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Meine besten Bücher 2022

Viel habe ich auch im vergangenen Jahr gelesen und auch viel besprochen. Über 100 Rezensionen sind neben Meinungsstücken, Vorschauberichten und Co. zusammengekommen. Dabei ist dieses Jahr zum ersten Mal ein Schwerpunkt bei den weiblichen Erzählerinnen, von denen ich mehr Bücher besprochen habe denn von männlichen Autoren. Dass dabei viele Highlights darunter waren, die dementsprechend auch die Liste dominieren, das sollte nicht überraschen. Besonders konnten mich in diesem Jahr auch die Verlage Ullstein und Hanser mit ihrem Programm überzeugen. Auch das schlägt sich in der Auswahl nieder.

In der Rückschau sind es die folgenden sechzehn Bücher, die ich zu meinen persönlichen Highlights des Jahres zähle und dementsprechend noch einmal kurz würdigen möchte. Bücher, die über die Lektüre und weit darüber hinaus in meinem Kopf blieben und denen eine Qualität innewohnt, die sie auch über kurzlebige Trends erhebt und von denen ich mir sicherlich den ein oder anderen Titel auch ein zweites Mal vornehmen werde.

Ausführliche Besprechungen und bibliographische Daten finden sich wie immer nach einem Klick auf die entsprechenden Cover. Nun hier also mein literarisches Best of des Jahres 2022:

Percival Everett – Erschütterung

Percival Everett - Erschütterung (Cover)

Dieses Buch habe ich gleich zu Beginn des Jahres gelesen – und es ist bei mir in Gedanken geblieben, bis zum Ende des Jahres. Percival Everett gelingt es in Erschütterung, die Geschichte des Universitätsprofessors Zach Wells mitreißend zu erzählen, obwohl dessen Lebenswelt und Schicksal so gar nichts Mitreißendes an sich hat. Wie er diesen Zach Wells zeigt, der sämtlichen Halt im Leben verliert, das ist große Kunst. Dabei verschmilzt Everett Themen wie Migration, Campusroman und Krankheitsgeschichte miteinander. Was freue ich mich schon auf den neuen Roman von Everett, der schon bald abermals bei Hanser erscheinen wird!

Annika Büsing – Nordstadt

Mit Nordstadt hat Annika Büsing den Trend des Schwimmbad-Romans losgetreten, der im kommenden Jahr viele Nachahmer finden wird. Bei ihr ist das Hallenbad der Handlungsort, in dem die Bademeisterin Nene ihren Dienst versieht und auf Boris trifft. Zwischen den beiden Außenseitern aus prekären Verhältnissen entspinnt sich eine widerborstige Romanze. Stilistisch toll erzählt und in meinen Augen auch eine hervorragende Klassenlektüre für gehobene Klassenstufen.

Natalie Buchholz – Unser Glück

Welchen Preis sind wir bereit, für unser Wohnglück zu zahlen? Diese Frage verhandelt Natalie Buchholz in ihrem neuen Roman Unser Glück, indem sie eine Münchener Kleinfamilie in den Mittelpunkt stellt, die eine bezahlbare Traumimmobilie gefunden hat, noch dazu in Schwabing. Wenn da nur nicht der Haken mit dem anderen, undurchsichtigen Untermieter wäre, der sich ein Zimmer in ihrer Immobilie ausbedungen hat…

Anna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt

Immer wieder kommt es zu ganz unwahrscheinlichen Schwerpunkten in verschiedenen Büchern einer Saison – so auch bei Anna Bervoets‘ Roman, der ebenso wie Berit Glanz in Automaton den Alltag einer Content-Moderatorin in den Mittelpunkt stellt und dabei eindringlich spürbar macht, wie die Seele bei dieser Art von Arbeit Schade nimmt

Lauren Groff – Matrix

Ein Utopie weiblicher Selbstverwaltung und Autarkie, angesiedelt im Mittelalter. In Matrix erzählt Lauren Groff die Geschichte der Äbtissin Marie de France, die als illegitimer Königsspross von ihrer Schwester, Eleanore von Aquitanien, dem Thron möglichst weit fortgehalten werden soll – und so ein Kloster zu unbekannter Blüte führt. Hier trifft historischer Roman auf Science Fiction, großartig erzählt und gestaltet.

