erwähnten Einsprengsel nicht und bleiben so unkonkret wie auch die verschiedenen Abweichungen von Benders Hohlwelttheorien, die etwa die von Bender bewunderten Denker Lang oder Neupert propagieren und über die man zwar seitenweise debattiert, dann aber doch wieder zu keinem Ergebnis kommt, bewohnen diese Männer doch alle eigene Erden mit jeweils eigenen Weltbildern.

Parallelen zum Querdenken unserer Tage

Am selben Morgen hatte Anslinger noch zu Sonnleithner gesagt, er solle, bevor er mit irgendwelcher Wissenschaft daherkomme, lieber seine Hausaufgaben machen. Selbst recherchieren. Nicht in Zeitungen. Eigene Gedanken wagen.

„O Gott, verschone mich!“ Sonnleithner hatte geflucht. Das angewiderte Gesicht, dass dieser Pfarrerssohn aus Leipzig immer machte, wenn es um Monde und alternative Theorien ihrer Entstehung ging, war gerade das Witzigste an der Sache. Recherchiere doch selbst. Was sagen echte Wissenschaftler? Nicht die Zeitungen.

Sonnleithner hatte ihnen nicht einmal abgenommen, dass Gasmasken die Überlebenschancen bei einem Angriff in der Regel verringerten anstatt erhöhten. Sonnleithner glaubte lieber, was man ihm von staatlicher Seite an Wissen vorsetzte.

Clemens J. Setz – Monde vor der Landung, S. 77

Die Parallelen zu Verschwörungstheorien von QANON bis hin zu Impf-Mythen und Lügen in unseren Tagen liegen ja auf der Hand – sonderlich weit führt diese historische Blaupause aktueller diskursiver Entgleisungen allerdings nicht. Bender ist von seiner Theorie überzeugt, kann immer wieder Menschen, vor allem Frauen, mit Charisma von seinen Vorstellungen überzeugen, und doch hilft ihm auch sein Glauben an die hohle Erde nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht wirklich weiter. Clemens J. Setz versucht ihm nahezukommen und schafft das in vielen Passagen auch wirklich beeindruckend.

Fazit

Und doch fehlt mir für die Begeisterung das letzte Quäntchen, dass das Buch in seiner Gesamtkomposition wie auch seinen Verweisen auf die Gegenwart zum bestechenden Leseerlebnis macht. Es ist gut, bisweilen auch virtuos, durchsetzt mit Geschichte und Figuren, die zwischen Wahn und Genie kreisten wie etwa Hermann Oberth, den man wiederum aus dem Roman von Daniel Mellem kennt.

Aber das nicht wirklich greifbare Weltbild, die Verzerrung der Wirklichkeit, die widersprüchlichen Theorien von hohlen Erdkernen, herabsinkenden Monden und konkaven Erden, Benders sprunghaftes Handeln, das alles im Verbund mit einer deutlichen Überlänge hat mir ein leichtes Fremdeln mit dem Buch beschert, obschon ich mit dieser Meinung wirklich in der Minderheit sein dürfte. Andere Stimmen zu Monde vor der Landung finden sich unter anderem im Bücheratlas und dem NDR. Zudem ist das Buch für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 nominiert.


  • Clemens J. Setz – Monde vor der Landung
  • ISBN 978-3-518-43109-2 (Suhrkamp)
  • 528 Seiten. Preis: 26,00 €
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Christoph Poschenrieder – Der unsichtbare Roman

Das Notizbuch [Gustav Meyrinks] ist auch deshalb interessant, weil darin Ideen und Entwürfe für andere (nicht realisierte) Romane festgehalten sind, darunter ein „Freimaurerroman“ – ein Projekt, an dem Gustv Meyrink wahrscheinlich in den Jahren 1917/18 arbeitete, das er aber schließlich wieder verwarf (…) die Informationen darüber sind spärlich …

Theodor Harmsen, in: Der magische Schriftsteller Gustav Meyrink

Das unvollendete und wahrlich apokryphe Romanprojekt von Gustav Meyrink steht im Mittelpunkt von Christoph Poschenrieders neuem Roman. Nachdem der Münchner Romancier mit seinem letzten Werk enttäuschte, legt er nun ein hochspannendes Buch vor. Ein Buch, bei dem die Form fast noch interessanter als sein Inhalt ist.

