Flucht, ein großes Wort. Durch viele Debatten unserer Tage schon fast etwas abgenutzt, wird es in Uwe Wittstocks großartigem Werk Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur wieder unmittelbar erlebbar. Er erzählt davon, wie es war, als die Nazis Europa überfielen und Autor*innen, Politiker*innen und andere, dem Regime kritisch gegenüberstehende Menschen auf die Flucht vor sich hertrieben, bis nach Südfrankreich, wo sich der vermeintlich sichere Hafen Marseille zunehmend als Falle entpuppte.
Wie schon in seinem Bestseller Februar 1933 – Der Winter der Literatur gelingt Wittstock auch hier ein beeindruckendes und erschütterndes Panorama, das neben seinem facettenreichen Blick auf die Literaten auf der Flucht auch die Mitmenschlichkeit und die immense Leistung der Fluchthelfer würdigt.
Fast wie im Handstreich hatte Hitler Frankreich überfallen. Unter Umgehung der Maginot-Linie kämpften sich die Truppenverbünde durch die Ardennen und waren innerhalb weniger Wochen bis nach Paris vorgedrungen, das sie umgehend besetzten. Wie eine Bugwelle hatten die Truppen auch Fliehende vor sich her gespült, die die Nachricht vom Einmarsch der Nationalsozialisten in Frankreich in Alarmstimmung versetzte. Hatten sich intellektuelle Größen wie Heinrich Mann oder Lion Feuchtwanger in ihren Villen in Sanary-sur-Mer bei Nizza bislang sicher vor den von ihnen opponierten Nazis gefühlt, stellte sich diese Sicherheit nun als fataler Fehler heraus, als die feindlichen Truppen immer näher rückten.
Die Franzosen hatten der Übermacht der Deutschen wenig entgegenzusetzen und entschieden sich unter Federführung des Generals Pétain zur Kollaboration mit den Deutschen. Regimekritiker*innen wurden in Internierungslagern festgesetzt und sahen den anrückenden Deutschen mit Angst entgegen.
Die große Flucht der Literatur
Während bisher sicher geglaubte Strukturen und Gewissheiten zerfielen, begaben sich immer mehr Menschen auf die Flucht und strömten aus der französischen Hauptstadt und den besetzten Gebieten des Deutschen Reichs in den Süden, wo die Hafenstadt Marseille zum Zielort wurde, um dort dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entkommen.
Doch Sicherheit verhieß der Hafen von Marseille auch nur bedingt. Denn immer dichter zog sich das Netz der Nationalsozialisten um den Ort und verunmöglichte die Flucht vor den neuen Machthabern, die auf die Festsetzung ihrer Gegner hofften und die dafür auch die lokalen Behörden unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Es wurde zunehmend gefährlicher auf diesem Planet ohne Visum, wie der Autor Jean Malaquais Marseille in seinem 1942 spielenden und jüngst wiederentdeckten Roman nannte.
Während sich Größen wie Franz Werfel und dessen Frau Alma Mahler-Werfel mit dem umfangreichen Gepäck von zwölf Koffern auf die Flucht begaben, sich Anna Seghers in Paris versteckt hielt oder jüdische Denker*innen wie Hannah Arendt oder Walter Benjamin mit mehr oder minder nur ein paar Koffern die Flucht antraten, war es ein Amerikaner, der im Auftrag des von ihm initiierten Emergency Rescue Committee den Weg nach Europa antrat, um möglichst viele dieser bedrohten Geistesgrößen zu retten. Sein Name: Varian Fry.
Die Underground Railroad von Marseille nach Lissabon
Uwe Wittstock holt diesen vergessenen Helden der Geschichte in Marseille 1940 wieder ans Tageslicht und erzählt angenehm nuanciert von seinem hochgefährlichen Handeln, indem er vor Ort in Marseille mit Unterstützer*innen eine Art Underground Railroad aufbaute, die bedrohten Intellektuellen die Flucht von Frankreich nach Spanien und Portugal bis nach Amerika ermöglichte, darunter auch der schon erwähnte Heinrich Mann mit seiner Frau Nelly, der mit seinem Neffen Golo Mann und dem Ehepaar Mahler-Werfel am 13. September 1940 die herausfordernde Flucht über die Pyrenäen antrat.