Fatma Aydemir – Dschinns

Völlig überladen und überfrachtet, und zugleich doch so gut, so relevant und wichtig, dieser Roman von Fatma Aydemir. Als Stellvertreterfiguren erzählt sie von den vier Kindern Hüseyins, die sich nach dem Tod des Famileinvaters aufmachen zu dessen Beerdigung und dabei alle möglichen Probleme im Gepäck haben. Auch die Mutter kommt zu Wort. So bekommt man ein ganzes Panorama von Migrantenschicksalen der ersten und zweiten Generation zu lesen. Beeindruckend!

Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese

Ein meisterlicher Weihnachtsroman, gespeist aus Dicken’schem Geist, und das als Lektüre im Sommer? Unbedingt empfehlenswert! Während draußen die Temperaturen neue Höchststände erreichten, las ich Claire Keegans kleinen, aber schwergewichtigen Roman, der an den Weihnachtstagen in einem von Armut geprägten Irland des Jahres 1985 spielt und der trotzdem von Hoffnung und Mut kündet – und der ein Loblied auf den Mut des Einzelnen singt.

Melinda Cowley – Heller – Der Papierpalast

Für mich der perfekte Sommerroman. Warum? Weil er nicht sonnenhell und kitschig ist, sondern auch die von den Schattenseiten des Lebens erzählt. Untreue, Begehren und Lebenslügen sind Thema in diesem Roman, der um die 50-jährige Elle Bishop kreist und in dem Melinda Cowley-Heller zeigt, dass sich die Sommeridylle dort im sogenannten Papierpalast an der Küste Neuenglands als erstaunlich brüchig erweisen kann. 

Eckart Nickel – Spitzweg

Kunstvolles Parlando, konsequentes l’art pour l’art, das ist Spitzweg von Eckart Nickel, eine ebenso knallige wie stilbewusste Dreiecksgeschichte dreier Schulfreund*innen, bei der die Kritik eines Kunstwerks in der Schule einen wilden, geradezu anachronistischen Reigen aus Ereignissen auslöst. Nicht zuletzt auch äußerlich ein wahres Kunstwerk, dessen inhaltliches Gewicht man besser nicht hinterfragen sollte, sondern sich eher auf die Schauwerte einlassen sollte.

Maggie Shipstead – Kreiseziehen

Dieses Buch ist für mich die Definition eines guten Schmökers. Denn das Buch vereint das Doppelporträt einer jungen, skandamumwitterten Schauspielerin und einer unbeugsamen Pilotin, deren ungeklärtes Schicksal Ausgangspunkt einer Verfilmung ist, in der die Schauspielerin jene Pilotin verkörpern soll. Unterhaltung mit Anspruch, ein großartiges Erzähltalent – und viele hunderte Seiten, um darin zu versinken!

Eberhard Seidel – Döner

Zugegeben, ich bin kein großer Freund des Döners. Zu mächtig, olfaktorisch zu belastend, gerade in Mittagspausen – meine Vorbehalte gegen diese Speise waren nicht gerade klein. Und dennoch gelingt Eberhard Seidel  ein Buch, das mich über die Maßen begeistert hat, verknüpft er doch die Kulturgeschichte des Döners mit der der Migration und erzählt von den Ausgrenzungen und tödlichen Gefahren, die ebenfalls mit dem Döner assoziiert werden.

Amor Towles – Lincoln Highway

Zwei Jungen auf der Suche nach ihrer Mutter, der legendäre Lincoln Highway als Reiseroute – und dennoch entwickelt sich alles anders als geplant in Amor Towles‘ neuem Roman, der einem wilden Roadtrip gleicht, den sich Mark Twain und Jules Verne zusammen ausgedachte haben könnten. Ein Buch von alter amerikanischer Romanschule und dabei stets unvorhersehbar. Tolle Unterhaltung!

Lucy Fricke – Die Diplomatin

Ich habe ja bekanntlich eine Schwäche für gut gemachte politische Romane. Und auch Lucy Frickes neues Werk fällt in diese Kategorie. Ihr gelingt das Kunststück, ebenso mitreißend, wie lustig, berührend und gesellschaftlich relevant von der Diplomatin Fred zu erzählen, die von einem Einsatz in Südamerika bis zu einer Botschaftsposition in der Türkei die ganze Ohnmacht unserer demokratischen Handlungsweisen zu spüren bekommt.

Deb Colin Unferth – Happy Green Family

Politisch im weiteren Sinne ist auch Deb Colin Unferths großartiger Roman Happy Green Family, der von einer waghalsigen Rettungsaktion erzählt. Ein einzelnes Huhn ist dabei der Auslöser, der zu einer ganzen Lawine aus Chaos und Gefahr führt. Denn drei ganz unterschiedliche Figuren sagen hier der industriellen Hühnerzucht und Eierproduktion den Kampf an und wollen eine bessere Welt. Ob das funktionieren kann?

