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Eli Cranor – Bis aufs Blut

Mitten hinein in den Bible Belt schleudert uns der Roman Bis aufs Blut, in dem der frühere Footballspieler Eli Cranor von Gewalt, Hoffnungslosigkeit, Ernest Hemingway und dem Reiz des Footballspiels erzählt. Hoffnungslose und hoffnungsfrohe Lektüre, die tief hineinblickt in das religiös geprägte Milieu in den Ozarks.


White Trash, so despektierlich bezeichnet man das Milieu der weißen Unterschicht im Hinterland der USA, das zumeist mit Armut und Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch zwischen Meth und Alkohol und prekären Wohnverhältnissen in Trailern assoziiert wird. Zumeist zerrüttete Familienverhältnisse und wenig Aufstiegchancen sind Marker jener sozialen Schicht, die gerne belächelt und durch den geradezu entmenschlichenden Begriff verächtlich gemacht wird.

Immer wieder blickt die US-amerikanische (Kriminal-)Literatur auf dieses Milieu. Daniel Woodrell tat es in Winters Knochen, als er das von Armut gekennzeichente Leben im Hinterland von Missouri beschrieb. Jüngst tauchte John Galligan mit Bad Axe County in einen fiktiven Landstrich zwischen Abfalldeponie und heruntergekommenen Scheunen ein oder Barbara Kingsolver versetzte mit Demon Copperhead gar Charles Dickens Romanklassiker David Copperfield in das Milieu des White Trash in den Appalachen.

Einblick ins White Trash-Milieu

Und auch Eli Cranor siedelt seinen Roman zum Teil in diesem Milieu an. Schauplatz der Geschichte ist der Bundesstaat Arkansas, in dem sich das fiktive Städtchen Denton befindet. „Das Tor zu den Ozarks“ verkündet das Ortsschild, in Wahrheit aber ist Denton 30 Meilen von allem anderen entfernt, wie der Schulleiter Bradshaw in einem seiner ersten Gespräche mit dem neuen Footballcoach Trent bemerkt.

Eli Cranor - Bis aufs Blut (Cover)

Dieser ist mit seiner Familie frisch zugezogen und soll die schuleigene Footballmannschaft, die Denton Pirates, zu sportlichem Erfolg führen. Doch nicht nur aufgrund seines Prius, den der Coach fährt, wird er von den Einheimischen misstrauisch beäugt. Denton ist auch 30 Meilen hinter dem gesellschaftlichen Fortschritt zurückgeblieben und scheint alle rückständigen Klischees des Bible Belt zu erfüllen. Latenter Rassismus, omnipräsente Kreuze und die Huldigung möglichst schwerer Verbrennermotoren sind hier der gesellschaftliche Klebstoff, der die Gesellschaft des Städtchens zusammenhält.

Folglicherweise fremdelt Trent sehr mit dieser neuen Welt, in die er überstürzt aufgebrochen ist. Vertraut ist ihm nur die Welt des Footballfeldes, auf dem er sich mit seiner Mannschaft unbedingt beweisen will. Entscheidendes Puzzleteil in seinem Plan von sportlichem Erfolg ist der junge Billy Lowe, der zu den größten Talenten und Hoffnungsträgern seiner Schule zählt. Doch ebenso groß wie das sportliche Talent des Jungen ist auch die Wut, die in ihm brennt.

Pulsierendes Blut, pulsierendes Erzählen

Warum dem so ist, das schildert uns Billy Lowe als Ich-Erzähler in einer geradezu hektischen, aggressiven Sprache, die Eli Cranor seiner zentralen Hauptfigur mitgegeben hat und die von Cornelius Hartz ins Deutsche übertragen wurde:

Diesmal ist da mehr Blut. Mein Blut. Sein Blut. Das Blut vom Kleinen. Das Blut, das uns verbindet. Ich spüre, wie Bull an meinem Trikot zerrt. Hab mal gesehen, wie ein Polizist versucht hat, einen Pitbull von einem Labrador zu trennen. Der musste ihm das Maul mit einem Gummiknüppel aufstemmen. Verpasse dem Jungen eine Kopfnuss. Drücke seine Arme auf den Boden, er kriegt eine Kopfnuss nach der anderen, bis Bull mich wegreißt.

Eli Cranor – Bis aufs Blut, S. 16

Die Gewalt resultiert aus den Lebensverhältnissen, in denen Billy groß wird. So lebt er mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder in einem Trailer. Der aktuelle Lebens- und vor allem Trinkgefährte seiner Mutter neigt zu häuslicher Gewalt, drückt schon mal eine glühende Zigarette in Billys Nacken aus oder sperrt dessen kleinen Bruder in einen Hundezwinger, wo ihn Billy mit Essensresten zu füttern hat.

Dies führt zu einer Impulsivität und Gewalt, über die Billy selbst nicht mehr Herr ist. Da Trent aber nicht auf seinen wichtigsten Spieler verzichten kann, holt er ihn in selbst in sein Zuhause, wo er leben soll, nachdem Billys Ziehvater tot im Trailer aufgefunden wurde.

