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Neige Sinno – Trauriger Tiger

Radikale Umdenkung und Beschreibung der Konsequenzen von jahrelangem Missbrauch und Vergewaltigung: in ihrem Memoir Trauriger Tiger taucht Neige Sinno ganz tief ein in die Erfahrungen und Gedanken, die sie nach sexuellem Missbrauch im Kindesalter begleiten. Das ist alles andere als leichte Lektüre – dafür aber kompromisslos und bestechend detailscharf.


Es ist schwer zu verdauende Kost, die uns Neige Sinno in der Übersetzung von Michaela Meßner präsentiert. Denn der von der Erzählerin Neige Sinno selbst als Memoir bezeichnete Text geht an die Nieren, kreist er doch um das Thema des sexuellen Kindesmissbrauchs, den die Erzählerin erleiden musste.

Im Alter von sechs Jahren trat der damals vierundzwanzigjährige Mann ins Leben der Erzählerin, der sie über Jahre hinweg missbrauchen sollte. Als neuer Partner an der Seite ihrer Mutter verging sich Sinnos Peiniger immer wieder an ihr, teils sogar während ihre Geschwister nebenan schliefen. Als sie sich ihrer Mutter anvertraute, hatte dies allerdings noch keine sofortigen Konsequenzen. Ein Jahr brauchte diese, um sich von ihrem Partner zu trennen.

Mit dem Abstand vieler Jahre und nun selbst Mutter betrachtet Neige Sinno ihre Erfahrungen während und nach dem Missbrauch, den sie nach ihrem Martyrium zur Anklage brachte. Weniger ein konsistenter Text denn ein schriftlicher Verarbeitungsprozess ist das, was uns da auf 300 Seiten erwartet

Radikaler Blick auf erlebten sexuellen Missbrauch

Radikal blickt Sinno auf die Erfahrungen und die Umstände, die es ermöglichten, dass sich der Missbrauch über Jahre hinzog und welchen Preis die Verarbeitung dieser Erfahrungen ihr abverlangte. Von ihrer eigenen Mutter, der sie sich nicht unmittelbar anvertrauen kann bis hin zum Dorf, das sie nach den Enthüllungen und dem Prozess meidet. Der Stiefvater, der in einem Prozess schuldig gesprochen wird, später aber wegen guter Führung vorzeitig entlassen wird, rasch eine neue Partnerin findet und mit dieser wieder eine neue Familie gründet. Die ganze Unglaublichkeit ihrer Geschichte, die seelischen Naben und Erfahrungen werden vor uns ausgebreitet, wobei Sinnos Text Gedanken und Reflektionen, Lyrik und Prosa sowie Zeitungstexte miteinander zu einem Textgewebe verdichtet.

Die Folgen der Vergewaltigungen gehen also weit über den klar umrissenen Bereich der Sexualität hinaus, sie wirken sich auf alles aus, von der Fähigkeit zu atmen bis hin zu der, andere Menschen anzusprechen, zu essen, sich zu waschen, sich Bilder anzuschauen, zu zeichnen, zu reden oder zu schweigen, in seinem Körper und seinem Leben zu Hause zu sein, sich imstande zu fühlen, einfach da zu sein.

Neige Sinno – Trauriger Tiger, S. 180

Sinno hinterfragt Allgemeinplätze wie etwa die Binse des seelischen Schadens, von dem sich Vergewaltigungsopfer nie wieder erholen. In ihren Gedanken spürt sie all dem nach und blickt mit ihren Erfahrungen auf den Umgang mit Missbrauch und den Konsequenzen, die das Erlebte für sie hatte. Besonders macht diesen Text die Radikalität, mit der sie den Missbrauch ebenso wie ihre eigenen Gedanken und Eindrücke schildert. Wie mit dem eigenen Kind umgehen, wenn im Kopf immer noch die Erfahrungen des erlebten Missbrauchs vorhanden sind – und wie kann man überhaupt Nabokovs Lolita lesen, wenn stets das Erlebten in einem arbeitet?

Ein dichtes Gedanken- und Referenzgewebe

Neige Sinno - Trauriger Tiger (Cover)

All das umkreist Trauriger Tiger, der dabei mit zitierter Lyrik, Chansons, Studien und anderen Romanen ein dichtes Netz an intertextuellen Bezügen webt. Das reicht vom schon erwähnten Werk Vladimir Nabokovs bis hin zu Annie Ernaux oder Virginia Woolf, die ebenfalls von ihren eigenen Brüdern vergewaltigt wurde. Auch eher in Frankreich bekannte Namen wie Johnny Halliday, Philosophen wie Gilles Deleuze oder die Autorin Margaux Fragoso liefern Denkansätze und Gedanken für Sinno, die sie umkreist.

Vor allem die letztgenannte Autorin ist ein starker Bezugspunkt für Sinno, da diese in ihrem Roman Tiger, Tiger ebenfalls den sexuellen Missbrauch verarbeitete, den sie über zehn Jahre als Kind erleiden musste. Ihr Buchtitel war eine Referenz an William Blakes Gedicht über den Tiger und dessen Ambiguität – und liefert nun auch Sinno Inspiration für den Titel ihres Werks. All diese Quellen und Referenzen finden Eingang in Trauriger Tiger und werden im umfangreichen Quellenverzeichnis akribisch auflistet.

