Monthly Archives: Januar 2016

Rückblick – Die Besten 2015

Die 10 besten Bücher des Jahres

Zugegeben, so ganz hab ich das mit dieser Liste bis zum Jahresende nicht ganz hinbekommen, dafür waren einfach noch zu viele Bücher zu lesen. Nun ist aber die Zeit gekommen, Rückschau zu halten und ein paar Titel hier nochmals aufzulisten, die mir dieses Jahr besonders viel Freude bereitet haben, mich besonders zum Nachdenken gebracht haben oder einfach gut unterhalten haben.
Einsteigen, Anschnallen, hier kommt meine Top Ten Liste: Nicht alle Titel sind frisch dieses Jahr erschienen, für eine Top 20 wären auch mehr als genug Bücher da gewesen, bei ungefähr 120 gelesenen Titeln hatte ich auch eine breite Auswahl. Hier jedenfalls die streng auf 10 Titel limitierte Liste (mit dem Klick aufs Cover kommt ihr zu den entsprechenden Rezensionen in Langform):

Platz 10
Richard Ford – Frank

Altherrenprosa eines grumpy, white old man, so dachte ich zunächst nach dem Studium des Klappentextes von Richard Fords Frank. Interessiert es mich wirklich, was ein amerikanischer Grummler im Ruhestand zu sagen hat? Absolut, wie ich nach der Lektüre dieses Buchs feststellen durfte. Vier etwa gleichlange Erzählungen bilden den Rahmen der Reflektionen von Frank Bascombe. Dieser muss sich mit dem Zerfall und der Endlichkeit auseinandersetzen, vanitas und memento mori in den Vereinigten Staaten. Ob er Veteranen am Flughafen begrüßt oder ob der Hurrikan Sandy nicht nur Franks ehemaliges Zuhause vernichtet – Franks Erlebnisse sagen viel über den momentanen Zustand Amerikas aus und sind darüber hinaus wirklich exzellent zu lesen.

Platz 9
Michael Robotham – Um Leben und Tod 

Was bringt einen Menschen dazu, ein paar Tage vor seiner finalen Haftentlassung zu fliehen und alles aufs Spiel zu setzen, was er hat?
Diesen Gedanken spinnt Michael Robotham in seinem Thriller Um Leben und Tod durch und serviert uns mit Audie Palmer einen grundsympathischen Helden, den man trotz Ausbruch und Himmelfahrtsmission unterstützen möchte.
Michael Robotham kann einfach schreiben. Geschmeidig greift ein Rädchen ins andere, die eine Enthüllung führt zur nächsten. Mit hoher Präzision führt er den Leser durch den Plot und vermag das ein ums andere mal mit einem Hakenschlag zu überraschen und dabei die Figurentiefe nicht zu vergessen.
Zu Recht wurde dieser Roman auch mit dem Dagger-Award als bester Krimi des Jahres ausgezeichnet!

Platz 8
Adam Johnson – Nirvana

Kurzgeschichten sind immer ein Thema für sich. Oftmals hat man das Gefühl, der Autor sei mit dem Besen durch die Schreibstube gefegt und hätte alle Überreste, Manuskriptschnipsel und Ideenfragmente zusammengekehrt und in Form eines Kurzgeschichtenbandes Reibach machen wollen. Bei Adam Johnson hatte ich dieses Gefühl zu keiner Zeit. Souverän, originell und toll geschrieben sind seine Kurzgeschichten, die lange im Gedächtnis bleiben.
Johnson erzählt von einer Flucht aus Südkorea, von einem uneinsichtigen Aufseher eines Stasi-Gefängnisses oder von der Krebserkrankung einer Frau, die mit einem Schriftsteller verheiratet ist (das alter ego des Autoren ist nicht von der Hand zu weisen).
Intensive, originelle und erinnerungswürdige Kurzgeschichten!

Platz 7
Adrian McKinty – Die verlorenen Schwestern

Adrian McKinty ist einer meiner absoluten Lieblingsautoren, der im Krimisegment einfach Maßstäbe setzt. So leicht wie er kann kaum ein Autor mit Form und Struktur spielen, pokulturelle Bezüge einflechten und die Leser auf gleichbleibendem Niveau unterhalten. Mit Die verlorenen Schwestern beweist er das erneut, der Roman ist ein verzwickter Krimi im Krimi. Erst wenn der katholische Bulle Sean Duffy ein altes Rätsel um einen Mord in einem von innen verschlossenen Pub löst, kann er in seinem aktuellen Fall einem Bombenleger das Handwerk legen. Große Krimikunst und dazu noch unglaublich unterhaltsam und auch in Sachen Anspielungen auf die Kunst und Kultur der wilden 80er sehr unterhaltsam.
Der für mich bislang beste Buch der vier Titel der Reihe bislang.

