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Anna Prizkau – Frauen im Sanatorium

Wenn es eine auffällige Häufungen eines speziellen Schauplatzes in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in diesem Frühjahr und Sommer gibt, dann ist es der der Psychiatrie.
Nach Svealena Kutschke und kurz vor dem Erscheinen von Leon Englers Debüt Botanik des Wahnsinns schickt auch Anna Prizkau ihre Heldin Anna in ein Sanatorium in psychiatrische Behandlung. Dort trifft sie auf eine ganze Gruppe von Frauen im Sanatorium, die allesamt von ganz eigenen Dämonen heimgesucht werden.


Weckt der Name des Sanatoriums auch unweigerlich Erinnerungen an Thomas Manns Der Zauberberg, so hat die Hans-Lewitt-Klinik in Anna Prizkaus Romans herzlich wenig mit Davos, Lungenkranken und Entschleunigung zu tun. Vielmehr versammeln sich dort eine ganze Riege an Figuren, die allesamt mit eigenen Dämonen zu kämpfen haben.

Frauen im Sanatorium, Schicksale im Blick

Anna Prizkau - Frauen im Sanatorium (Cover)

Da ist Elif, deren Verlobter Baschir nicht mehr ist und die sich trotzdem nicht von der Arbeit im familiären Feinkostladen vor einem Kaufland abhalten lassen wollte, bis sie nun in der Klinik gelandet ist. Die Exhibitionistin Veronika, die als Rettungssanitäter in der Nacht auf der Wache so lange die Kleidung fallen ließ, bis es zu einem Gespräch mit den Vorgesetzten kam. Marija, die in jeder Therapiesitzung durch ungezügelte Ich-Bezogenheit auffällt – oder eine Gruppe von sieben Soldaten, deren Gravitationszentrum und Anführerin Katharina ist, die nicht nur in Sachen Alkoholkonsum die Patienten der Klinik zu Hochleistungen anstacheln will.

Vor allem ist da aber die Erzählerin Anna, aus deren Augen wir auf die Figuren in der Klinik blicken und die regelmäßig im angeschlossenen Park die Flamingos aufsucht, wo sie einem von ihr auf den Namen Pepik getauften Flamingo ihre Sorgen und Nöte anvertraut. Die Flucht ihrer Familie nach Deutschland, ihr Schicksal, das sie ins Sanatorium gebracht hat, die Sitzungen bei Doktor „Ich verstehe“ Fauner, all das vertraut sie Pepik und uns als Lesenden an.

Über alle Porträts und Schilderungen hinweg bleibt dabei immer ein Zweifel ob der Verlässlichkeit von Anna als Erzählerin. Was stimmt, was ist ausgedacht? Diese Frage steht hinter vielen Lebensgeschichten, besonders der von Elif, die sie in Heften niedergeschrieben hat und die Anna immer wieder liest und auf Ungereimtheiten stößt. Aber auch hinter die Wahrhaftigkeit der Erzählerin Anna, die wie einst wie ihre Schöpferin Anna Prizkau aus Russland nach Deutschland migrierte, gilt es Fragezeichen zu setzen.

Unzuverlässigkeit aller Figuren

Frauen im Sanatorium ist ein geschmeidig erzählter Roman, dessen Gravitationszentrum die Figuren und ihr Miteinander im Sanatorium sind. So begehrt Anna Mitpatient David und entwickelt eine Abhängigkeit zu diesem. Aber auch durch die neu zur Gruppe hinzugestoßenen Soldaten wird die Patientin auf eine ungute Bahn gelenkt. Immer wieder unterbrechen Vignetten über die Schicksale der Figuren den Fluss und machen so auch die Unrast und Unzuverlässigkeit der Figuren klar.

Nun steht Prizkaus Werk aber wie eingangs schon erwähnt in einer ganzen Riege weiterer Romane mit dem Handlungsort Psychiatrie – und muss sich so auch dem Vergleich mit diesen Romanen stellen. Besonders dem Vergleich mit dem über hundert Jahre ausgreifenden und auf Personal wie Patienten gleichermaßen blickenden Gespensterfische von Svealena Kutschke hält Frauen im Sanatorium leider nicht ganz stand.

Obgleich deutlich gefälliger erzählt als Kutschkes anspruchsvolle impressionistische Prosa geht das zu Lasten der Intensität und Figurengestaltung. Bei Anna Prizkau sind es eher Typen oder lebende Krankheitsgeschichten, deren Leid sie beschreibt, aber nicht ganz in die wirkliche Tiefe ihrer Figuren vordingen kann, dazu ist der Blick der Erzählerin Anna zu unsicher

So kennzeichnet eine stets über dem Text schwebende Unzuverlässigkeit das Geschehen in der Hans Lewitt-Klinik, darunter leidet aber auch die Übersichtlichkeit. Wenn alle lügen oder sich die Wahrheit verbiegen, wem kann man da noch trauen? Frauen im Sanatorium ist in dieser Hinsicht ein wilder Ritt, um sich von den Figuren nicht verführen zu lassen, um wenigstens die Ahnung von Übersicht und Zuverlässigkeit zu bewahren. Wie es sich als Patient in so einem Haus anfühlen mag, aus Prizkaus erzählerischem Schütteln der Realität lässt es sich erfahren.

Fazit

Wer sich also von einem gut geschriebenen, gefällig geschilderten Roman wieder einmal an die Hand nehmen lassen will, um kurz darauf von dieser Hand in ein unübersichtliches Feld aus möglichen Wahrheiten geschubst zu werden, der greife gerne zu Anna Prizkaus Roman. Weniger anspruchsvoll als Svealena Kutschke richtet sich Frauen im Sanatorium an eine breitere Leserschaft, deren Sympathie zu Figuren und Vertrauen zu ebenjenen von ihr auf eine Probe gestellt wird, denn: we’re all a bit mad here.


