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Dörte Hansen – Zur See

Mit ihren beiden bislang erschienen Romanen Altes Land und Mittagsstunde hat sich Dörte Hansen weit nach vorne in die Riege wichtiger deutscher Erzählerinnen katapultiert. Glänzend ihre Erzählweise zwischen Anspruch und Unterhaltung, mit der sie die Bestsellerlisten erklommen hat. Innerhalb kurzer Zeit wurden die beiden bislang erschienen Werke auch als Serie fürs Fernsehen (Altes Land) und als Verfilmung fürs Kino (Mittagsstunde) adaptiert. Nun liegt mit Zur See der dritte Roman der 1964 geborenen Autorin vor, der erwartungsgemäß aus dem Stand die Bestsellerlisten erklommen hat. Auch hier bleibt sie ihren Themen des norddeutschen Settings und der Beschreibung lebensnaher Charaktere treu. Und hat mich dennoch etwas enttäuscht.


Eine nicht näher benannte Nordseeinsel ist der Schauplatz von Dörte Hansens neuem Buch. Hier lebt die Familie Sander in dem wohl schönsten Haus der Insel, reetgedecktes Dach und Delfter Kacheln an den Wänden inklusive. Doch nicht nur der Knochenzaun, der das Haus umgibt, ist morsch. Auch die Familie im Inneren des Hauses leidet unter Auflösungserscheinungen.

So ist Jens Sander, der Ehemann von Hanne Sander und Vater der drei Kinder, schon vor längerem ausgezogen und lebt auf der kleinen Nordseeinsel Driftland als Vogelwart. Hanne hält derweil das Haus sauber und ist vor allem mit der Betreuung ihres Sohnes Ryckmer beschäftigt.

Dieser war einst Kapitän auf einem Nordseeschiff, doch seine Erfahrungen im Sturm haben ihn zum Alkoholiker gemacht, dem von seiner Mutter täglich sechs Flaschen Bier zugestanden werden, keine mehr und keine weniger. Nächtens erbricht er sich nach Exzessen schon einmal in die Rosen und unterhält an guten Tagen die Touristen, indem er die Rolle als Seemann gibt. Dabei hat er sein Kapitänspatent schon lange verloren.

Seine Schwester Eske pflegt im lokalen Altersheim die Senioren, Henrik ist als jünster ein arrivierter Künstler, der mit Treibgut Skulpturen formt, die sich die reichen Inseltouristen gerne in ihre luxuriösen Häuser stellen.

Während die Mitglieder der Familie Sander alle ihre Leben leben, kämpft der Inselpfarrer Matthias Lehmann derweil mit einer handfesten Glaubenskrise und seiner Beziehung zu seiner Frau und Töchter. Als dann ein Wal an den Strand der kleinen und so pittoresken Insel angespült wird, kommt einiges in Bewegung, auch bei Hanne und Jens.

Die Prägung der Heimat

Dörte Hansen - Zur See (Rezension)

Zur See ist ein Roman, der von der Prägung der Heimat erzählt, aber auch von den Gefahren, die ihr drohen. So ist Hansens nicht näher benanntes Eiland wohl auch mit einigen Parallelen zur Insel Sylt zu sehen, bei der die reichen Touristen und die dauerhafte touristische Ausbeutung längst alles Einheimische, Autochthone verdrängt hat und zur Kulisse werden hat lassen.

Dörte Hansen zeigt (ähnlich wie zuletzt auch Susanne Mathiessen) , wie die monetären Anreize durch die zahlungskräftigen Touristen langsam alles Einheimische Verdrängen, wie die Fischkutter und Kutschfahrten über die Insel längst zum Folklorekitsch geworden sind, die zwar ein einträgliches Auskommen bescheren, aber keinen Sinn. Sogar das letzte Inselwäldchen wurde hier verkauft – und beständig klopfen die Immobilienmakler an Hanne Sanders Tür und lassen ihren Briefkasten von Kaufangeboten überquellen.

Scharf auch ihre Blick auf die Rituale auf einer solchen Insel, etwa der Alkoholkonsum, der schon den jungen Konfirmanden eingeschrieben wird. Auch der Tourismus, der längst vom familiären Miteinander der Gästezimmer zu einer anonymen Beherbung anspruchsvoller Fremder geworden ist. Doch neben aller Kritik ist Zur See auch ein beobachtungsscharfes Buch, das dem Inselgeist nachspürt und dem, was im Verschwinden begriffen ist.

