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Tommie Goerz – Im Schnee

Beklagte ich mich noch vor einigen Monaten über die mangelnde Abbildung Frankens in der Literatur beziehungsweise die dürftigen Ergebnisse literarischer Repräsentation dieses Landstrichs, so kommt mit dem gebürtigen Erlanger Tommie Goerz nun ein Autor daher, der diese Worte Lügen straft. In Im Schnee setzt er dem verschwindenden Dorfleben zwischen Nürnberg und Marktredwitz ein Denkmal und erzählt angenehm ambivalent vom Leben und Sterben. Ein Buch mit Relevanz, weit über Franken hinaus.


Weißt du, wir sind hier auf einem Dorf. Und in einem Dorf hat es Regeln.

Tommie Goerz – Im Schnee, S. 146

Wirklich viel ist nicht mehr los im Dorf, das Tommie Goerz in den Mittelpunkt seines Romans stellt. Dort das Neubaugebiet mit seinen anonymen Einfamilienhäusern und Bewohnern, die man im alten Kern des Dorfs kaum zu Gesicht bekommt. Da die alten Bauernhäuser, die teils leerstehen oder nur noch von einzelnen Alten bewohnt werden, deren festgetretene Wege nicht aus dem Dorf herausführen und allerhöchstens im letzten Gasthaus am Ort enden, wo sie auf ein Bier und die Beschau der Vergangenheit zusammensitzen.

Der Pfarrer muss mehrere Gemeinden versorgen, der Wirt sperrt nur noch an einzelnen Tagen seine Gaststube auf und die Bahn hält gerade einmal in der Stunde am Gleis des Dorfs, irgendwo im Nirgendwo zwischen Mittel- und Oberfranken. Will man hier länger bleiben?

Weit mehr als nur ein Dorfroman

Max ist einer, der geblieben ist. Goerz‘ Held hat sein ganzes Leben dort im Dorf verbracht und die unsichtbaren Regeln des Dorfs längst verinnerlicht. Wie diese Regeln aussehen sind und was das namenlose Dorf (noch) am Leben hält, das untersucht Tommie Goerz im Lauf seines Romans genau. Denn Im Schnee ist nicht nur ein Dorfroman, er ist weit mehr als das, ist das Buch mit seiner Hauptfigur Max ist auch das eindringliche Porträt eines Mannes, der ebenso wie die Welt um ihn herum langsam ihrem Ende zugeht.

Der Uhu hatte drüben am Seuberthshof gewohnt, jahrelang, hat da gebrütet unterm Dach der alten Scheine. Wenn der nachts die Hauptstraße entlangflog, dieser fast unglaublich große Vogel, noch leiser als ein Lufthauch, mit seinen riesigen Flügeln … und wie der kurven konnte! … das ergriff noch heute sein Herz, wenn er daran dachte. Aber dann hattten sie die Scheune abgerisssen und den gesamten Hof mit dazu, und seitdem war der Uhu weg. Er ist nie wiedergekommen.

Tommie Goerz – Im Schnee, S. 132 f.

Nicht nur der Uhu ist verschwunden, auch Max‘ Lebenswelt ist schon lange eher Vergehen denn Werden. So sterben um ihn herum langsam seine Weggefährten aus. Jüngst ist sein bester Freund Schorsch von ihm gegangen. Ein einschneidendes Erlebnis, das Goerz‘ Roman in Gang setzt.

Erinnerungen an ihre besondere Freundschaft, das tiefe gegenseitige Verständnis und gemachte Erfahrungen ziehen noch einmal an Max vorbei, während dieser Totenwache hält- auch das eine dieser verschwundenen Tradition, die Goerz hier noch einmal in Erinnerung ruft. Zunächst die Männer, dann die Frauen kommen im Haus des Verstorbenen zusammen, um ihm zu gedenken und gemeinschaftlich seine letzte Reise vorzubereiten.

Erinnerungen an Tote und eine Welt, die verschwindet

Tommie Goerz - Im Schnee (Cover)

Während das Dorf nun also im Schnee versinkt und sich eine nächtliche Stille und Ruhe über die verbliebenen alten Häuser breitet, wird der Verstorbene und das Dorfleben in den kollektiven Erinnerungen noch einmal lebendig. Tommie Goerz vermeidet in seinen Schilderung dieses Kulturguts und den Erinnerungsbögen den Fehler, hierbei zu Nostalgie oder Dorfkitsch zu neigen.

Im Schnee ist vielmehr ein angenehm vielstimmiger und ambivalenter Blick auf dieses Dorf, das Gemeinschaft bedeuten konnte, ebenso aber auch Fremden gegenüber ablehnend und feindlich sein konnte, bis hin zu einer dörflichen Variante der Omerta, als man lieber das leerstehende Pfarrhaus zerstörte, denn die Möglichkeit der Unterbringung von Geflüchteten zuzulassen.

Es sind universelle Schilderungen und Beobachtungen, die Goer‘ Erzählen ausmachen und die das Buch nicht nur im dörflichen Franken, sondern auch in vielen anderen Landstrichen der Bundesrepublik mit ähnlicher Struktur anschlussfähig machen dürften.

Menschen, die gehen, Lebensweisen und Kulturen, denen keine wirkliche Zukunft mehr beschieden ist, ländliche Räume, die neu aufgeteilt und überschrieben werden, Tradition, die verschwindet. Das ist die Welt, in der Im Schnee spielt und die jene Schwelle vom Übergang der althergebrachten Lebensweise hin zu einer neuen Orientierung der Menschen und Generationen besieht. Und das tut Tommie Goerz angenehm differenziert und klar, ohne einfache Antworten zu geben.

Fazit

Ähnlich wie Robert Seethaler in Das Feld ist auch Im Schnee die Heraufbeschwörung einer Welt, die es so schon fast nicht mehr gibt und die dem Untergang geweiht ist. Still und gerade deswegen so eindringlich nutzt Goerz den engen erzählerischen Rahmen, um eine ganze Walt dort hineinzupacken. Mit Max steht zudem ein ähnlich stiller und tiefgründiger Charakter im Mittelpunkt, dessen Geschichte stellvertretend für die sterbende Welt steht und dessen Weg man gerne ein Stück geht – auch über das Ende der Lektüre hinaus.


  • Tommie Goerz – Im Schnee
  • ISBN 978-3-492-07348-6 (Piper)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €
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