Viel Verzweiflung und wenig Hoffnung im Bible Belt

Die genauen Umstände des Todesfalles und die Dynamiken, die sich aus dem unverhofften Familienzuwachs des Footballtrainers ergeben stehen im Mittelpunkt der Geschichte, die Eli Cranor aus dieser Ausgangslage entwickelt. So fremdelt Billy mit der neuen Lebenssituation ebenso wie Trent mit Denton – und beide sind in ihrer verzweifelten Lage ein Stück weit aufeinander angewiesen in dieser Welt, in der zwar das Kruzifix omnipräsent ist, es aber dennoch kaum so etwas wie Hoffnung oder Gnade gibt.

Allein eine aufkeimende Liebesgeschichte verheißt dem Jungen einen Ausweg, geht mit dieser Annäherung auch Bildung und die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Aufstiegschance einher, die ihm in seinem bisherigen Lebensumfeld versagt bliebt.

Am Ende bleibt aber auch die Frage bestehen, ob dieses Bemühen ein sinnloses ist und am sein Streben ähnlich unergiebig wie das des Fischers in Ernest Hemingways existenzialistischen Klassiker Der alte Mann und das Meer bleibt. Denn dieses Buch entdeckt Billy während seines Auszugs aus dem heimischen Trailer zum ersten Mal – und findet darin auch Anknüpfungspunkte an die eigene Hoffnungslosigkeit.

Fazit

Mit seinem mit dem Edgar Allan Poe Award ausgezeichneten Roman gelingt Eli Cranor ein starkes Debüt, das durch einen genauen Blick in das White Trash-Milieu und die Schilderung des Kleinstadtlebens dort im Bible Belt ebenso überzeugt wie durch seine pulsierende Sprache, die den Plot um Billy Lowe und seinen Trainer Trent stets nach vorne treibt.


  • Eli Cranor – Bis aufs Blut
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
  • ISBN 978-3-85535-179-4 (Atrium)
  • 336 Seiten. Preis: 24,00 €
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Deniz Ohde – Streulicht

Von der Rückkehr an den Ort der Kindheit, vom schwierigen Kampf um Bildung und gesellschaftliche Anerkennung und von unsichtbaren Schranken erzählt Deniz Ohde in ihrem Debüt Streulicht. Endlich eine deutsche Antwort auf Didier Eribon, Annie Ernaux und Co.


Schon seit längerem machen es uns die Literat*innen aus Frankreich vor. Autor*innen wie Didier Eribon oder Annie Ernaux erkunden auf Grundlage ihrer eigenen Biografien Mechanismen und Schranken der Gesellschaft. Sie versuchen, über die eigene Geschichte (oder mithilfe von Autofiktion) die Bruchlinien und blinden Flecken der gesellschaftlichen Gegenwart zu erkunden. Im Falle von Didier Eribons Rückkehr nach Reims gelang dem Franzosen auch bei uns einer veritabler Bestseller. Darin setzt sich Eribon mit der Frage auseinander, warum in seiner Heimat nun so viele Menschen den Front National unterstützen und vom linken Spektrum ins rechte übergewechselt sind. Eine Analyse, die auch bei uns viele Leser*innen interessierte.

Oder etwa Annie Ernaux, die in ihren Werken anhand ihrer eigenen Biografie genaue Erkundungen des Milieus ihrer Eltern (Der Platz und Eine Frau) oder ihrer eigenen Sozialisation unternimmt. Mit wachsendem Erfolg wird die französische Autorin auch in Deutschland übersetzt und gelesen.

Deniz Ohde - Streulicht (Cover)

Bei aller Begeisterung für diese Werke stellte sich doch die Frage, warum man bei solch soziologisch grundierter Literatur eigentlich immer nur bei unseren Nachbarn fündig wurde. Das Interesse ist ja da, was nicht auch die Bestsellerplatzierungen der beiden Autor*innen zeigen. Nur deutsche Stimmen, die eine solche Art von Literatur schrieben, waren bislang nicht wirklich präsent. Bislang.

Denn mit Streulicht ist nun ein Roman zu entdecken, der genau hinschaut auf die Mechanismen und Ausschlusskriterien unserer Gesellschaft. Der den versteckten Rassismus genauso wie den offenen beleuchtet. Sich für die Verwerfungslinien unseres Miteinanders interessiert. Und der Klassismus, Identität und Herkunft erforscht und betrachtet. Dies gelingt der 1988 geborene Deniz Ohde, indem sie einmal mehr eine Heimkehrer-Geschichte erzählt.