Die Kräfte der Insel

Es gibt auf einer Insel eigene Naturgesetze, eine andere Art der Schwerkraft und der Anziehung vielleicht. Gezeitenströme, die noch nicht verstanden werden. Einen unerforschten Sog, dem Heimweh ähnlicher, aber stärker.

Ein Mensch, der hier geboren ist, kehrt irgendwann zurück, lebendig oder tot, egal, wie weit er segelt und wie lange er verschwunden bleibt, so lautet ein Gesetz der Insel.

Und für die meisten gilt es noch. Nur wenn sie jung sind, wagen sie den Sprung aufs Festland. Manche bleiben dann und leben mit dem Heimweh wie mit einem Rheuma, das in Schüben kommt und geht.

Dörte Hansen – Zur See, S. 18 f.

Schade nur, dass Dörte Hansen allzu deutlich das Klischee der menschenscheuen und einsilbigen Norddeutschen auf die Spitze treiben muss. Jeder hier lebt für sich, stirbt für sich und lässt andere kaum in die Seele blicken. Die Nachbarin mit dem ausgestopften Dackel, die sich als ernährungstechnischer Messie entpuppt. Jens Sander auf seiner Vogelbeobachtungsstation. Eske Sander nacht allein im Altersheim. Hanne in ihrem viel zu großen Haus. Jens in seinem Atelier. Alle leben sie nebeneinander her, statt miteinander.

Dieser Roman kommt mir vor wie ein Schachbrett, auf dem Dörte Hansen filigran ihre Figuren aus einem Stück holz drechselt und die sorgsam ausgestalteten Figuren in Position stellt, aber nicht mit ihnen spielt, sondern sich in der Beobachtung des Spielbrett ergeht.

Die Figuren interargieren so rein gar nicht miteinander. Jeder lebt für sich, denkt und handelt alleine, niemand reagiert auf das Schicksal der anderen oder unternimmt einen Versuch der Gestaltung des eigenen oder fremden Schicksals. Das mag natürlich dem Klischee der Norddeutschen entsprechen, für einen gelungenen Roman war es mir aber deutlich zu wenig. Da kann selbst der angeschwemmte Wal nicht mehr für Abhilfe schaffen, der ebenso verloren am Strand liegt, wie es die übrigen Figuren in diesem Buch tun.

Fazit

Mit Zur See bleibt sich Dörte Hansen treu und erzählt abermals von einer Welt, die im Verschwinden inbegriffen ist. Statt auf dem norddeutschen Land ist es hier nun eben eine Insel, deren Rituale und Bewohner*innen sie höchst plastisch mit einem tollen Sprachzugriff schildert. Vom sich wandelnden Tourismus, der Kulisse und der Folklore, die man den Fremden vorgaukelt und von der Einsamkeit, die allen unglücklichen Familien auf ihre Art und Weise eingeschrieben ist, erzählt die Bestsellerautorin und wird damit viele Leser*innen wieder glücklich machen.

Und doch bleibt bei mir das Gefühl von verschenktem Potenzial, interagiert doch keine ihrer sorgsam entworfenen Figuren miteinander, leben alle für sich und und sind auf ihre Art und Weise unglücklich. Es ist ein Buch, das viel beschreibt und bei dem ich mir ein wenig mehr zwischenmenschliche Handlung gewünscht hätte, selbst wenn das dem Klischee der menschenscheuen und wortkargen Norddeutschen entsprechen mag.


  • Dörte Hansen – Zur See
  • ISBN 978-3-328-60222-4 (Penguin)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €

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Familienaufstellung mit Abgründen

Stephan Roiss – Triceratops

In our family portrait, we look pretty happy.
We look pretty normal, let’s go back to that

Pink: Family Portrait

Blickt man auf die Longlist des diesjährigen deutschen Buchpreises, so fällt auf, dass es ein großes, bestimmendes Thema gibt: Dysfunktionale Familien. Da ist Helena Adler, die in Die Infantin trägt den Scheitel links eine solche Familie heraufbeschwört. Hier die bigotte Mutter, da der dem Alkohol nicht abgeneigte Vater. Und mittendrin die Erzählerin, die mit kindlicher Präzision auf dieses familiäre Bildnis blickt. Auch die nächste Österreicherin auf der Longlist, nämliche Valerie Fritsch, hat sich dieses Themas angenommen. Auch bei ihr gibt es in Herzklappen von Johnson & Johnson Abgründiges aus dem Schoß der Familie zu entdecken. Sie erzählt über drei Generationen hinweg von gottesgläubigen Großmüttern, Großvätern mit Herzklappen und schmerzunempfindlichen Kindern. Und von dem, was Generationen verbindet und trennt.