  • Anna Prizkau – Frauen im Sanatorium
  • ISBN 978-3-498-00732-4 (Rowohlt Hundert Augen)
  • 299 Seiten. Preis: 24,00 €
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Benedict Wells – Die Wahrheit über das Lügen

Zehn Geschichten aus zehn Jahren

Das Lügen und das Dichten sind Künste.

(Oscar Wilde)

Welche Zitat würde besser zum neuen Buch von Benedict Wells passen als dieses Zitat des irischen Nationalheiligen Oscar Wilde? Dichtung, Wahrheit und Lüge – in Wells Kurzgeschichten finden all diese Themen ihren Platz und sorgen für beste Unterhaltung.

Nach seinem großen Erfolg von Vom Ende der Einsamkeit hatte sich Wells rar gemacht. Zunächst gab es keine Ankündigungen für ein neues Werk – ehe dann die Ankündigung zu Wells fünftem Buch erschien. Dieser Band stellt ein Novum im Schaffen des jungen Autors dar – denn zum ersten Mal liegt kein abgeschlossener Roman, sondern eine Kurzgeschichtensammlung vor.

Wells ganz eigener Dekameron

Diese umfasst zehn Geschichten aus zehn Jahren – Wells ganz eigener Dekameron sozusagen. Zwei dieser Geschichten stammen aus dem Erzählkosmos vom eingangs schon erwähnten Vom Ende der Einsamkeit; eine Erzählung, nämlich Das Grundschulheim erschien bereits schon vorher im Sammelband Unbehauste.

Inhaltlich spannt Wells den Bogen weit, von der rätselhaften Auftaktgeschichte Die Wanderung bis hin zu einer sentimentalen Erinnerung einer alten Dame in Richard reicht die Spanne. Mal sind die Erzählungen mysteriös und leicht verstörend (Ping-Pong), ein andermal eine Hommage an die Star-Wars-Filme von George Lucas (Die Wahrheit über das Lügen). Das ist abwechslungsreich, gut geschrieben und wirklich unterhaltsam – wenngleich die Qualität der Geschichten schwankt.

Eine Tatsache zeigt auch dieser Sammelband wieder – Benedict Wells ist ein großer Melancholiker, der sich zwischen Dur und Moll am wohlsten fühlt. War in die Entwicklung hin zu einer gewissen Traurigkeit schon ab Fast genial spürbar, tritt sie hier erneut ganz offen zutage.

Die Wahrheit über das Lügen zeigt die Entwicklung eines Autors, der es schafft, den Kern seiner Geschichten freizulegen, ohne alles immer auszuerzählen. Stattdessen überlässt er vieles auch der Fantasie seiner Leser und begnügt sich mit minimalistischen Anlagen seiner Erzählungen.

Fazit

Wells ist mit seinem ersten Kurzgeschichtenband ein kurzweiliges, überraschendes und sehr unterhaltsamer Dekameron voller heterogener Erzählungen gelungen. Zum Zwischendurch-Lesen, zum Vorlesen, zum Gedanken-Fließen-Lassen – kurzum: gute Unterhaltung!

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Haruki Murakami – Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Fünf Freunde und die Farben

Fünf Freunde waren sie einst: Tsukuru Tazaki und seine Clique. Jeder seiner Freunde trug eine Farbe im Namen, nur Tazaki war der Farblose. Die Clique funktionierte reibungslos und die Freundschaft der Fünf schien ewig zu währen – bis die Gruppe eines Tages plötzlich Tazaki schnitt.

Er durfte mit keinem seiner Freunde mehr Kontakt aufnehmen und wurde geächtet. Eine schwärende Wunde und ein Verlust, der bis heute an ihm nagt.

Als er nun eine neue Freundin kennenlernt, fordert diese von Tsukuru Tazaki, er müsse sich den Dämonen seiner Vergangenheit stellen, ehe sie mit ihm eine tiefere Bindung eingehen können. Folglich besinnt sich Tazaki also seiner alten Freunde und sucht diese nacheinander auf, um dem Geheimnis und damit auch sich selbst näherzukommen. Bei seiner Suche macht er überraschende Entdeckungen und begibt sich bis nach Finnland auf der Suche nach dem Grund seines Ausschlusses.    

Freundschaften und nicht verheilte Wunden

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki ist ein philosophisches Buch, das erneut die schriftstellerische Meisterschaft Haruki Murakamis vor Augen führt. In knapper Form (und wieder treffend von Ursula Gräfe ins Deutsche übertragen) erzählt er vom Wert der Freundschaft und von Wunden, die auch nach Jahrzehnten nicht zu heilen vermögen. Anspielungsreich schlägt er einen Bogen von Franz Liszts Années de pelerinage bis hin zu den eigenen Pilgerjahren Tsukurus. Das Buch ist eine melancholische Spurensuche mit Gedanken, die es sich lohnt selber zu verfolgen und zu überdenken.

Ein nicht allzu langes Buch, das man mit großem Gewinn lesen kann und das an die eigenen Freundschaften zurückdenken lässt. Wen hat man inzwischen aus den Augen verloren? Was hätte man damals besser gesagt und was nicht? Murakami macht nachdenklich.  

Für alle, die das Buch schon gelesen haben, habe ich hier noch die Interpretation von Liszts Années de pelerinage durch Lasar Berman angehangen. Das Stück fängt für mich sehr gut die herrschende Stimmung des Buches ein und versetzt zurück in Tsukurus Leben.

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