Heimkehr an den Rande des Industrieparks

Die namenlose Erzählerin zieht es zurück an den Ort ihrer Kindheit, ihr Zuhause. Der Vater lebt noch, die Mutter ist schon verstorben. In dem trostlosen Haus, das sich Zuhause nennt, kehren die Erinnerungen zurück an ihre Kindheit und ihre Familie. Wie sie dort aufwuchs in der Siedlung hinter dem Industriepark, dessen Schlote und Rohre die ganze Silhouette der Stadt prägen. Dort, wo die meisten ihrer Mitmenschen in Lohn und Brot steht und auch ihr Vater schaffte, vierzig Jahre lang vierzig Stunden die Woche, Bleche in Lauge tauchte. Dort, wo der Industrieschnee an kalten Tagen auf alle Häuser niedersinkt und alles mit Asche und Grau überzieht. Und dort, wo der Park nachts glüht wie eine riesige gestrandete Untertasse und orangeweises Streulicht aus Neonröhren die Nacht hell macht (S. 14).

Dorthin kehrt die Erzählerin zurück und nimmt uns als Leser*innen mit in ihre Kindheit. Als sie mit Pikka und Sophia das Gebiet rund um die Chemiefabrik durchstreifte. Als sie in die Schule kam und an sich und den Lehrern scheiterte. Und wie sie trotzdem beharrlich gegen alle Wahrscheinlichkeiten zur Bildungsaufsteigerin wurde. Wie sie beschloss, beginnend mit einem Zeitabonnement, dass für sie trotz ihrer Herkunft (die Mutter stammt aus einem Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste) trotzdem mit der Hauptschule nicht Schluss sein sollte. Dass ihr Name nicht ihre Karriere vorbestimmen sollte. Wie sie sich ihren Weg erkämpfte, durch alle Bildungsinstitutionen hindurch, von der Hauptschule bis zur Akademikerin. Davon erzählt Streulicht. Und das tut das Buch auf beeindruckende Art und Weise.

Vom unsichtbaren Rassismus

Das Buch erzählt aber auch von Rassismus, vom Gefühl, nicht dazuzugehören. Vom Gefühl, den einen Namen, der einen zum Ausländer macht, lieber zu verschweigen. Und von der Notwendigkeit, sich immer etwas mehr anstrengen zu müssen als die anderen.

Was sie nicht erzählen würde, wäre die Geschichte von meinem zwölften Geburtstag, als ich auf einem der Schultische einen Kuchen auspackte, den meine Mutter für die Klasse gebacken und in Alufolie eingeschlagen hatte. „Was ist das, ein Dönerspieß?“, hatte sie damals aus dem hinteren Ende des Raums gerufen und gelacht, dieses Lachen, das ich seitdem immer wiedererkenne, vor dem ich bis heute zurückschrecke, wie wenn man aus Versehen mit der Fingerspitze eine heiße Herdplatte streift, ein siebter Sinn. […]

„Das bildest du dir ein“, sagte Sophia. Es gäbe keine feindliche Gruppe, keine feindliche Umgebung. „Du nimmst die Dinge eben immer gleich persönlich“, sagte sie, und alle Anfeindungen glitten mir aus den Händen, glitten an der verspiegelten Scheibe herab und rutschen langsam zu Bode, wo sie kleben blieben wie zerkautes Zellophan. Jede Anfeindung spielte sich zwischen den Zeilen ab und war immer schon wieder verschwunden, wenn ich sie ansprechen wollte.

Ohde, Deniz: Streulicht, S. 123 f.

Fazit

Damit passt dieses Buch auch sehr gut in diese Zeit, in der die Debatten über Rassismus und Chancengerechtigkeit leider viel zu oft im Nichts versanden. Streulicht erzählt uns, wie es ist, wenn man nicht so wirklich dazugehört und sich seinen Platz im Leben gegen Widerstände erobern muss. Sein genauer Blick auf die Mechanismen unserer Gesellschaft und das Bildungswesen zeichnen das Buch dabei aus.

Dass das Buch nun auch selbst ausgezeichnet wurde, und zwar mit einer Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises, das ist nur folgerichtig. Denn Ohdes Buch ist präzise in seiner Beschreibung unserer Gesellschaft. Der Blick in die Unterschicht und das moderne Industrie-Proletariat überzeugt. Genauso schafft sie es, den Weg einer Bildungsverliererin hin zu einer -gewinnerin plausibel zu erzählen, auch gerade durch die Nicht-Verhaftung an Realien, die das ganze Buch kennzeichnet. Für mich ist Streulicht ein Kandidat für die Shortlist des Buchpreises. Gerade auch, da das Buch eben eine deutsche Antwort auf die eingangs erwähnten (zumeist) französischen Autoren ist.

Weitere Meinungen zum Buch gibt es hier: Hubert Winkels schreibt in der SZ über Ohdes Buch. Auch im Deutschlandfunk wurde Streulicht besprochen und zwar hier. Die taz widmete dem Buch ebenfalls eine Besprechung.


  • Deniz Ohde – Streulicht
  • ISBN: 978-3-518-42963-1 (Suhrkamp)
  • 284 Seiten. Preis: 22,00 €

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