Tag Archives: Spurensuche

Marisha Pessl – Die amerikanische Nacht

Gefangen im Dunkel der Nacht

Zugegeben – vor diesem phantastischen Roman war mir der Begriff Marisha Pessl noch nicht untergekommen. Nach der Lektüre dieses Romans hat sich der Name der jungen Autorin aber nachhaltig in mein Gedächtnis eingeprägt.

Mit Die amerikanische Nacht ist ihr ein vielschichtiger, spannender und unheimlicher Roman gelungen, der den Leser erst nach über 780 Seiten freigibt und ihn stellenweise an seinem eigenen Verstand zweifeln lässt. Geschickt vermengt die Autorin fiktionale Dokumente, die sie in den Text einbaut, mit einer Handlung, die sich liest, als hätten sich Hitchcock, Luis Bunuel, Jorge Luis Borges und E.T.A. Hoffmann zusammengetan, um Pessls Ich-Erzähler, den Reporter Scott McGrath, in den Wahnsinn zu treiben.
Dieser war einst ein gefeierter Reporter mit einem legendären Gespür, ehe er über einen Bericht über den legendären Filmemacher Stanislas Cordova stolperte und nach einem Prozess seine Reputation verlor. Offenbar wurde er damals auf eine falsche Fährte gelockt, damit er nicht weiter im Umfeld des geheimnisumwitterten Starregisseurs schnüffeln konnte.
Doch als Cordovas junge Tochter Ashley tot im Aufzugsschacht eines verlassenen Gebäudes gefunden wird, erwacht der Spürsinn des Reporters erneut. Diesmal will er sich nicht von seinen Nachforschungen über Ashley und ihren berühmten Vater abbringen lassen und beginnt den Spuren des Cordova-Clans nachzuspüren. Doch McGraths Suche wird zu einem Trip, bei dem die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen und an deren Ende nicht nur McGrath an seinem Verstand zweifeln wird.

Selten hat mich in letzter Zeit ein Buch so in seinen Bann gezogen und förmlich in die Geschichte hineinstürzen lassen. Wer einen simplen Krimi erwartet, in dem der Tod der jungen Tochter Cordovas aufgeklärt wird, sieht sich schon bald heillos überfordert. Blogeinträge, erfundene Filme, diverse Metaebenen und noch viel mehr mixt Marisha Pessl zu einem Cocktail in den düstersten Farben. Wie der Titel des Originals Night Films bereits suggeriert, widmet sich der Roman mit Vorliebe dem düsteren Schaffen des legendären (und sehr überzeugend erfundenen) Stanislas Cordova und schafft es, ein wild wucherndes Referenzgeflecht zu kreieren, in dem man sich heillos verfangen kann. Was stimmt nun, was ist Einbildung?
Für mich liegt genau darin die große Stärke des Romans, da man am Ende nicht definitiv sagen kann, was nun erträumt und was real gewesen ist. Pessl zieht den Leser in einen Strudel des Ungewissen, der zumindest mich auch noch über das Ende der Lektüre hinaus beschäftigte.

Auf jeden Fall eines der stärksten, faszinierendsten und dunkelsten Bücher dieses Jahres – wenn nicht das Beste 2013!

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Joel Dicker – Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Grandios doppelbödig

Ein Buch von einem Schriftsteller, der über einen Schriftsteller schreibt, der über einen Schriftsteller schreibt? Klingt kompliziert, ist aber ein großartiger Lesespaß, wie Joel Dicker in Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert beweist.

Sein Roman ist über 700 Seiten ein Krimi, eine Liebesgeschichte, das präzise Porträt einer amerikanischen Kleinstadt, eine Humoreske und noch viel mehr. Mehrfach ausgezeichnet erzählt das Buch über 31 Kapitel erstreckt vom Schriftsteller Marcus Goldmann, der in einen großen Kriminalfall hineingezogen wird.

Goldmanns Mentor, der berühmte Schriftsteller Harry Quebert, gerät unter Mordverdacht, nachdem auf seinem Grundstück die Leiche der vor 33 Jahren verschwundenen Nora Kellergan gefunden wurde. Dieses junge Mädchen aus der amerikanischen Provinzstadt Aurora stand Harry Quebert sehr nahe und erschwerend kommt hinzu, dass sich das Manuskript von Queberts Durchbruchroman bei dem Skelett findet.

Für Goldmann kommen diese Geschehnisse gerade recht, da er unter einer Schreibblockade leidet und von seinem Verleger unter Druck gesetzt wird. Er beschließt kurzerhand auf eigene Faust zu ermitteln und seine Erkenntnisse in Form eines neuen Buches zu veröffentlichen – allerdings ahnt er nicht, welche Lawine er mit seinen Ermittlungen lostritt.

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert ist ein clever komponiertes Buch, das sich bei vielen Genres bedient und das auf hervorragende Weise die Handlung auf mehrere Zeitebenen und Personen verteilt. Obwohl Dicker ein Schweizer ist, liest sich der Roman höchst amerkanisch – und das im besten Sinne!

In Episodenform verknüpft Dicker die Ermittlungen Goldmanns mit den damaligen Geschehnisse und erzeugt einen Lesesog, da man unbedingt wissen will, was mit Nola vor 33 Jahren passiert ist und ob Harry Quebert wirklich unschuldig ist.

Der Roman ist ein doppelbödiges Spiel, da Joel Dicker mit geschickten literarischen Kniffen immer wieder Unsicherheit beim Leser erzeugt, inwieweit er den Figuren und ihren Schilderungen der damaligen Ereignisse trauen kann.

Das Buch ist komplex, ohne kompliziert zu sein und schafft es selbst mit der Danksagung, den Leser noch nachgrübeln zu lassen – oder um es mit den Worten Harry Queberts zu sagen:

„Ein gutes Buch lässt sich nicht allein an seinen letzten Worten bemessen, sondern an der Gesamtwirkung aller vorausgegangenen Worte, Marcus. Ungefähr eine halbe Sekunde nachdem der Leser mit Ihrem Buch fertig ist, nachdem er das letzte Wort gelesen hat, muss er spüren, wie ihn ein starkes Gefühl überkommt. Er muss einen Moment lang an nichts anderes denken als an das, was er gerade gelesen hat, und den Einband mit einem Lächeln, aber auch mit einer Spur von Traurigkeit betrachten, weil ihm alle Figuren fehlen werden. Ein gutes Buch, Marcus, ist ein Buch, bei dem man bedauert, dass man es ausgelesen hat.“

Dicker, Joel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

So erging es mir mit Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert definitiv – eines der starken Bücher dieses Bücherherbstes!

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