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Leander Fischer – Die Forelle

Was für ein Debüt! Knappe 800 Seiten dichtesten Textgewebes umfasst Leander Fischers Debüt Die Forelle. Es sind Seiten voller Sprachmacht, die die Kunst der Abschweifung und der Konzentration auf das Kleine feiern. Dem jungen Österreicher ist ein mehr als außergewöhnliches Buch gelungen. Nicht ohne Fehl und Tadel, aber von einer Gewagtheit und einem geradezu inkommensurablen sprachlichen und stilistischen Willen, der das Buch zu einem der außergewöhnlichsten in der deutschen Sprache macht, das dieses Jahr zu entdecken ist.


Bereits der Sturm und Drang-Dichter Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart wusste um die Tücke, die das Forellenfischen bereithalten kann. In seinem, durch die Vertonung von Franz Schubert später zu Weltruhm gelangten Gedicht Die Forelle heißt es da:

Ein Fischer mit der Ruthe
Wol an dem Ufer stand,
Und sah’s mit kaltem Blute,
Wie sich das Fischlein wand.
So lang dem Wasser Helle,
So dacht’ ich, nicht gebricht,
So fängt er die Forelle
Mit seiner Angel nicht.

Schubart, Christian Friedrich Daniel: Die Forelle, Strophe 2

Die hohe Kunst des Forellenfischens ist es, die auch Ich-Erzähler Siegi Heehrmann in Fischers Buch erlernen möchte. Nachdem er einst im Mozarteum die Erste Geige spielen durfte, so hat es ihn nun mitsamt seiner Frau Lena und den beiden Kindern in die Provinz des Salzkammerguts verschlagen. Dort verdingt er sich mehr schlecht als Musiklehrer für die Saiteninstrumente. Die Dörfler schicken ihre Kinder zu ihm, damit sie das Spielen der Instrumente erlernen.

Siegi selbst möchte auch etwas erlernen, nämlich die Kunst des Fliegenfischens. Dort im Salzkammergut gibt es jede Menge fischreiche Seen und Flüsse, allen voran die Traun, die das Gebiet durchzieht. Und am wichtigsten: dort im Salzkammergut wohnt Ernstl, ein Nestor des Fliegenfischens. Menschen aus aller Welt suchten seine Nähe, um sich von ihm in diese hohe Kunst einführen zu lassen. Nun fristet Ernstl seinen Lebensabend dort im Salzkammergut und Siegi wird zu seinem Meisterschüler.

Die hohe Kunst des Fliegenfischens

In der Traun und ihren zahlreichen Nebenflüssen tummeln sich die Forellen, die aber ein äußert gerissener Gegner sind. Um sie zu überlisten, braucht es einen kunstvoll gebundenen Köder. Langsam lernt Siegi die Kunst der perfekten Fliege. Egal ob Ritz D, Red Tac oder Charly Fly – will man die Forellen in den Flüssen erlegen, muss man sich der Kunst des Fliegebindens widmen. Und Siegi ist gewillt, sich ganz dieser Kunst hinzugeben. Wenn es ihn auch von allen anderen Dorfbewohnern, den schlagenden Mitgliedern des Fischereivereins oder von seiner eigenen Frau entfremdet. Die Jagd nach der Forelle erfordert völlige Hingabe – und Siegi Heehrmann ist bereit, diese Hingabe zu erbringen.

Wo fängt man bei der Besprechung eines solchen Kalibers von Buch an, wo hört man auf? Am besten mit einer Eingrenzung der Zielgruppe, die dieses Buch goutieren dürfte. Und damit verbunden auch mit einer Ausgrenzung.

Denn ziemlich klar ist, für wen sich dieses Buch nicht eignet. Menschen, die gerne auf den Punkt kommen, es kurz und bündig mögen, die Struktur und klar verfolgbare Erzählstränge schätzen. All sie sollten an dieser Stelle lieber die Lektüre dieser Rezension abbrechen und den soeben geöffneten Tab besser schließen. Denn an Die Forelle dürften sie keine Freude finden.