Liest man Sinnos Text in diesen Tagen, dann gewinnt Trauriger Tiger über seine ihm innewohnenden Qualitäten hinaus noch einmal eine ganz besondere Dringlichkeit. Denn Sinnos Schilderungen ihrer Erfahrung und der juristischen Aufarbeitung des Erlebten im Prozess kann man eigentlich gar nicht lesen, ohne an den aktuell in Avignon stattfindenden Prozess um Gisèle Pelicot zu denken.

Eine ganz eigene Dringlichkeit in diesen Tagen

Diese setzt sich vor Gericht gegen ihren Ex-Mann zur Wehr, der sie regelmäßig mit Medikamenten betäubte, sich an ihr verging und seine wehrlose Frau auch einer ganzen Gruppe anderer Männer zur Verfügung stellt, die sich an ihr vergingen.

Der Fall hat einen öffentlichen Aufschrei und viel Aufmerksamkeit für das Schicksal Pelicots erzeugt, das aber beileibe kein Einzelschicksal ist. Denn im europäischen Vergleich liegt Frankreich nach Schweden auf Platz zwei, was sexuellen Missbrauch von Frauen anbelangt. Auf 100.000 Einwohner*innen kommen fast hundert zur Anzeige gebrachte Vergewaltigungen. Und das sind nur die erfassten Zahlen. Die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher sein.

Denn solcher Missbrauch wird selten zur Anzeige gebracht, da er sich am häufigsten unter einander bekannten, wenn nicht gar unter Familienmitgliedern abspielt, wie auch Pelicots Martyrium oder Sinnos Beschreibungen in ihrem Buch zeigen.

Der Mut zum Gang an die Öffentlichkeit und das Bekenntnis des erfahrenen Leids coram publico kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es sind Frauen wie Gisèle Pelicot oder im vorliegenden Fall Neige Sinno, die mit ihrem Umgang mit erfahrenem Martyrium für die Öffentlichkeit sorgen, die die Grundlagen für Debatten und hoffentlich auch Veränderungen bildet. Es sind kraftvolle Schläge gegen eine Mauer aus Schweigen, gesellschaftliche Ignoranz, Verständnis für Täter und Schuldzuweisungen an die Opfer, die sie mit ihrem Tun ausführen.

Ein literarischer Überraschungserfolg

Dass diese Schläge Erfolge zeitigen, das beweist nicht nur der Sturm der Entrüstung, der sich nach dem Beginn des Prozesses in Avignon weltweit regte. Auch Neige Sinno ist der Beweis, dass der Mut Einzelner große Wirkungen erzielen kann.

So wurde ihr eindringliches Buch zunächst von fünfzehn Verlagen in Frankreich abgelehnt, ehe sich ein Verleger fand, der es publizierte. Dabei war allerdings noch nicht abzusehen, welcher absatzstarke und literaturkritische Erfolg Trauriger Tiger beschieden sein würde. So verkaufte sich das Buch in Frankreich über 300.000 Mal und wurde vielfach besprochen. Ganze fünf Literaturpreise konnte das Buch einheimsen, darunter der Prix Femina und der Prix Goncourt des lycéens. Zudem war das Buch 2023 neben der Auszeichnung des „jungen“ Prix Goncourt auch für die erwachsene Variante des Preises nominiert.

Man kann es verstehen, denn es ist gewiss kein einfacher oder bequemer Text, der Ablenkung und Entspannung bietet und den Wunsch nach Wohlfühlliteratur befriedigt. Aber ist ein ungemein wichtiger, der mit seiner kantigen Form und den ihm innewohnende Gedanken ein literarische Ausrufezeichens bildet und der das kraftvolle Dokument eines Überlebens ist.


  • Neige Sinno – Trauriger Tiger
  • Aus dem Französischen von Michaela Meßner
  • ISBN 978-3-423-28422-6 (dtv)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Antonia Baum – Siegfried

Wenn einen die eigene Familie in die Psychiatrie bringt. Antonia Baum in ihrem neuen Roman Siegfried über drei Generationen einer Familie, die alle mit eigenen Dämonen kämpfen und doch nicht von der Stelle kommen.


Transgenerationale Traumata und Probleme sind ein Thema, mit denen sich die deutsche Literatur in zunehmenden Maße befasst. Welche Probleme einer Generation werden in der nächsten fortgeführt und wodurch bedingt sich diese Weitergabe von Problemen und Verhaltensmustern? Ulrike Draesner beschäftigte sich jüngst in ihrem Werk Die Verwandelten literarisch mit diesem Thema und auch Antonia Baums neuem Roman Siegfried liegt diese Fragestellung zugrunde. Sie blickt ausgehend von der jüngsten Generation auf Mutter, Vater und Großmutter und untersucht im eigenen Erinnern die erlernten Verhaltensmuster und Konfliktstrategien.