Platz 6
Karl-Ove Knausgård – Lieben

Selten hat mich ein Buch zuletzt so aufgewühlt und die Vorlage dafür gegeben, meine eigenen Gedanken und Vorstellungen zu hinterfragen. Schuld daran ist der Norweger Karl-Ove Knausgård und seinen autobiographischen Erinnerungen. Mit seinem ersten Buch Sterben kriegte er mich noch nicht so wie mit diesem Titel. Die Lektüre dieses über 750 Seiten starken Titels zog sich bei mir über mehrere Wochen. Aber immer wieder wenn ich zu diesem Titel griff hatte ich schon nach einigen Seiten und geschilderten Szenen den Eindruck – das kenne ich, hier finde ich mich wieder. Knausgårds Reflektionen sind teils banal, teils philosophisch, auch beschreibt er ungeschönt das Leben und wie sich die Liebe bei ihm äußert. Eine großartige Reflektionsvorlage und ein Dokument der Liebe und ihrer Bedeutung für ein Individuum.

Platz 5
Steffen Kopetzky – Risiko

Dieses Buch war meine erste Begegnung mit Steffen Kopetzky, und auch einer Lesung mit dem Pfaffenhofener Autoren durfte ich in diesem Jahr beiwohnen. Sein Risiko ist ein episches Breitwandabenteuer, ein Roman für Karl-May- und Spionage-Fans und so faszinierend wie facettenreich.
Er erzählt von einer ebenso verzweifelten wie mutigen Expedition, die den Schiffsmaat und Funker Sebastian Stichnote von den Schiffen Breslau und Göben über Istanbul durch die Wüste bis Afghanistan führen wird.
Liebe, Verschwörung, Kämpfe, Verfolgungen – in diesem Roman gibt es alles. Übergreifendes Motiv ist das Spiel Risiko oder wie es damals hieß Das große Spiel. Ein toller Schmöker, in dem man nächtelang versinken kann und sich an der Sprache delektiert. So muss ein historischer Roman sein!

Platz 4
John Williams – Butcher’s Crossing

Auf der Nummer 4 kurz vor dem finalen Treppchen findet sich ein Roman, der 2015 nach einem langen Dornröschenschlaf von Bernhard Robben neu ins Deutsche übertragen wurde und nach dem großartigen Stoner als zweite Perle von John Williams jetzt neu entdeckt wurde. Nach dem Lebensweg in Stoner (Farmerjunge wird Universitätsdozent) geht es jetzt für Andrews den umgekehrten weg. Von der Uni aus bricht er auf, um sich als Mann zu beweisen und Büffel zu jagen.
Doch sein Trip in die große Wildnis und sein Plan zur Büffeljagd werden schnell zu einem existenzialistischen Kampf ums Überleben, als seine Mannschaft vom Schnee in den Bergen überrascht wird und die Natur unbarmherzig zurückschlägt. Meine Wiederentdeckung des Jahres!

Platz 2
Joachim Meyerhoff – Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke

Bei diesem dritten Band von Meyerhoffs Erinnerungen stimmt alles: Timing, Pointen und Nostalgie. Sein Buch ist eine warmherzige Hommage an seine Großeltern und zugleich seine Zeit an der Otto-Falckenberg-Schauspielschule in München.
Selten musste ich in letzter Zeit bei einem Buch so viel lachen und dann wieder wehmütig an die Zeit mit den Großeltern zurückdenken. 
Meyerhoff gelingt der Spagat zwischen Erinnerung, Pointengewitter und nüchterner Betrachtung anstelle von verklärtem Kitsch.
Das Beste seiner bislang drei erschienenen Bücher. Dieses Buch sollte verschenkt, gelesen und dann wieder verschenkt und gelesen werden. Großartig!

Platz 2
Anthony Doerr – Alles Licht, das wir nicht sehen

Ich weiß nicht, wann mich ein Buch zuletzt derart beeindruckt hat, mich mitzittern ließ, mich in seine Welt zog und heftig schlucken ließ. Bei Alles Licht, das wir nicht sehen ist genau dies im Sommer 2015 der Fall gewesen. Obwohl man natürlich einwenden könnte – schon wieder ein Buch über den Zweiten Weltkrieg, ist das wirklich noch notwendig und lohnend? Ja, wenn es so toll erzählt ist, wie Anthony Doerr es tut. Wie meisterhaft er die zwei Erzählstränge von Werner Hausner und Marie-Laure gegeneinander verschneidet und sie vom Ruhrgebiet und Paris nach Saint-Malo gelangen lässt, das ist große Literatur und absolut mitreißend. 
Neben Ralf Rothmanns Im Frühling sterben dieses Jahr der beste Titel über ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte!