Das Buch kreist um jenen titelgebenden unsichtbaren Roman, den Gustav Meyrink 1917 produzieren soll. Der Schöpfer des Golems und anderer zumeist satirischen Werke gilt den Machthabern in Berlin als der richtige Mann. Er soll für das Kriegsministerium einen Roman verfassen, der eindeutig die Schuldfrage am Ersten Weltkrieg klärt. Propaganda, Deutungshoheit, Spin Doctors sind keine Erfindung unserer Tage. Auch schon im Großen Krieg wollte man die Deutungshoheit über die Geschehnisse behalten. Und so soll Meyrink eben ein Buch verfassen, das einer bestimmten Partei die Schuld für den Kriegsbeginn in die Schuhe schiebt. Der Vorschlag aus dem Kriegsministerium: die Freimaurer würden sich doch anbieten.

Eingedenk seiner finanziellen Situation (ein Bankrott in Prag liegt hinter ihm, der Starnberger See vor der Haustür seiner jetzigen Immobilie) willigt Meyrink ein. Doch dann das: völlige Schreibblockade. Das Einzige, das Meyrink gut von der Hand geht, ist die kreative Vertröstung seiner Auftraggeber. Doch ansonsten bleiben die Seiten weiß. Keine Ideen, kein Zugriff aufs Thema, keine Vision, was er mit dem Buch anstellen soll.

Von diesen Schreibblockaden erzählt Poschenrieder durchaus humorvoll. In einer eleganten Sprache, den hohen Ton wie zuletzt in seinem Buch Das Sandkorn suchend, wirft er einen Blick in Meyrinks Seele. Doch nicht nur von den Schreibblockaden erzählt Meyrink – auch das Leben und Schaffen dieses heute schon wieder fast vergessenen Autors erzählt Poschenrieder.

Meyrinks Werdegang ist genauso ein Thema wie die Münchner Räterepublik mit all ihren turbulenten Verwicklungen. So spielt neben Meyrink auch Erich Mühsam eine wichtige Rolle sowie sein Gegenspieler- der spätere erste bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner, der den Freistaat Bayern proklamierte.

Eine Möbiusschleife als Vorbild

Ein spannendes Leben ist es, das Christoph Poschenrieder da schildert. Doch noch spannender scheint mir die Konstruktion seines Romans. Denn diese hat es in sich. So gibt es zum Einen erst einmal die in der 3. Person geschilderten Erlebnisse von Meyrink und seine Versuche, den vermaledeiten Roman zu Schreiben. Zum Anderen gibt es dann aber auch noch Erzählungen von Meyrink selbst, die dieser in der 1. Person aus der Ich-Perspektive schildert.

Dann ist Der unsichtbare Roman aber auch voll von Recherchenotizen und Trouvaillen, die sich während der Entstehung des Schreibprojekts angesammelt haben (so suggeriert es Poschenrieder zumindest in meinen Augen). Sie sorgen für so etwas wie Struktur im Roman, auch wenn die Verbindung von Recherenotiz und dem nachfolgenden Kapitel manchmal etwas versteckt erscheint.

Eine Erzählung wie eine Möbiusschleife

Und dann ist da zuvorderst natürlich das Ende des Romans, das eigentlich wieder den Anfang des Buchs bildet. Denn plötzlich gelingt es Poschenrieder, die vorher gelesenen circa 260 Seiten in neuem Licht erscheinen zu lassen. Wie bei einem Möbiusband verdrillt und verdrahtet er höchst geschickt die einzelnen Erzählstränge seines Buchs zu einem neuem Roman, der alles davor Gelesene in einen anderen Bezug setzt. Plötzlich ergibt zuvor scheinbar Sperriges oder Widersprüchliches einen neuen Sinn. Das ist schlau gemacht und erfordert nach der Lektüre eigentlich gleich einen zweiten Durchgang des Romans. Da Capo in Romanform könnte man sagen.


Hier findet Christoph Poschenrieder endlich wieder zu Spielfreude und einer tollen Montagetechnik zurück, die durch einen wirklich eleganten Erzählton zum Vergnügen wird, wenn man sich darauf einlassen möchte. Ein Buch, das an vorherige Glanzzeiten (hier sei Das Sandkorn und Die Welt ist im Kopf genannt) anschließt.

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