Négar Djavadi – Die Arena

Wie würden eigentlich Victor Hugo oder Honoré de Balzac von Paris schreiben, wenn sie in diesen Tagen leben würden? Vermutlich genau so, wie das Négar Djavadi in Die Arena tut. Sie erzählt von Politiker*innen, einem Spindoktor, Polizist*innen und jugendlichen Gangs, die in dieser Arena namens Paris aufeinandertreffen – mit explosiven Folgen.

Gabriele Riedle – In Wüsten. In Dschungeln. Im Krieg.

Hätte es die Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 nicht gegeben, wäre mir dieses Buch wirklich entgangen, obwohl ich es schon dienstlich für meine Bibliothek erworben hatte. So habe ich nun dank der Nominierung ein sprachlich anspruchsvolles und im besten Sinne welthaltige Buch entdeckt, das ebenso vom Newsdruck wie auch vom Seelenleben einer Kriegsreporterin erzählt. Vor allem ist das Buch ein Dokument von der Unrast unserer Tage.

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Chances are …?

Richard Russo – Jenseits der Erwartungen

Was macht eigentlich eine gute Sommerlektüre aus? Die meisten Menschen würden eine Sommerlektüre wohl mit dem Großteil der Spiegel-Bestsellerliste gleichsetzen. Konfektionell geformte Bestsellerware, die sich auch nebenbei am Strand gut wegschmökern lässt. Irgendetwas von Lucinda Riley oder Sebastian Fitzek oder ein „süffiger“ Historienschinken. Hauptsache man kann zwischendurch mal einschlafen oder in den Pool hüpfen und weiß danach gleich wieder, wo man zuletzt war.

Meinen Wunsch nach Anspruch möchte ich aber auch im Sommer und/oder am Strand nicht aufgeben. Ich wünsche mir eine Sommerlektüre, die fesselt, dabei aber auch den Anspruch nicht vergisst und mich zu keinem Zeitpunk unterfordert. Gut lesbar sollte das Ganze natürlich sein, aber eben auch eine tiefergehende Ebene besitzen. Klingt nach einer schwierigen Buchfindung? Mitnichten!

Eine solche Sommerlektüre habe ich aktuell wieder gefunden. Sie stammt vom Pulitzerpreisträger Richard Russo, wurde von Monika Köpfer übersetzt und trägt den Titel Jenseits der Erwartungen. Ein schön melancholischer Titel, der allerdings am englischen Original etwas vorbeigeht. Denn eigentlich trägt das Buch den Titel Chances are … und rekurriert auf einen Song von Johnny Mathis aus dem Jahr 1958. Ein etwas schmalziger Song, den Russo aber geschickt zum Leitmotiv des Romans macht.

Denn Chancen und verpasste Chancen sind das Thema, um das Russos leichtfüßiger aber doch auch melancholischer Roman kreist. Im Mittelpunkt stehen dabei die drei „Musketiere“ Lincoln, Teddy und Mickey. Schon seit Studienzeiten kennen und mögen sie sich. Der kurz bevorstehende Vietnamkrieg und seine Einberufungslotterie hat die Männer damals zusammengebracht. Die Chancen, die ihnen das Leben seither bot, haben sie ganz unterschiedlich genutzt.

Mickey tourte und tourt noch immer als Musiker und Musikproduzent durch die Lande. Teddy verdient sein Geld als Kleinverleger und Lektor in Personalunion , der sich auf christliche Bücher spezialisiert hat. Und Lincoln ist Immobilienmakler geworden. Er besitzt selbst ein Ferienhaus in Chilmark auf der Promi-Insel Martha’s Vineyard. Dort treffen die drei Männer im Alter von 66 Jahren nun wieder aufeinander. Die Amtszeit von Präsident (und ebenfalls Martha’s Vineyard-Urlauber) Barack Obama steht bevor, die Vorwahlen sind in vollem Gange.

Was geschah mit Jacy?