Platz 1
Anthony Marra – Die niedrigen Himmel 

Ein Buch, so gut, dass ich es in der Mitte abbrach um noch einmal von vorne beginnen zu können. Eine Sprachmacht, die seinesgleichen sucht. Der für mich best-konstruierte Roman, den ich dieses Jahr lesen durfte, dessen Faszination mit dem Voranschreiten jeder Seite steigt. Virtuos springt Marra zwischen den Zeiten hin und her, reißt einzelne Schicksale an, lässt Verknüpfungen langsam entstehen und zeigt mehr als eindrücklich, dass Heldenmut, Nächstenliebe und Courage auch in schwersten Zeiten Bestand haben können. Sein eindringliches Portrait des Tschetschenienkriegs und des Lebens der Menschen unter schwierigsten Bedingungen ist so eindrücklich wie fesselnd, es ergeben sich Querverbindungen und man hat den Eindruck, dass alles mit allem zusammenhängt. Mein Lieblingstitel des Jahres – dieses Buch werde ich auch definitiv noch das ein ums andere Mal in die Hand nehmen!

Welche Bücher haben euch dieses Jahr über die Maßen begeistert? Welche Titel vermisst ihr auf der Liste? Ich freue mich auf eure Anregungen!

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Karl-Ove Knausgård – Spielen

Eine norwegische Kindheit

 „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Friedrich Schiller :  Über die ästhetische Erziehung des Menschen.

Friedrich Schiller fasste schon Ende des 18. Jahrhunderts zusammen, was der norwegische Bestseller-Autor Karl-Ove Knausgård im dritten Teil seines Min-Kamp-Zyklus‘ mit der deutschen Übersetzung Spielen bestätigt.

 

Um dieses ehrliche, unbändige Spielen zu betrachten, begibt sich Knausgård tief hinein in seine Erinnerungen an seine Kindheit. Spielen im Park, Herumstrolchen, erste Erfahrungen des eigenen Körpers – all das packt er wieder hinein in dieses wilde literarische Kaleidoskop , wie er es zuvor schon mit den Themen Sterben und Lieben getan hat.

In einem wilden Erinnerungsstrom gedenkt er seiner ruhigen Kindheit in Norwegen, dem Aufwachsen in einem strengen und disziplinierten Haushalt und die Freundschaften und Streifzüge, die er im Laufe seiner Schulzeit unternahm.

Erkundungen einer Müllkippe, Beschreibungen der Urlaube auf dem Bauernhof der Großeltern oder Schikanen seines disziplinversessenen Vater, unter denen Karl-Ove ständig leiden musste.

Neben alltäglichen Betrachtungen stehen auch hier wieder existenzialistische Einsichten, Überlegungen und Gedanken, die den Leser in Knausgårds Welt einladen und unwiderstehlich in eigene Erinnerungen überführen. Für mich bietet das autobiographische Romanprojekt Knausgård stets viele Reflektionsvorlagen und schleuderte mich durch die Beschreibung  alltäglichen Ereignisse direkt wieder zurück in die eigene Kindheit und jene Tage, in denen die Tage scheinbar endlos waren und an jeder Ecke Überraschungen und spannende Streifzüge lauerten.

Dieses ehrliche, ungefilterte und echte Spielen – Knausgård holt es wieder hervor und versetzt den Leser damit selbst wieder in seine Kindheit. Erneut eine superbe literarische Reflektionsvorlage für die eigene Biographie!

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Eleanor Catton – Die Gestirne

Sternenstaub

Es ist ein Bild, das Künstler in Öl hätten malen können: Eines Abends 1866 im Januar betritt Walter Moody im Städtchen Hokitika in Neuseeland das Crown Hotel. Eigentlich möchte er nur Ruhe finden und einen Drink zu sich nehmen, doch als er das Raucherzimmer des Hotels betritt, stört er eine illustre Versammlung, die durch das Auftauchen des Glücksritters im Hinterzimmer beträchtlich in Aufregung gerät.
12 Männer haben sich im Raum versammelt, um mysteriösen Dingen auf den Grund zu gehen. Es geht um verschwundenes Gold, eine bewusstlos aufgefundene Hure, verschwundene Frachtkisten, einen toten Einsiedler, dubiose Dokumente, einen verschwundenen Goldschürfer und dergleichen mehr.
Dies klingt nicht nur kompliziert – es ist es auch. Doch die Versammlung der 12 Männer zieht nach den anfänglichen Irritationen Walter Moody schnell in ins Vertrauen. Einer nach dem anderen enthüllt in seinen Ausführungen, welche Ereignisse dafür gesorgt haben, dass die Männer just an jenem Abend im Crown Hotel zusammenkamen.

