Der Hochstaplerinnenroman als Slowburner. Über 570 Seiten erzählt Vea Kaiser von der Betrügerin (oder wahlweise dem Finanzgenie) Angelika Moser, die ihren Arbeitgeber, ein Wiener Grand Gotel, um mehrere Millionen erleichtert hat. Warum dem so ist und wie der Betrug so lange Zeit nicht auffallen konnte, davon berichtet Kaiser ausführlich, ebenso wie von den Belastungen der Mutterschaft und dem Schein und dem Sein in Hotels und bei Menschen. Man sollte für Fabula Rasa oder: Die Königin des Grand Hotels nur ein wenig Durchhaltevermögen mitbringen.
Auch wenn es in der Nähe zum Hotel Sacher an der Wiener Ringstraße liegt, so herrscht doch eine starke Rivalität zwischen dem altehrwürdigen Haus und dem von Vea Kaiser ersonnenen Grand Hotel Frohner, das mit Guppys im Aquarium in der Lobby, dem funkelnden Lobmeyer Lüster und einem nimmermüden Hoteldirektor aufwartet. Hier arbeitet auch Angelika Moser, die Protagonistin von Kaisers neuer, über 570 Seiten starken Erzählung, die ganz in der Doppeltitel-Tradition auf Fabula Rasa oder: Die Königin des Grand Hotels hört.
Bis Angelika Moser allerdings zur heimlichen Königin des Grand Hotels aufsteigen kann, vergeht viel Zeit. Während ihre Kolleginnen im Hotel hingebungsvoll der Dreifaltigkeit der Wiener Laster huldigen, namentlich dem Schlendrian, dem Schlamptertatsch und dem Schludrian, so ist Angelika bestrebt, es anders zu machen. Obschon sie sich zunächst auch noch dem Schlendrian hingibt, indem sie mit ihrer Freundin Ingi die Nächte im Club U4 durchfeiert, zieht schon bald ein neuer Geist im Leben Angelikas ein.
Die Trennung von ihrem grundsoliden und ebenso langweiligen Freund Berti, eine sich anbahnende Romanze mit einem neuen Hotel-Praktikanten und dann noch ein Kind mit dem Strizzi und Schlendrian Freddy, schon ist das Leben Angelikas auf den Kopf gestellt. Die einzige Konstante ist und bleibt die Arbeit im Frohner, bei der sie zur vielgeschätzten Buchhaltungschefin aufsteigt.
Die Königin der Buchhaltung
Auch wenn der Chef durchs Haus tobt, frisierte Rechnungen verlangt oder sich der einstige Praktikant als neuer Chef des Frohners herausstellt – Angelika hält die Stellung. Doch dabei hat sie selbst ein großes Geheimnis, denn immer wieder veruntreut sie durch Rechnungsstellungen Geld. Ein Umstand, den schon der Prolog des Romans mit seinen ersten Sätzen verrät.
Die Frage, die mir zu meinem Schreiben am häufigsten gestellt wird, lautet Wie kommen Sie auf solche Geschichten? Im Fall des vorliegenden Romans ist sie schnell beantwortet: Indem ich die Zeitung aufschlug. Dort las ich im Juni 2019 von einer Hotelbuchhalterin namens Angelika Moser, die ihrem Arbeitgeber, dem Grand Hotel Frohner, über Jahre hinweg 3,3 Millionen Euro gestohlen hatte. Vor Gericht, zu ihren Motiven befragt, entschuldigte sie sich damit, nur das Beste für ihr Kind gewollt zu haben.
Ich kam nicht umhin, ein gewisses Maß an Verständnis für diese Frau aufzubringen. Ich war hochschwanger mit meinem Sohn. Wenn ich seinen Fuß durch die Bauchdecke ertastete, ahnte ich: Ich würde auch 33 Millionen Euro stehlen, wenn er es bräuchte. Wer nicht? Wer ist in dieser närrischen, gar affigen Liebe, die man nur zum eigenen Kind empfinden kann, vor jeglicher Torheit gefeit?
Vea Kaiser – Fabula rasa oder: Die Königin des Grandhotels, S. 1
Man kann nicht sagen, dass uns Vea Kaiser im Unklaren über die Täterin, ihr Verbrechen und Motiv lässt. Es liegt schon auf den ersten Seiten da, doch wie es dazu kam, dafür verwendet Vea Kaiser viele Seiten. Sehr viele Seiten. Die gescheiterten Beziehungen, das Liebeschaos, das Dasein als alleinerziehende Mutter: ausführlich schildert Kaiser die Mühen in Angelikas Leben, erzählt minutiös von ihrer Herkunft aus dem Wiener Gemeindebau, den Leiden der Geburt und der Verlassenheit, wenn sich der Strizzi-Vater nicht ganz überraschend auch nach der Geburt des eigenen Kindes als Strizzi erweist, der kein Geld nachhause bringt – und sich selbst noch weniger.
