Tag Archives: RAF

Stephanie Bart – Erzählung zur Sache

Von wem geht hier die Gewalt aus? Stephanie Bart rekonstruiert in ihrem ebenso umfangreichen wie überfordernden, genauen wie stilistisch vielfältigen Roman Erzählung zur Sache den Kampf des Staates gegen die RAF – und den Kampf ihrer prägenden Figur Gudrun Ensslin.


Der Mythos der RAF alias Baader-Meinhof-Gruppe ist auch nach fünfzig Jahre ungebrochen. Bis in unsere Gegenwart hinein beschäftigen sich Literatur und Film mit dem Komplex. Beispiele der jüngsten Vergangenheit sind etwa die Tatort-Folge Der rote Schatten aus dem Jahr 2017, in der Dominic Graf im Korsett des Krimiklassikers einige Ungereimtheiten der Todesnacht von Stammheim thematisierte. Auch Drehbuchautor André Georgi widmete sich in seinem 2018 erschienen Thriller Die letzte Terroristin der RAF in Form der 3. Generation, genauso wie es einige Jahre vor ihm schon Wolfgang Schorlau mit Die blaue Liste oder Tanja Kinkel 2015 mit Schlaf der Vernunft tat.

Stephanie Bart legt nun mit Erzählung zur Sache eine Aufarbeitung des RAF-Komplexes in Romanform vor, die in ihrem Anspruch, ihrer literarischen Vielfältigkeit und ihrem Umfang auf dem deutschen Buchmarkt einzigartig sein dürfte.

Ausgehend vom Attentat der RAF auf die US-Kaserne in Heidelberg im Mai 1972 entfaltet Stephanie Bart ihr Panorama der RAF und ihres prominenten Mitglieds Gudrun Ensslin, das bis zur Todesnacht in Stammheim im Oktober des Jahres 1977 reicht.

Gegen das Schweinesystem

Dabei beschränkt sich Bart nur auf wenige Episoden der Außenhandlung. Der Anschlag in Heidelberg oder die Befreiung Andreas Baaders im Deutschen Zentralinstitut für Soziale Fragen 1970 bleiben kurze Momente im Roman. Der überwiegende Teil von Barts mit über 675 Seiten reichlich voluminösen Roman spielt hinter Gittern und erzählt von der ideologischen Denkarbeit Gudrun Ensslins, ihren Kämpfen gegen die Inhaftierung und dem Prozess in Stammheim, der eher einem Scheinprozess gleicht.

Stephanie Bart - Erzählung zur Sache (Cover)

Stephanie Bart denkt sich ganz weit hinein in ihre Figur Gudrun Ensslin, lässt durch sie die schikanösen Haftbedingungen erfahrbar werden, erzählt von ihrem intellektuellen Kampf gegen das „Schweinesystem“ und den Imperialismus und seine tausend Gesichter. Sie geht dabei genauso auf den ideologischen Hintergrund der RAF ein, wie sie auch Visionen der oftmals im Hungerstreik befindlichen Gudrun Ensslin schildert.

Auch der schikanöse Umgang des Rechtsstaats mit den Anwälten Croissant, Ströbele, Schily und Co ist in Erzählung zur Sache Thema – bis hin zu einer wortgetreuen Nachbildung der Redegefechte und juristischen Winkelzüge, mit denen die Justiz der RAF beikommen wollte.

Liest man Stephanie Barts Erzählung zur Sache, stellt sich schon nach wenigen Seiten die Frage, wie gerecht dieser Rechtsstaat in seinem Umgang mit den Gefangenen war – und wessen Verbrechen eigentlich schwerer wiegen. So erzählt Bart von den juristischen Winkelzügen, mit denen man kurzerhand die Briefe Ensslins an ihren Verlobten Baader einbehielt, wie die Justiz illegale Abhörungen durchsetzte und gegen die Anwälte der Beschuldigten ebenfalls einen regelrechten Krieg führte, der eines Rechtsstaat nicht würdig war.

Juristische Schikanen und zweifelhafte Winkelzüge

Verhaftungen, Durchsuchungen der Anwaltskanzleien, Schikanen im Gefängnis, illegale Abhörungen, Verweigerung von Privatsphäre und anwaltlichen Gesprächen, bis hin zum Niederbrüllen der Einwände, Befangenheitsanträge und hinterhältige Tricks des Vorsitzenden Richters Prinzing, um die Anwälte vom Verfahren auszuschließen. Liest man diese an dutzenden Seiten an Wortgefechten und Paragrafenreitereien, die die Intensität von Dokumentartheater und Gerichtsprotokollen besitzen, wird die aufgeheizte Stimmung im Gericht und in der Bundesrepublik der 70er Jahre wieder unmittelbar erfahrbar.

