Wolfgang Schorlau – Die schützende Hand

Staatsversagen

Der geschasste BKA-Ermittler und Privatdetektiv Georg Dengler ist zurück. In Die schützende Hand löst er nun bereits seinen achten Fall, der es mehr als in sich hat. Nachdem er sich schon mit der Pharma-Lobby (Die letzte Flucht) oder den Auswüchsen unseres übermäßigen Fleisch-Konsums (Am zwölften Tag) beschäftigt hat, legt er nun seinen Finger in eine hochaktuelle Wunde: bereits seit Jahren läuft der NSU-Prozess; das Interesse und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit lässt nach. Doch wie begann eigentlich die Aufdeckung der Mordserie? Was ist damals wirklich unter den Augen des Verfassungsschutzes passiert? Wolfgang Schorlau widmet sich mit Die schützende Hand dem NSU und dem Komplex, der hinter den Ereignissen stand.

Ein ungewöhnlicher Auftrag

Der Auftakt zu Denglers achtem Fall gestaltet sich durchaus dubios. Dem Stuttgarter Schnüffler wird ein anonymes Handy zugestellt. Daneben bekommt er 15.000 Euro und kurz darauf teilt ihm am Telefon sein Auftraggeber mit: „Ermitteln Sie, wer Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erschoss.“ Leicht verdientes Geld für Georg Dengler, denn die Wahrheit kennt man ja aus sämtlichen Berichten. Die beiden männlichen Teile des NSU-Trios erschossen sich nach einem Banküberfall in Stregda, einem Ortsteil Eisenachs, in einem Campingmobil.  

Doch Dengler wäre nicht Dengler wenn er nicht seinen Instinkten trauen würde. Schon bald nähren sich in ihm die Zweifel an der offiziellen Version des Tathergangs. Warum sollten sich zwei über alle Zähne bewaffnete Neonazis plötzlich vor zwei einfachen Streifenpolizisten in ihrem Camper fürchten, gerade wo sie zuvor schon skrupellos die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen? Wie sollte es den beiden gelingen, sich innerhalb von zwanzig Sekunden zu erschießen, mit der Pumpgun nachzuladen und ein Feuer zu legen? Wenn sie sich beide im Camper erschossen, wo sind dann die Patronen, wo ist die Hirnmasse und warum fehlen auf sämtlichen Waffen Fingerabdrücke? Dengler wird schon bald klar, dass die offizielle Erklärung der Stellen mehr Löcher als der Finanzhaushalt Griechenlands hat.

Fragen über Fragen

Warum ließ der Einsatzleiter in Eisenach wieder alle Regeln Videomaterial vom Tatort beschlagnahmen, betrat selber den kontaminierten Tatort und ließ dann statt der Spurensicherung den Camper von einem Abschleppunternehmen durch ganz Eisenach fahren und unbewacht abstellen? Warum begann sofort nach dem Auffinden der Leichen der NSU-Mitglieder das große Schreddern der Unterlagen beim Verfassungsschutz? Welche Rolle spielten dessen V-Männer im Komplott?   Schorlau bindet in seinen Prosatext immer wieder Auszüge aus Untersuchungen des NSU-Untersuchungsausschusses und aus Gutachten ein und zeigt dass auch vier Jahre nach dem eventuellen Suizid in Eisenach mehr Fragen als Antworten herrschen.  

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Die Fakten, die Schorlau langsam und nachvollziehbar in seinen Krimi einwebt, lassen wirklich an ein staatlich gesteuertes Verbrechen denken. Keine der offiziellen Stellen kommt gut weg. Der Verfassungsschutz? Mutwillig weggeschaut bzw. die rechte Szene durch V-Männer finanziell gestärkt. Die Polizei? Verstrickt sich auch in Widersprüche und ermittelte im Fall der Nagelbombe in Köln nicht in alle Richtungen sondern versuchte die Schuld den türkischstämmigen Anwohnern zu geben.   Dies greift Schorlau auf, indem er Georg Dengler noch einen Schlenker in seiner Vita mitgibt. Bereits damals ermittelte dieser nämlich für einen ansässigen Buchhändler in Köln, fand aber nur tote Enden bei seiner Spurensuche vor. Dieser biographische Rückgriff wäre für mein Empfinden nicht unbedingt notwendig gewesen, davon abgesehen aber ist Die schützende Hand einer der besten und wichtigsten Titel aus der Dengler-Reihe. Jeder der sich nur einen Funken für das Staatsversagen beim NSU-Komplex oder die offenen Fragen interessiert, die der Prozess in München schon wieder zu verschütten droht, sollte zu diesem Titel greifen.  

Krimi und Sachbuch zugleich

  Dieses Buch sensibilisiert für die Thematik des Nationalsozialistischen Untergrunds und der Verstrickung der Staats und seiner Organe in diese beispiellose Mordserie. Dieses Buch ist zugleich ein spannender Krimi und ein Sachbuch, das anstelle von trockener Fakten durch die Einbettung in eine Krimihandlung sowohl Krimileser als auch Politisch Interessiert (oder beide natürlich kombiniert)  zu fesseln vermag. Könnte der ein oder andere die hanebüchenen Widersprüche und Schorlaus Thesen als verschwörungstheoretischen Mumpitz abtun wollen, so sprechen doch seine 73 im Anhang aufgeführten Quellen eine andere Sprache. Die schützende Hand ist für mich der beste Beweis dass die Realität die Kriminalfiktion zu übertrumpfen weiß. Spannend, voller Cliffhanger und politisch mehr als relevant. Diesem Buch wünsche ich, dass es unter möglichst vielen Weihnachtsbäumen dieses Jahr liegt und dann auch gelesen wird!  


Titelbild: Gedenkstätte für die Opfer des NSU-Terrors in Zwickau

Quelle: By André Karwath aka Aka – Own work, CC BY-SA 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=84404149

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[…] hat es wieder getan: in seinem neuen Krimi Am zwölften Tag legt Wolfgang Schorlau einmal mehr den Finger in die Wunden unserer Gesellschaft. Diesmal schickt er seinen Privatdetektiv […]

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[…] güldenen Regelwerk für Regionalkrimis folgen auch Wolfgang Schorlau und Claudio Caiolo bei ihrer Zusammenarbeit namens Der freie Hund. Ihr Komissar heißt Antonio […]

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[…] das in der Öffentlichkeit breit diskutiert wurde, kaum aber in die Literatur Einzug fand). Auch Wolfgang Schorlau gelingt es stets, den Finger in die offenen gesellschaftlichen Wunden zu legen, egal ob Probleme […]

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[…] drei Jahre sind es auch bei Schorlau geworden. So viel Zeit ist seit dem Erscheinen des NSU-Krimis Die schützende Hand vergangen. Der Krimi, eigentlich für den Herbst letzten Jahres angekündigt, wurde noch einmal […]

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[…] hat mit Wolfsspinne den Thriller der Stunde vorgelegt, der ähnlich wie Wolfgang Schorlaus Krimi Die schützende Hand die Problematik des Verfassungsschutzes und des grundlegenden Rechts-Drifts in diesem Land […]