Seit den Studientagen ist bei den drei Männern viel passiert. Alle müssen einsehen, dass ihre Sturm-und-Drang-Phase wohl endgültig vorüber ist, wenngleich einige von ihnen das noch gekonnt verdrängen. Ein anderes Ereignis haben die Männer aber auch so gut es geht verdrängt. Schon einmal verbrachten sie nämlich einen Urlaub in Chilmark, kurz bevor die Einberufungsbefehle für Vietnam ausgesendet wurden. Damals war die Jacy ihr Gast. Die junge Frau hatte allen drei Männern gehörig den Kopf verdreht, doch dabei war sie eigentlich verlobt.

Richard Russo - Jenseits der Erwartungen (Cover)

Doch Jacy verschwand nach dem Urlaub auf Martha’s Vineyard spurlos. Die drei Freunde, allen voran Lincoln, rechnen bis heute mit dem Schlimmsten. Deutlich in seiner zweiten Lebenshälfte stehend und mittlerweile vom Leben einigermaßen resigniert beschließt Lincoln nun, dass es an der Zeit ist. Er will den bis heute schmerzenden Stachel des Nicht-Wissens nun ausmerzen. Was ist wirklich mit Jacy passiert? Er beginnt mit seinen Nachforschungen, die ihm auch neue und überraschende Seiten an seinen Freunden offenbaren, die er doch schon so lange zu kennen glaubt.

Liest man meinen Abriss bis hierhin, könnte man mit einem Krimi im Stile eines Joel Dickers rechnen. Ein ermittelnder Charakter, verborgene Geheimnisse hinter glattpolierten amerikanischen Vorstadt-Fassaden, ein ungewisses Schicksal. Doch das trifft nur teilweise zu. Jenseits der Erwartungen besitzt einen untergründigen Sog, der aus der Frage von Jacys Schicksal resultiert. Doch darüber hinaus bietet Russos Buch viel mehr.

Was vom Leben bleibt

Jenseits der Erwartungen ist eine Meditation, was das Leben mit einem so anstellt, nachdem es einem sein Blatt zugeteilt hat. Was stellt man mit den Chancen an, die sich einem im Leben bieten? Wie nutzt man sein Schicksal und wird glücklich? Mit den drei im Mittelpunkt des Buchs stehenden Protagonisten Lincoln, Mickey und Teddy exerziert Richard Russo das durch. Alle drei gleich alt, alle ähnlich sozialisiert – doch dann drei völlig unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen. Während Mickey noch immer den wilden Rocker mit Motorrad und unstetem Lebenswandel gibt, ist Teddy das genaue Gegenteil. Ein unsicherer, von Anfällen geplagter Textarbeiter, der keine großen Sprünge machen kann. Oder Lincoln mit seiner Familie und dem vermeintlichen Glück, das sich für ihn nicht wirklich so darstellt.

Richard Russo ist ja einer der größten Menschenzeichner, die ich im aktuellen Literaturbetrieb so kenne. Wie ein begnadeter Steinmetz verleiht er seinen Figuren Ecken und Kanten, Macken und Schrullen, und gestaltet sie so unglaublich plastisch. Was ihm in Ein Mann der Tat herausragend gut gelang, das schafft er auch in Jenseits der Erwartungen wieder. Er erzeugt Figuren, mit denen ich mich sofort identifizieren konnte und die mir verständlicher waren, als fast alles, was es sonst in der amerikanischen Literatur so zu lesen gibt. Wie es Russo schafft, alles mit diesem schwebenden heiter-resignativ-sommerlichen Grundton zu grundieren, das ist große Schriftstellerkunst.

Was bleibt vom Leben? Welche Chancen wurden vertan? Im Zusammentreffen der drei Männer gelingt es Russo, verschiedene Szenarien durchzuspielen und so ein einen vielgestaltigen Fächer von den Leser*innen auszubreiten. Gerade auf den letzten Seiten bekommt das Buch auch eine philosophische Tiefe, indem er abermals um die Frage kreist Chances are …?.

Dadurch, dass er immer wieder die Perspektiven abwechselt und andere Blickwinkel einnimmt, entstand bei mir zu keinem Zeitpunkt Langeweile, im Gegenteil. Ich flog durch diese so geschmeidig erzählten Seiten stets mit der Frage im Hinterkopf, was denn jetzt eigentlich mit Jacy passiert ist. Hier schreibt ein souveräner Erzähler, dem genau das gelingt, was ich immer für meine Strandtasche oder den Rucksack für den Baggersee suche: beste sommerliche Lektüre mit Anspruch.


  • Richard Russo – Jenseits der Erwartungen
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN: 978-3-8321-8115-4 (DuMont-Verlag)
  • Preis: 22,00 €, 432 Seiten
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