Spannender als so mancher Thriller schildert Wittstock die enorme Gefahr, der sich die Flüchtenden und Fluchthelfer aussetzten, um die Sicherheit des spanischen Bodens zu erreichen, während die Überwachung durch die Nationalsozialisten und lokalen Behörden immer engmaschiger wurde.
Frappant die Bezüge zur Gegenwart, in der man zwar Fluchtursachen bekämpfen will, aber sichere Korridore und menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten zum No-Go erklärt, und sich stattdessen abschottet und ganz auf Abschreckung setzt.
Die Bedeutung des Wortes Flucht
Welch Schrecken, welche Entbehrungen und welche Notwendigkeiten hinter diesem Begriff Flucht stecken, Uwe Wittstock führt es eindringlich vor Augen.
Dafür wählt er den fast stakkatohaften Ton einer Schaltkonferenz, mit der er die Entropie der Fluchtbewegung in eine übersichtliche und bestechende Form bringt. Man springt im Fortgang der Tage von Schauplatz zu Schauplatz, bangt mit der untergetauchten Anna Seghers, begleitet Hertha Pauli und Walter Mehring auf ihrem Weg, sieht Varian Fry an der quälend langsamen Unterstützung seiner Arbeit aus Amerika fast verzweifeln. Immer wieder wechseln Schauplätze und Figuren und geben dadurch einen Eindruck, wie verzweifelt und nervös vibrierend es damals gewesen sein muss in ganz Frankreich und insbesondere in Marseille.
Mit der historischen Einbettung des überfallartigen Vorrückens der Deutschen im Sommer 1940 und Momenten der Weltgeschichte wie dem Überall Dünkirchens versehen verbindet Marseille 1940 Geschichte, Kultur und Schicksale zu einem beeindruckenden Panorama des Schreckens, aber auch der Hoffnung.
Denn Kunst und Kultur findet immer ihren Weg, kann aus dem Leid und den Erfahrungen auch großer erwachsen, wie Wittstock nicht nur am Beispiel Hannah Arendts oder dem Maler Max Ernst zeigt, dem seine Kunst sogar der Schlüssel für die geglückte Flucht nach Spanien ist. Auch das ist eine Lehre aus dieser so kenner- und könnerhaft erzählten historischen Rückschau.
Fazit
Uwe Wittstock verbindet in Marseille 1940, mit vielen Quellen und immenser Rechercheleistung verbunden die einzelnen Schicksale und Erfahrungen flüchtender Intellektueller und Geistesgrößen zu einem übergreifenden Panorama, das den Schrecken der immer näher rückenden Nationalsozialisten ebenso wie die Kraft der Flüchtenden eindringlich in Worte fasst. Mitreißend erzählt er Überlebensstrategien, Glück und Leid entlang der Fluchtrouten und von großen Namen ebenso wie von heute schon wieder dem vergessenen anheimgefallenen Literaten wie etwa Walter Hasenclever.
Nicht zuletzt würdigt Wittstocks Buch auch die immense Leistung Varian Frys, dem er postum Gerechtigkeit angedeihen lässt, indem er sein übermenschliches Handeln und seinen Mut in den Mittelpunkt seines Romans stellt und damit einen Menschen zeigt, der unbeirrt seinen Weg ging, indem er ihn anderen gefährdeten Menschen eröffnete.
Vor allem in diesen Tagen zunehmender Abschottung und eines Krieg mitten in Europa ist dieses Werk ein wichtiges, eindringliches und beeindruckendes Buch, dem mindestens der Erfolg zu wünschen ist, den Wittstock mit seinem vorherigen erzählenden Sachbuch landen konnte!
- Uwe Wittstock – Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur
- ISBN 978-3-406-81490-7 (C. H. Beck)
- 351 Seiten. Preis: 26,00 €