Ein Unterhaltungsroman mit feministischer Botschaft
Dass Vea Kaiser ebenso wie ihr erzählerisches Alter Ego, das sich in den Zwischenkapiteln des Buchs immer wieder einschaltet, seit dem Erscheinen ihres letzten Romans Rückwärtswalzer im Jahr 2019 Mutter geworden ist, merkt man Fabula rasa oder: Die Königin des Grand Hotels deutlich an.
Noch nie hat sich Kaiser so tief in den Umgang der Gesellschaft mit Müttern und familiäre Überlastungen eingearbeitet. Fabula Rasa ist wohl der Text, der bislang am wütendsten und kämpferischsten die Rolle der Mutter in Familie und Gesellschaft thematisiert und ihre mangelnde Unterstützung beklagt. Hier begibt sich Vea Kaiser in die Gesellschaft anderer österreichischer Autorinnen wie Mareike Fallwickl oder Getraud Klemm und serviert im Gewand eines Unterhaltungsromans viel feministische Kritik am Blick, der auf Mütter fällt, und den Erwartungen, die an sie gerichtet werden.
Dagegen ist gar nichts einzuwenden, lediglich die allzu ausufernde Auswalzung der Liebeswirren und familiären Überlastungen hätte zumindest ich mir in etwas kompakterer Form gewünscht. So ist Fabula Rasa mit seinen 576 Seiten noch einmal 80 Seiten länger als Kaisers voluminöses Debüt Blasmusikpop oder: Wie die Wissenschaft in die Berge kam – und das bei einer im Vergleich zu ihrem Debüt recht überschaubaren Erzählanlage, die ja eigentlich nur Angelika Mosers Finanzbetrug ergründen will.
Der Hochstaplerinnenroman als Slowburner
So stellt sich bei diesem Hochstaplerinnenroman mit dem Verfliegen der hunderten an Seiten das Gefühl eines Slowburners ein. Man kennt von Anfang an den Betrug – die Enttarnung der Betrügerin erfolgt aber erst auf den letzten Seiten des Buchs, sodass die Darstellung des Motivs des Betrugs die meisten Seiten des Romans einnimmt. An manchen Stellen fordert dieses Erzählen in Zeitlupe und den hochauflösenden Blick auf Angelika Mosers Lebensgeschichte den Durchhaltewillen durchaus heraus.
Spannender ist da schon die Frage nach dem Wahrheitsgehalt, mit dem der Roman spielt. Was ist wahr, was erdacht? Dass es ein Hotel Frohner an der Wiener Ringstraße nicht gibt, geschenkt. Dass es aber zwei Jahre nach dem von Kaiser geschilderten Betrug in realiter zwei Jahre nach dem von Kaiser geschilderten Betrug, lässt dann auch Kaisers Behauptung eines Gesprächs mit der inhaftierten Betrügerin in einem reizvollen Zwielicht erscheinen. Wessen wohnt man hier bei? Tabula rasa im Gefängnis in der Josefstadt oder Fabula rasa im Grandhotel Frohner?
In der Unzuverlässigkeit des Erzählens entfaltet Fabula Rasa oder: Die Königin des Grand Hotels einen Reiz, der dann auch für manche erzählerische Volte zu viel entschädigt, und der auf den zwei erzählerischen Ebenen des Buchs gut durchgehalten wird.
Fazit
Was stimmt hier, was ist gelogen – und wäre der Betrug am Leser wirklich schlimm, wenn er so unterhaltsam geschildert wird, wie es Vea Kaiser hier tut? Fabula Rasa oder: Die Königin des Grand Hotels ist der nächste Wien-Roman einer jungen Österreicherin in diesem Jahr, der sich kritisch mit der landestypischen Mentalität in Sachen Großmannssucht, Pomp und Prunkbegeisterung auseinandersetzt. Vielleicht ein wenig mehr Mut zu Fassung und Kürze hätten dem Roman gutgetan, so oder so ist das Buch aber wieder ein massenkompatibler Schmöker, diesmal mit feministischem Einschlag, geworden, an dessen Ende man selbst mit der moralischen Bewertung des Tuns von Angelika Moser hadern darf.
- Vea Kaiser – Fabula Rasa oder: Die Königin des Grand Hotels
- ISBN 978-3-462-05234-3 (Kiepenheuer & Witsch)
- 576 Seiten. Preis: 25,00 €
