I bought a ticket of a lifetime
Shirley Bassey – The Girl from Tiger Bay
There’s no denying who I am
Forever young, I will stay
The girl from Tiger Bay
So besingt Shirley Bassey ihre Herkunft in dem Song The Girl from Tiger Bay. Tiger Bay, diesen Namen trägt das Hafenviertel der walisischen Stadt Cardiff, in dem die Sängerin aufwuchs und dem sie in ihrem Song ein Denkmal setzt. Auch Nadifa Mohamed erzählt von diesem multiethnischen Schmelztiegel im Jahr 1952 und gönnt dabei auch dem späteren Weltstar Bassey einen Kurzauftritt, die hier in einer kleinen Kneipe auftreten und singen darf.
Von Romantik und Verklärung, die Basseys Hymne an ihr Heimatviertel prägt, ist im Roman von Nadifa Mohamed allerdings keine Spur. Stattdessen inszeniert sie dieses Tiger Bay als engen und drückenden Vielvölkerstaat, in dem verschiedene Ethnien und soziale Schichten auf wenig Platz miteinander auskommen und sich arrangieren müssen. Bei Mohamed schwebt stets ein Gefühl der Bedrohung und Vergänglichkeit über diesem Stück von Cardiff.
Dieses Fleckchen Erde, dem Marschland abgerungen und unter den Fundamenten immer noch nicht fest, ist ihre einzige Zuflucht. Doch die Feuchtigkeit kriecht nagend sämtliche Geäude hoch und mahnt die Bewohner, dass sie nicht hierhergehören, das Meer sich eines Tages ihr Heim zurückholt.
Nadifa Mohamed – Der Geist von Tiger Bay, S. 58
Ein Mord in Tiger Bay
Wir schreiben das Jahr 1952. Gerade ist der englische König George VI. verstorben, Prinzessin Elizabeth wird ihm auf dem Thron nachfolgen. Seit sieben Jahren ist Mahmood Hussein Bewohner von Tiger Bay. Auf verschlungenen Wegen kam er aus Britisch-Somaliland nach Cardiff, ließ dort seine Mutter und Brüder zurück und heuerte auf verschiedenen Schiffen an. Inzwischen ist er sesshafter geworden, hat eine Einheimische gegen den Willen deren Familie geehelicht und ist Vater von drei Kindern.
Trotz seiner Familie geht er keinem geregelten Beruf nach, lässt sich durch Kneipe treiben, verjubelt sein Geld, sobald er es besitzt, setzt auf Pferdewetten und wird im Viertel „Der Geist von Tiger Bay“ gerufen. Als es zum Mord an einer jüdischen Ladenbesitzerin kommt, ist für die Polizei und Justiz in Cardiff der Fall schnell klar. Den heimtückischen Mord kann nur der halbseidene Geist von Tiger Bay verübt haben. Und so wird Mahmood Mattan inhaftiert und ihm der Prozess gemacht. Dass er sich nach seiner Festnahme in Lügen, Widersprüche verwickelt und alles andere als einsichtig ist, macht die Sache nicht besser.
Historisches Unrecht
In ihrem Roman zeichnet die 1981 in Somalia geborene Autorin den historisch verbürgten Fall des Mahmood Hussein Mattan nach. Dieser war erste Fall, den sich die neugegründete Criminal Cases Review Commission im Jahr 1998 noch einmal vornahm, über einen möglichen Justizirrtum zu befinden – 46 Jahre nach Mattans Tod. In Der Geist von Tiger Bay rollt sie den Fall ähnlich wie die Kommission noch einmal auf, allerdings mit literarischen anstelle von juristischen Mitteln.
So konzentriert sie sich auf Mahmood Mattans Leben und lässt daneben auch noch die Familie der ermordeten Violet Volacki zu Wort kommen. Sie inszeniert gemächlich die Stimmung und Atmosphäre in Tiger Bay, nimmt sich Zeit für die biographischen Hintergründe von potentiellem Täter und Opfer, die bis in die Zeit der Reichskristallnächte reichen. Daneben zeichnet sie auch ein Bild des vielfältigen Rassismus der Zeit des 20. Jahrhunderts, indem etwa ein Mahmoods Freund und Barbesitzer Berlin von seinen Erfahrungen als Schwarzer bei der Hagenbeck’schen Völkerschauen erzählt.
Langsam entwickelt sich das Buch von der Ausgangssituation über die Inhaftierung Mattans bis hin zum Prozess, in dem Nadifa Mohamed auch Zeugenaussagen in den Text einbringt. Dass es mit dem widerständigen und halbseidenen Geist von Tiger Bay kein gutes Ende nimmt, das zeigt schon die Geschichte. In ihrem Buch wird aber die ganze Wucht und Hintergrundgeschichte mit dem Mittel der Fiktionalisierung noch einmal ganz direkt erlebbar. Die Polizei und Justiz, die nur sehen wollen, was sie sehen, dass rassistische Umfeld, die somalische Gemeinde und alle anderen Beteiligten bekommen hier ihren Platz und werden in die Geschichte eines großen Justizirrtums eingebunden (beileibe im Übrigen nicht der einzige Fall eines Justizirrtums aus Tiger Bay, wie der Fall der Cardiff Five zeigt)
Keine ganz gelungene Übersetzung
Leider ist die Übersetzung in meinen Augen nicht ganz gelungen, ständig ist neben vielfältigem rassistischen Vokabular die Rede auch von Farbigen, wenn doch eigentlich Schwarze gemeint sind. Auch wird aus dem Charakter Monday dann schon mal Montag, was mich im Lesefluss dann doch recht stutzen ließ. Diese kleinen Inkonsistenzen und eigenwilligen Übertragungen zeigen auch hier, wie schwierig die angemessene Übertragung solcher Begriffe und Idiomen die deutsche Leserschaft ist (was ja nicht nur hier der Fall ist, sondern auch in anderen Übersetzungen zeigt, dass uns im Deutschen noch immer noch nur unzureichendes Vokabular zur Verfügung steht beziehungsweise die Debatten über angemessene Übertragungen kaum in Gang kommen).
Das schmälerte meinen Genuss der Lektüre etwas, dennoch hat Der Geist von Tiger Bay durch seinen historischen Hintergrund und den Einblick in das gedrängte Treiben dort im Hafenviertel von Cardiff spätestens ab der Hälfte Wucht und lässt einen nach dem Ende der Lektüre bedrückt zurück. Die Geschichte eines Justizirrtums und ein Blick in tief hinein in die Tiger Bay im Jahr 1952.
- Nadifa Mohamed – Der Geist von Tiger Bay
- Aus dem Englischen von Susann Urban
- ISBN 978-3-406-77682-3 (C.H. Beck)
- 368 Seiten. Preis: 24,00 €
Quelle Titelbild: https://www.walesonline.co.uk/lifestyle/nostalgia/remembering-tiger-bay-historic-pictures-9927141