Dieses Buch ist nicht nur aufgrund seiner Laufzeit von knapp 800 Seiten geradezu maßlos. Barock, überbordend, vor Einfällen und stilistischen Inventionen sprudelnd ist die Prosa Fischers. Einen klaren Handlungsbogen konnte ich, von einigen wenigen äußeren Begebenheiten abgesehen nicht erkennen. Zwar tragen seine Kapitel sprechende Überschriften wie Siegi findet sich langsam mit dem Attentat auf sein Auto ab oder Nina findet sich in der ernstllosen Zeit gut zurecht. Damit ist dann aber auch oftmals der wirklichen Handlung Genüge getan und Fischer verfolgt unbeirrt sein abschweifendes Erzählen, das eines der Hauptmerkmale des Buchs ist.

Magischer Realismus im Salzkammergut

Leander Fischer beherrscht die hohe Kunst der Abschweifung virtuos. Da kann es schon einmal sein, dass Siegi beim Fischen mit einem Freund von einer Forelle unter Wasser gezogen wird und dann seitenweise durch das Wasser geschleift wird. Der kleine Wassermann trifft auf die Gewässer der Traun.

Oder Fischer verfolgt sprachmächtig den Flug eines Schleimklumpens, der beim Sprechen invertiert wird und in der Folge durch die Luft fliegt. Er erzählt von Fischern, Ködern, Schlachtern und Fischereiaufsichtsorganen und verliert sich dabei immer wieder in seinen Schilderungen.

Aus der normalen Handlung heraus verkettet er verschiedene Ereignisse, die er hingebungsvoll verfolgt und so seine eigentliche Geschichte immer mehr ad absurdum führt. Der 1992 geborene Österreicher kommt so erzählerisch vom Hölzchen aufs Stöckchen. Bestes Beispiel ist eine wilde Räuberpistole, die Siegi von einem fischenden Grafen erzählt wird.

Dieser befindet sich in Kanada auf einer Angeltour, als ihm ein Lachs vor die Angel schwimmt. Dieser Lachs wird dann allerdings von einem hungrigen Bären verspeist, ehe der Graf den Salmoniden für sich in Anspruch nehmen kann. Und so jagt der Graf dann den Bären, der den Lachs im Magen hat, der wiederum die Fliege des Grafen zwischen den Kiemen hat. Eine aberwitzige Geschichte, die sinnbildlich für das Erzählen Fischers steht.

Wer Freude an solchen barocken Fantastereien und Abschweifungen hat, der ist mit diesem Buch gut beraten. An vielen Stellen findet auch magischer Realismus in die Erzählung, etwa wenn die Perspektiven zwischen Fischer und Fisch verschwimmen. Auch springt Leander Fischer immer wieder in seiner erzählten Zeit (die nur an wenig Stellen wirklich konkret und klar wird) zurück bis in die Zeit des Nationalsozialismus. Die Verflechtungen der Vergangenheit mit der Gegenwart werden an vielen Stellen von Die Forelle herausgearbeitet.

Ein Heimatroman 2.0

So erschafft Fischer ein Werk, das ich als Heimatroman 2.0 bezeichnen würde. Er stellt sich den Abgründen der Vergangenheit und erzählt auch von den weniger pittoresken Seiten des Salzkammerguts. Innovativ bricht er tradierte Formen der Heimaterzählung auf, bedient diese dann an anderen Stellen aber auch wieder ungebrochen.

Ergebnis ist ein Buch, das sich einer klaren thematischen Einordnung ebenso bewusst entzieht wie einer genauen zeitlichen Einordnung oder einer Genrezuteilung. Dieser Text zieht gerade aus seiner Wandelbarkeit, seinem Verwischen der verschiedenen Srachen- und Handlungsbenen seinen Reiz. Ein Merkmal, das auch die Jury des Bachmannpreises 2019 beschäftigte, der Fischer einen Auszug aus dem Anfang seines Romans präsentierte und damit auch den Publikumspreis beim Wettlesen gewann.

Sprachmächtig fabuliert Fischer, zeigt sich unglaublich wenig und benennungsstark, weiß von Ködern wie Ritz D oder Red Tac, Vorfach, fängigen Stellen, Gumpen und Katarakten zu erzählen. Die Varianz, die seine Prosa besitzt, ist mehr als bewundernswert und zählt zu dem Beeindruckendsten, das ich dieses Jahr lesen durfte. Von endlosen Bandwurmsätzen über reine Monologe oder Austriazismen bis hin zu Ein-Wort-Sätzen, Neologismen und Passagen, die eine ganz eigene Syntax und Orthografie entwickeln – es ist alles drin in dieser Forelle.