Wurde während der Corona-Pandemie über die Verhältnismäßigkeit der Mittel des Rechtsstaates debattiert, zeigt sich bei im historischen Rückblick Stephanie Bart ein Rechtsstaat, der sämtliches Gespür für Maß und Mitte verloren hat. In ihrem literarisch vielstimmigen Re-Enactment des damaligen Prozessgeschehens nimmt sie einen direkt mit in den Gerichtssaal und die Gefängnisgänge in Stammheim, vermischt ideologisches Manifest, Knasterzählung, Gerichtsprotokoll und Reflektion über Recht und Unrecht bis hin zu einer Fortführung der von Ensslin und Co geübten Imperialismuskritik, die Bart bis in unsere Tage verlängert, etwa wenn die chinesische Firma Foxconn ihren Auftritt hat, die durch unzählige Suizide ihrer Belegschaft angesichts des Fertigungsdrucks für Kapitalismustreiber wie die Firma Apple in die Schlagzeilen geriet.

Eine mehr als herausfordernde Lektüre

Eines soll an dieser Stelle aber auch nicht verschwiegen werden: Erzählung zur Sache ist fordernde und harte Lesearbeit. So stilistisch elegant und einnehmend wie Barts vor knapp zehn Jahren erschienener Roman Deutscher Meister ist ihr neues Buch nicht. Nicht nur optisch ist dieses Buch kantig, setzt auf eine Vielzahl von Stilen und ein springendes Wir als Erzähler, mischt Stile und Gattungen, kombiniert Umdichtungen von Liedern mit Dialogprotokollen.

Zahlreiche historische Figuren wie der Philosoph Jean-Paul Satre haben ihren Auftritt. Überhaupt, der philosophische Überbau. Von Frantz Fanon bis Rosa Luxemburg reicht das Geflecht an Denkern und Theorien, mit denen Bart ihre Leser*innen fordert. Erzählung zur Sache setzt viel Wissen zur RAF und dem Geschehen der 70er Jahre voraus und empfiehlt sich einem Publikum, das durch Stefan Austs Klassiker der Geschichtsschreibung und die ein oder andere Dokumentation schon vorgebildet ist, zu fragmentarisch bleibt bei dieser Ideengeschichte des linken Terrors und dem Kampf gegen Imperialismus und faschistische Kontinuitäten der geschichtliche Rahmen, der sich auf kleine eingestreute Randbemerkungen beschränkt.

Fazit

Erzählung zur Sache ist ein Solitär in der Literaturlandschaft – sowohl was die Bearbeitung des RAF-Komplexes in literarischer Form, als auch die Herausforderung in Sachen Anspruch und erzähltem Inhalt betrifft. Stephanie Barts widersetzt sich allen Erwartungen an Gefälligkeit und taucht ganz tief ein in Ideologie und Denken der Gruppe in Form ihrer prägenden Figur Gudrun Ensslin. Genauso nimmt sie die Leser*innen mit in die Gänge von Stuttgart-Stammheim und die Gerichtssäle, in denen der Staat mit unlauteren Mitteln der Gruppe Herr werden wollte, wie Bart in Erzählung zur Sache zeigt.

Ihr gelingt ein monumentaler, literarisch vielseitiger, herausfordernder und bisweilen auch ermüdend genauer Roman, der das Wirken der Gruppe in den Jahren 1972 bis 1977 beschreibt, darüber hinaus auch auf unsere Gegenwart schielt, in der Imperialismus, rechte Umtriebe und Kapitalismus immer noch zu den Wesensmerkmalen der „BRD“ gehören.


  • Stephanie Bart – Erzählung zur Sache
  • ISBN 978-3-96639-078-1 (Secession)
  • 678 Seiten. Preis: 28,00 €
Diesen Beitrag teilen

André Georgi – Die letzte Terroristin

Da ist er endlich, der Thriller, auf den ich lange gewartet habe. Zuletzt hatte ich keine gute Phase mit Spannungsromanen aus deutschen Landen. Zu bräsig, sprachlich zu durchschnittlich, der Plot zu unterambitioniert. Und nun kommt dieses Buch ums Eck – Die letzte Terroristin von André Georgi.