Von Sternen und Strängen

Eleanor Cattons Roman (fabelhaft ins Deutsche übertragen von der Dickens-Übersetzerin Melanie Walz) ist ein Buch, das sich schwerlich in Worte packen lässt. Inhaltlich verschränkt die junge Autorin Astronomie, den neuseeländischen Goldrausch, einen Krimi und Astrologie zu einem höchst ungewöhnlichen Gemenge.
Mag man beim Lesen des Klappentextes dieses Romans auch den Eindruck bekommen, es handele sich bei Die Gestirne alleine um einen Krimi oder eine Liebesgeschichte, so stellt man im Lauf der Seiten fest, dass sich das Buch ebenso strikt wie gekonnt einer Einordnung in ein Genre entzieht.
Die so plakativ beworbene Romanze rollt sich nur langsam auf und auch Krimileser dürften zunächst enttäuscht sein. Dabei hat das Buch doch eigentlich alles, was einen Krimi auszeichnet – verschwundene Personen, Mord, Geheimnisse allerorten.
So leicht macht sich es Eleanor Catton dann aber nicht (was man bei einem mit dem Booker-Preis 2013 ausgezeichneten Roman auch nicht erwarten sollte).
Den 12 Männern im Raucherzimmer ordnet sie individuelle Tierkreiszeichen zu, die die Handlung bestimmen. Einzelne Sternzeichen zueinander sind die Kapitelüberschriften und ähnlich einem Experiment stellt sie zunächst immer wieder die einzelnen Protagonisten gegeneinander auf, um ihre Beziehungen und Geheimnisse langsam zu entschlüsseln.

Der goldene Schnitt des Erzählens

Der goldene Schnitt bei einer Schnecke (c) Flickr

Der goldene Schnitt bei einer Schnecke (c) Flickr

Am Anfang liest sich das Ganze unglaublich statisch. Umständlich erläutert jeder Charakter Querverbindungen und Hintergründe. Ähnlich wie Walter Moody muss man erst einmal hinter die einzelnen Geschehnisse, Charaktere und deren Geheimnisse kommen.

Eleanor Catton lässt sich Zeit um die Fäden langsam zu entrollen. Wie bei einer Schnecke folgt Windung auf Windung.
Und die Schnecke ist auch ein perfektes Bild, um die Konstruktion des Romans zu erklären. Die knapp 1050 Seiten von Die Gestirne folgen nämlich einem klaren Muster. 12 Protagonisten gibt es, 12 Tierkreiszeichen beschreiben diese und folglich gliedert sich der Roman auch in 12 Abschnitte auf.
Von diesen ist jeder genau um die Hälfte kürzer als der vorangegangene. Einzelne Kapitel werden mit der antiquierten Technik der vorangestellten Zusammenfassung des Kapitels eingeleitet und kennzeichnen sich durch eine alte, aber nicht altmodische Sprache.
Der erste Teil und damit auch die ersten Kapitel des Buchs sind sehr lang, erst nach 460 sind die Hintergründe des Treffens im Crown Hotel erläutert und die einzelnen Figuren eingeführt,
um dann gegenläufig zu werden. Immer kürzer werden die Kapitel und die Abschnitte, sodass sich das Lesetempo mit dem Voranschreiten des Buchs steigert.
Für mich ist dies der goldene Schnitt des Erzählens, der hier höchst originell umgesetzt wird.

Ein Panoptikum des Goldrausches

Mit Die Gestirne ist Eleanor Catton einer der wohl ambitioniertesten und am sorgfältigsten komponierten Romane der letzten Jahre gelungen, dessen Auszeichnung mit dem Booker-Prize nur konsequent erscheint. Mich unterhielt das Buch nicht immer, gerade zu Beginn hätte ich mir mehr Tempo und weniger Statik gewünscht. Wie sich dann aber zum Ende des Buchs hin alles fügt und sich die Mühe und Akribie zeigt, die Catton der Konstruktion ihres Romans zugrunde legt, dies verdient allerhöchste Anerkennung.
Für mich ist dieses Buch, müsste man es zusammenfassen, ein literarisch ausgefeiltes Panoptikum des neuseeländischen Goldrausches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine Genreeinteilung schlägt für mich genauso fehl wie eine inhaltliche Eingrenzung dieses Mammutwerks. Sicher in seiner Form momentan ein Solitär in der Literatur!

 

Hier spielt „Die Gestirne“: Die Provinz Otago,in Neuseeland, ein Zentrum des Goldrausch               (c) Flickr/Craig Holloway

 

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