Monthly Archives: September 2017

Robert Menasse – Die Hauptstadt

Von Brüsseler Schweinen

Ein Schwein läuft durch Brüssel – und die belgische Hauptstadt steht Kopf. Mit „Die Hauptstadt“ hat Robert Menasse einen so bunten wie vielfältigen Roman vorgelegt, der sich um die europäische Hauptstadt und ihre Bewohner dreht. Ein Roman der Stunde – im wahrsten Sinne des Wortes saustark!

Der furiose Prolog führt gleich das Leitmotiv des Romans ein – ein Schwein, das auf dem Platz vor St. Catherine im Herzen Brüssels auftaucht. Alle Menschen, denen das Schwein auf seinem Weg durch die Innenstadt begegnet, werden auf den folgenden 450 Seiten des Romans entscheidende Rollen spielen, als da wären, eine griechische EU-Beamtin mit Ambitionen, ein Professor für Volkswirtschaftslehre, ein Kommissar und ein Holocaust-Überlebender (nebst ein paar weiteren Charakteren).

Sie alle leben und arbeiten in Brüssel und sind durch das Schicksal und ihr Wirken miteinander verknüpft. Wie genau, das zeigt sich nach und nach. Menasse springt in seinem 11 Kapitel starken Roman immer wieder von Handlungsstrang zu Handlungsstrang und verwebt so seine Protagonisten in ein dichtes Netz. Den Hauptverbindungsknoten bildet dabei das sogenannte Jubilee-Projekt, mit dessen Durchführung die griechische EU-Beamtin Fenia Xenopolou betraut ist.

Stetig sinkt das Ansehen der Euopäischen Institutionen, das Wirken derer da oben in Brüssel erscheint der Bevölkerung soweit von der eigenen Wirklichkeit entfernt wie der EU-Machtapparat von Transparenz. Deshalb soll Xenopolou ein Projekt initiieren, das die Arbeit und die Vorteile der EU in ein besseres Licht rückt. Die Griechin wittert darin eine Chance um die Vorgesetzten auf sich aufmerksam zu machen, möchte sie doch unbedingt aus dem ungeliebten und machtlosen Kulturressort in ein vielversprechenderes Ressort wechseln.

Derweil bereitet sich der österreichische Volkswirtschaftsprofessort Alois Erhart auf einen Vortrag vor, den er vor einem EU Think-Tank halten will. Thema: Nationalökonomie und Entwicklung einer supranationalen EU der Zukunft. In einem Hotelzimmer liegt eine Leiche – und Kommissar Brunfaut soll den Mord zu den Akten legen und den Fall vergessen. Und der Holocaust-Überlebende David de Vriend zieht aus seiner Wohnung im Zentrum Brüssels aus, um seine alten Tage in einem Altersheim zu verbringen. Und dann ist da noch dieses Schwein, das durch Brüssel rennt und von den Medien buchstäblich durch das Dorf getrieben wird.

(c) Flickr, Eogann O’Lionnain

Die Kunst Robert Menasses ist es nun, aus diesen sperrigen und auf den ersten Blick völlig disparaten Themen und Figuren einen Roman zu stricken, der wunderbar funktioniert und aufs Beste unterhält. Die Hauptstadt will vieles sein – und fast alles dabei gelingt Robert Menasse auch: das Buch ist eine EU-Studie, eine Bestandsaufnahme Europas und Brüssel zugleich, ein Buch mit sachbuchähnlichen Passagen, ein Roman mit Krimielementen, ein Gedenken an die unermesslichen Schrecken des Holocausts, eine Komödie – eben die literaturgewordene Antwort auf den Pluralismus der Europäischen Union.

Dass die EU ein Leib-und Magen-Thema Menasses ist, merkt man diesem Roman stets an. Vor diesem Roman veröffentliche der Österreicher bereits Streitschriften wie Der europäische Landbote oder Kritik der Europäischen Vernunft. Darin zeigt sich Menasse als engagierter Reformer und Streiter für die Europäische Union. Das profunde Wissen um Abläufe und Schwächen jener Union merkt man auch der Hauptstadt an. Die Passagen über bürokratische Prozesse und Absurditäten wie etwa die Importe von Schweineohren (siehe schweinisches Leitmotiv) sind erhellend. Sie bieten eine (dringend benötigte) Einführung in die Arbeit und Wirken der EU und schaffen Sensibilität.

Eine Sensibilität, die gerade in den aktuellen Zeiten mehr als benötigt wird. In Zeiten, in denen immer mehr Kräfte und Parteien auf eine Schwächung Brüssels drängen, Staaten die EU verlassen und sich der Eindruck von Korrosion gemeinsamer Werte und Verbindlichkeiten verfestigt, kommt Die Hauptstadt also genau zur rechten Zeit

Dass das neue Buch des Österreichers auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2017 gelandet ist, kommt nicht von ungefähr. Für mich ist dieses schön komponierte Buch ein Füllhorn von Gattungen und Figuren. Ein im besten Wortsinn politisches Buch, das auf den Nacht- oder Schreibtisch jedes engagierten Europäers gehört!

 

 

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Mein Shortlist-Lotto 2017

Auch dieses Jahr will ich mich mal wieder an einem kleinen Shortlist-Lotto versuchen. Nachdem meine Trefferquote aus dem letzten Jahr mit 33% eher bescheiden war (aber hey- immerhin hatte ich mit Bodo Kirchhoff den späteren Buchpreisgewinner auf meinem Zettel) gibt es dieses Jahr einen neuen Versuch. Hierfür habe ich das Leseprobenheftchen des Buchpreises gewälzt und zahlreiche der 2017 nominierten Bücher gelesen.