Im Spannungsgeschäft ist der Name Georgis wahrlich kein unbekannter. Er schrieb zahlreiche Drehbücher zu Folgen des Tatorts oder Bella Block. Auch formte er die Geschichten aus den Kurzgeschichtensammlungen Ferdinand von Schirachs zu Filmen um. Ebenso hat Bielefelder Autor bereits einen Thriller im Suhrkamp-Verlag publiziert, er trägt den Titel Tribunal und ist ebenso hart wie gut.

Sein Faible für die Brandherde der 90er Jahre lebt Georgi auch in seinem neuen Buch aus. Es entführt zurück in die Postwendezeit und setzt sich mit der 3. Generation der Roten Armee Fraktion auseinander. In Georgis Buch werden deren Geschichte und Taten wieder lebendig.

Den Kern seines Thrillers bildet der ungleiche Kampf zwischen den im Untergrund operierenden Mitgliedern der RAF und dem BKA in Gestalt des Ermittlers Andreas Kawert. Dieser macht, getrieben von seinem Chef und der Öffentlichkeit, Jagd auf die Terroristin. Doch trotz des Einsatzes von Datenverarbeitung und vielen personellen Ressourcen gelingt es den RAF-Mitgliedern immer wieder, erfolgreiche Anschläge auf hochgestellte Persönlichkeiten der Bundesrepublik zu verüben. Besonders der im Osten verhasste Treuhandchef Dahlmann gerät in den Fokus der Terroristen.

Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder
(Bundesarchiv, Bild 183-1990-0821-025 / Lehmann, Thomas / CC-BY-SA 3.0)

Die Wegmarken Treuhand-Chef, 3. Generation RAF oder Überfall auf die Airbase in Frankfurt am Main lassen es schon erahnen – auch wenn Georgi mit Pseudonymen arbeitet und seine künstlerische Freiheit geschickt nutzt: Die letzte Terroristin ist extrem nah entlang der Realität und den historischen Fakten gebaut. Dabei verliert sich der Roman allerdings nie in bloßem Dokutheater, sondern ist rasant konstruiert und weist eine fesselnde Erzählweise auf.

Hätten Stefan Aust, Dominik Graf und Tom Tykwer zusammengesessen, um einen Thriller über die 3. Generation der RAF und die verkrusteten Strukturen der Postwendezeit zu entwickeln, dann wäre wohl dieses Buch dabei entstanden. Dabei überzeugt neben Plot und fein nuancierter Personenzeichnung endlich auch einmal wieder die Sprache eines Thrillers. Georgi gelingt sowohl die plastische Beschreibung von Actionszenen, als auch die tiefergehende Analyse der RAF-Mitglieder und ihrer Gegenspieler, ohne dass der Plot Unwucht bekäme.

Erst später sollten sie begreifen, dass sie in dieser Nacht den größten Fehler machten, der der RAF jemals unterlaufen war. Alles, was die RAF zwei Jahrzehnte lang getan hatte, hatte aus der immer schmäler werdenden Kluft zwischen Terror und Mord heraus gelebt. Eine Unterscheidung, die das Land in diejenigen spaltete, die diese Unterscheidung akzeptierten, und diejenigen, die sie von Anfang an bekämpften. Eine Kluft, die das Land zerreißen sollte, das war der Plan, eine für die historische Dialektik notwendige Negation, aus der heraus Geschichte gemacht werden sollte. In dieser Nacht aber fiel die Unterscheidung von Terror und Mord mit einem Schlag in sich zusammen. Die Kinder der dritten Generation fraßen ihre eigene Revolution und mussten fortan Depots unter Strommasten anlegen und in die DDR fliehen, weil die Türen der WGs und der besetzten Häuser und der Studentenbuden und der Ferienhäuser linker Redaktionen und der Pfarrhäuser plötzlich neue Schlösser trugen, zu denen die alten Schlüssel nicht mehr passten.

Georgi, André: Die letzte Terroristin, S. 341

Ob die kommende zweiteilige Verfilmung des Thrillers mit Ulrich Tukur und Petra Schmid-Schaller der Vorlage Georgis gerecht werden kann, bleibt abzuwarten. Es dürfte aber schwer werden, angesichts dieses Kopfkinos, das Georgi bei mir entfesselte. Ein deutscher Top-Thriller auf erfreulich hohem Niveau!

 

Diesen Beitrag teilen