Auch Bov Bjerg präsentiert in seinem nominierten Roman Serpentinen eine besondere Familienaufstellung. Er bringt seine Ahnenreihe auf folgenden Nenner:

„Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Pioniere“

Bjerg, Bov: Serpentinen, S. 5

Im Roman erzählt Bjerg von einem Vater und seinem Sohn, die einen Ausflug auf die schwäbische Alb unternehmen. Stets reist die Kenntnis um die suizidalen Tendenzen in der männlichen Ahnenreihe der Familie mit. Und dann ist da auch noch Stephan Roiss, der in seinem Debüt Triceratops einmal mehr von einer dysfunktionalen Familie erzählt.

Eine Familie mit Abgründen

Im Gegensatz zu den anderen Büchern ist die Erzählinstanz in Roiss‘ Fall allerdings ein Wir. Dieses Wir ist ein namenloser Junge. Seine ältere Schwester war ein Wunschkind, er ein Unfall. Die Mutter der beiden glänzt oftmals durch Abwesenheit. Der Grund: sie befindet sich in psychologischer Behandlung. Oder wie sie es später selbst formuliert:

„Keiner kann aus seiner Haut“, sagte Mutter. „Ich war doch krank. Das habe ich mir ja nicht ausgesucht.“

Sie massierte ihre schmalen Handgelenke.

„Mein Vater hat sich das auch nicht ausgesucht. Der Krieg hat ihn krankgemacht. Und dann hat mein Vater mir seine Krankheit vererbt und ich wiederum habe – „

Sie hielt einen Moment inne.

„Ich … Ich habe es von ihm gelernt und – „

Mutter presste die Augen zusammen. Die Nachbarin klopfte das Keschernetz auf den Terrassenfliesen aus.

„Ich habe euch so viel Liebe gegeben, wie ich konnte. Ich wollte nie irgendjemandem etwas Böses.“

Roiss, Stephan: Triceratops, S. 185

Der Großvater hat sich als Kriegsheimkehrer auf dem heimischen Hof erhängt. Die Tochter fand den Vater im Stall. Damals sei dann der Wahnsinn auf die Tochter übergesprungen, so erzählt man es sich. Und nun kämpfen Sohn und Tochter beide auf ihre eigene Art und Weise mit dem familiären Erbe. Dass dieser Kampf nicht für alle Beteiligten gut ausgehen wird, so viel sei an dieser Stelle verraten. Bei dem dunklen und düsteren Ton, der im Buch herrscht, überrascht das allerdings wenig.

Das Wir erzählt

Stephan Roiss hat ein Buch geschrieben, das tief hinabsteigt in die Abgründe einer Familie. Seine Figuren, allen voran der Ich-Erzähler, sind Figuren, die im Kopf bleiben. Diesen Effekt erzählt Roiss durch eine gewisse Beiläufigkeit, mit der manche krassen Begebenheiten geschildert werden. Zudem bedient er sich auch einer verknappten und gerafften Darstellung (auch das so ein Merkmal einiger Bücher auf der Longlist). Viele Seiten sind nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Schlaglichtartig skizziert Roiss Dialoge und Szenen, die gerade durch diese Prägnanz im Kopf bleiben.

Stephan Roiss - Triceratops (Cover)

Ganz schlüssig erscheint mir die gewählte Erzählform eines Wir allerdings nicht. Eine dissoziative Persönlichkeitsspaltung seines namenlosen Erzählers oder einen anderen zwingenden Grund für diese außergewöhnliche Erzählperspektive erschloss sich mir nicht. Hätte sich Roiss auf ein handelsübliches (und für mich besser lesbares) Ich oder Er beschränkt, hätte dieser Roman keinerlei Qualitätseinbußen verzeichnet.

Das ist aber auch schon der einzige Kritikpunkt, den ich für mich benennen kann. Ansonsten ist das Buch in seiner Stimmung und seinem Setting als Debüt mehr als beachtlich geraten. Tempo, Sound, Figuren – es stimmt alles. Zwar ist Triceratops alles andere als eine Feelgood-Lektüre. Aber als Schilderung einer österreichischen Familie mit schwerem Erbe weiß dieses außergewöhnlich erzählte Buch zu überzeugen. Und dass man sich gegen sein Schicksal nicht panzern kann wie ein Triceratops, das zeigt Roiss auch äußert eindrücklich. Zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wieder einmal eine echte Entdeckung des österreichischen Verlags Kremayr & Scheriau.


  • Stephan Roiss – Triceratops
  • ISBN 978-3-218-01229-4 (Kremayr & Scheriau)
  • 208 Seiten. Preis: 20,00 €

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