Ein unangepasstes und unberechenbares Buch

Das ist äußerst beeindruckend, manchmal auch etwas manieriert und zu viel des Guten. Manchmal wäre zweifelsohne etwas weniger mehr gewesen. Weniger Abschweifung, weniger Sprachfuchserei, mehr Orientierungspunkte, Straffungen, klarere Personenzeichnungen oder gar Handlung. Perfekt ist das alles sicherlich noch nicht. Aber vor seiner ganzen Ambition, dem zur Schau gestellten Talent, der Unangepasstheit und der rauschenden Sprachmacht muss man doch den Hut ziehen. Diese Forelle ist ein wirkliches Meisterstück. Hier betritt ein Autor nicht zaghaft die literarische Bühne, nein, er tritt eine Tür mit lautem Getöse ein.

Freilich: auf dem Buchmarkt mit seinen Konventionen und passgenau zugeschnittenen Angeboten für die Zielgruppen dürfte es dieses unberechenbare Buch schwer haben. Umso schöner allerdings, dass auch die Jury des Österreichischen Buchpreises die Qualität dieses außergewöhnlichen Buchs erkannt hat und Leander Fischer den Preis für das beste Debüt des Jahres zugesprochen hat. Das ist mehr als verdient. Und wer den Mut aufbringt, in diesen wilden Erzählstrudel hineinzutauchen, der kann auch nicht anders als der Jury zuzustimmen.

Weitere Meinungen zu Fischers Debüt gibt es bei Neues Deutschland, dem Standard und der FAZ.


  • Leander Fischer – Die Forelle
  • ISBN 978-3-8353-3730-5 (Wallstein)
  • 782 Seiten. Preis: 28,00 €

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Anthony Doerr – Die Tiefe

Fünfzehn Jahre nach den tollen Kurzgeschichten im Band Der Muschelsammler gibt es nun neues Material von Anthony Doerr, einem der besten amerikanischen Schriftsteller der Gegenwart. Ursprünglich unter dem Titel Memory Wall erschienen, bleibt in der deutschen Version jene Novelle im Buch außen vor, erschien sie doch bereits letztes Jahr als eigenständiges Buch ebenfalls im C. H. Beck-Verlag (Deutsch erneut von Werner Löcher-Lawrence). Der Rest ist Tiefe.

Inhaltlich schlägt Doerr in seinen Geschichten einen weiten Bogen. Die Geschichten variieren in der Länge – von 14 Seiten (Entmilitarisierte Zone) bis zu einer mit 80 Seiten relativ langen Geschichte (Nachwelt) reicht der Umfang von Doerrs Erzählungen. Viele verschiedene Schauplätze versammelt Die Tiefe, mal spielt die Handlung in einem chinesischen Dorf, das wegen eines Staudamm-Projekts umgesiedelt werden soll (Dorf 113), mal dreht sich alles um ein kleines Mädchen, das in Die Memel nach Litauen zu ihrem Großvater zieht.

Allen Geschichten ist – unabhängig von ihrem Umfang aber – eine Intensität und Güte zueigen, wie sie nur große Schriftsteller erzeugen können (nicht umsonst wurde Doerr schließlich auch mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet).

Viele Motive in den Erzählungen kennt der geneigt Leser schon, denn Die Tiefe schließt nahtlos an die vor fünfzehn Jahren erschienenen Muschelsammler-Kurzgeschichten an. Mal dreht sich alles ums Angeln, mal kehrt Doerr in den Erinnerungen in die Zeit des Dritten Reichs zurück (hier blitzen viele Referenzen an Doerrs Meisterwerk Alles Licht das wir nicht sehen auf).

Bei allen unterschiedlichen Milieus und Zeiträumen ist es doch frappierend, wie gut es Doerr gelingt, in die Seelen seiner Protagonisten zu blicken. Ihm gelingen eindrucksvolle und berührende Szenen, die eigenes Kopfkino beim Leser entstehen lassen. Doerrs Kurzgeschichten sind Destillate, aus denen andere Autoren gleich zwei oder drei Romane gestrickt hätten – er hingegen besinnt sich auf den Kern guter Geschichten und schenkt uns hier gleich sechs Stück von besonderer Art und Güte.

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