Ein Wartezimmer in der Psychiatrie

Es beginnt alles mit einer namenlosen Frau, der Ich-Erzählerin. Sie lässt in einem Gefühl der Überforderung ihren Mann und ihre Tochter zuhause zurück, um sich in eine Psychiatrie zu begeben. Geldprobleme, Beziehungsprobleme, Abgabedruck eines Buchs, dessen Vorschuss zwar schon aufgebraucht, aber noch keine einzige Zeile zu Papier gebracht ist. Viele nagende Sorgen, die in einer morgendlichen Fahrt zur Psychiatrie resultieren.

Auf der Rückbank des Taxis trug ich keine Schuhe, aber dafür einen Trenchcoat. Ich hatte nicht wie sonst die Nylonhandtasche meiner Mutter dabei, ich hielt meinen Rechner mit beiden Händen auf dem Schoß fest. Ich hätte nicht sagen können, was seit der Situation im Badezimmer passiert war. Es beunruhigte mich aber nicht sehr, ich fand meine Idee, in die Psychiatrie zu fahren, sehr gut. Jemand würde mir sagen, was mit mir los war, dieser Arzt würde mir helfen, die Dinge zu sortieren, ich hatte mir sogar seinen Namen notiert. Ich würde dort sitzen und für Reihenfolgen nicht zuständig sein. Es würde eine Diagnose geben. Ich bildete mir die Dinge nicht ein, ich war keine Simulantin, ich war nicht überempfindlich. Ich war auch nicht verrückt, es gab Gründe.

Antonia Baum – Siegfried, S. 18 f.

Als sie nun im Warteraum der Psychiatrie sitzt, fängt das Erinnern der Erzählerin an. Sie entsinnt sich ihrer Kindheit, die sie teilweise bei ihrer Großmutter Hilde verbrachte, in deren Hause Strenge und merkwürdige Regeln herrschten. Keine Spiegel, Schwimmen nach Stoppuhr, aufgetakelte Treffen in der Öffentlichkeit mit alten Freunden und wenig Lebensfreude. All das bedeutete die Zeit im Haus der Großmutter, die die Erzählerin dort als Kind verbrachte.

Blick auf die eigenen Eltern und Großeltern

Antonia Baum - Siegfried (Cover)

Aber auch auf die Erinnerung an ihre eigenen Eltern blickt sie, als sie darauf wartet, im Wartezimmer aufgerufen zu werden. Der prägende Vater Siegfried, die Mutter, die stets von Hilde, Siegfrieds Mutter, mit Argusaugen beobachtet wurde. Die Affären des Vaters, die Begleitung der Mutter auf Siegfrieds Dienstreisen und damit verbunden weitere Aufenthalte im kalten Haus Hildes. Dazu die Erinnerung an Episoden, wie die des Einsperrens der Mutter im eigenen Zuhause, die dann schlussendlich in der Trennung der eigenen Eltern mündete.

Die Lieblosigkeit der elterlichen Generationen, das strenge Regiment der Großmutter, das Nicht-Funktionieren von Beziehungskonzepten, all das betrachtet die Erzählerin noch einmal in der Rückschau, während sie sich dort in der Psychiatrie Heilung erhofft, diese aber schon selbst durch die Rückschau und das Betasten der eigenen seelischen Narben erbringt.

Die Rückschau fördert nicht sonderlich scharf konturierten Figuren zutage, die die Familie rund um Siegfried bevölkern. Diese Figuren stehen aber auch als eine Art Stellvertreter für viele nachkriegsdeutsche Familiengefüge, wie sie viele Leserinnen und Leser auch aus der eigenen Familie her kennen dürften.

Figuren als Stellvertreter für transgenerationale Verhaltensmuster

Unausgesprochene und unerforschte Altlasten aus der Zeit des Nationalsozialismus, Härte in der Erziehung der eigenen Kinder, das Aufrechterhalten der bürgerlichen Fassade – davon erzählt Siegfried, in dessen Name ja auch schon etwas der (vermeintlichen) Härte und Stärke aufscheint, die Antonia Baum im Folgenden dekonstruiert. Sie leuchtet die familiären Verhältnisse aus und zeigt eine Frau, deren Bindungsschwierigkeiten und schwierige Beziehung zumindest ein Stück weit auch als Ergebnis der vorgelebten Unfähigkeit zu lieben der familiären Anti-Beziehungsvorbilder zu lesen ist.

Das macht aus Siegfried zwar keinen leichten Familienroman á la Joachim Meyerhoff, aber dennoch lohnt sich die Lektüre, lassen sich die aufblitzenden Muster und Figuren doch in den meisten Familien finden und stellen einen guten Beitrag zur Behandlung des Themenkomplexes der transgenerationalen Traumata dar, auch wenn ich mir noch etwas schärfere Figuren – allen voran die Erzählerin gewünscht hätte.


  • Antonia Baum – Siegfried
  • ISBN 978-3-546-10027-4 (Claassen)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €
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