 

Zu Feridun Zaimoglu habe ich schon einmal eine Kurzkritik verfasst, in den kommenden Tagen werden noch die Langkritiken zu den Büchern Lichter als der Tag von Mirko Bonné, Außer sich von Sasha Marianna Salzmann und Die Hauptstadt von Robert Menasse erscheinen. Jonas Lüschers Kraft und Julia Wolfs Walter Nowak sind ebenfalls gelesen, allerdings ohne hier vorliegende Rezensionen. Dafür verweise ich auf die tollen Besprechungen von Peter liest zu Kraft und Sounds & Books zu Walter Nowak bleibt liegen, die kongruent mit meinen Eindrücken sind.

Nun aber frisch ans Werk, hier meine sechs Tipps für die morgen erscheinende Shortlist des Deutschen Buchpreises 2017 – ohne Gewähr:

Jonas Lüscher mit Kraft muss mit drauf, einfach weil er das beste Buch dieses Fühjahrs geschrieben hat. Ein lustiger, ein böser, ein sprachlicher Hochgenuss – ein Buch, das auf so vielen Ebenen glänzt und schillert, das man nicht daran vorbeigehen kann. Das Floß der Medusa hatte einen sehr schweren Start bis es in die Gänge kam (schließlich erschien es schon im Januar) – aber wenn sich so ein massives Floß erst einmal in Bewegung gesetzt hat, dann kann man es schwerlich aufhalten.

Das beste Buch dieses noch sehr jungen Bücherherbstes hat bislang der Österreicher Robert Menasse mit Die Hauptstadt geschrieben, das nicht nur für den Deutschen, sondern auch für den Österreichischen Buchpreis nominiert ist (genauso wie das neue Buch seiner Halbschwester Eva Menasse). Um die Frauenquote nicht zu vergessen – auch für Marion Poschmann rechne ich mir Chancen aus, dass sie es auf die Liste schafft.

Die letzten beiden Starterplätze gehen zuletzt an den bisher Buchpreis-ungekrönten Ingo Schulze und an Julia Wolf. Ersterer wird getippt, weil die Leseprobe gut gelungen ist und nach neun Jahren dem vielfach ausgezeichneten Schriftsteller auch mal wieder ein Platz auf der Shortlist gebührt , zweite, weil ihr Walter Nowak in den Feuilletondebatten meist gut wegkam und trotz meiner Schwierigkeiten mit dem Titel doch auch das gewisse Etwas besitzt.

 

Wie seht ihr das? Welche Titel kommen in den Recall? Welches Buch hat euch enttäuscht?

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Colson Whitehead – Underground Railroad

Bitte Einsteigen zu einer literarischen Tour der besonderen Art. Colson Whitehead lädt ein zu einer Fahrt mit der Underground Railroad zu den Wurzeln des Rassismus und ethnischen Konflikten. Doch Achtung – es wird keine gefällige Fahrt werden – Ruckeln und Bremsungen inklusive!

Sein literarischer Zug besteht aus verschiedenen Charakteren und Stationen. Die Hauptstrecke wird von Cora, einer jungen Sklavin mit unbändigem Freiheitsdrang, bestritten. Diese beschließt es ihrer Mutter nachzutun und von der Baumwollplantage in den Norden zu fliehen. Helfen soll ihr dabei die Underground Railroad, die Colson Whitehead als besonderer Kniff seines Romans einfach wörtlich genommen hat. Die Fluchtroute für die Sklaven in den Norden ist bei ihm nämlich nicht nur eine einfache Schmuggelroute, sondern tatsächlich ein unter der Erde Amerikas existierenden Eisenbahnnetz. Dieses gut geschützte Geheimnis wird von verschiedenen Stationsvorstehern bewacht. Für Cora stellt es die Lösung dar, um ihrer Baumwollplantage und ihrem Schicksal zu entkommen und nach North Carolina zu fliehen.

Dort herrscht eine mildere Form der Rassentrennung; Abolitionismus und Anerkennung von entlaufenen Sklaven kennzeichnen diesen Staat. Dass gut gemeint auch immer noch bestürzend fatal sein kann, zeigt Colson ins Szenen und Dialogen, die heute nur noch den Kopf schütteln lassen. Wie etwa denen, in denen es um Vergewaltigung und Zwangssterilisation geht:

„Die Entscheidung liegt natürlich bei dir“ sagte der Arzt. „Seit dieser Woche ist die Operation für einige im Staat zwingend vorgeschrieben. Für farbige Frauen, die schon mehr als zwei Kinder geboren habe, im Sinne der Bevölkerungskontrolle. Für Schwachsinnige und anderweitig geistig Ungeeignete, aus naheliegenden Gründen. Für Gewohnheitsverbrecher. Aber für dich gilt das nicht, Bessie.“ (Whitehead, Colson: Underground Railroad, S. 134)

Gerade in diesen Szenen und Beschreibungen gelingt es dem amerikanischen Autor, ein vielgestaltiges und nuanciertes Bild der Sklaverei- und Rassismusproblematik zu zeichnen. In diesen Szenen ist das Buch besonders stark und berührt und verstört durch die ungefilterte Darstellung der Leiden Coras, die stellvertretend für Millionen Schicksale steht.

Immer wieder wechselt Whitehead seine erzählerischen Abteile, springt von Cora zum Kopfgeldjäger Ridgeway, der die Verfolgung der jungen Sklavin aufgenommen hat. Er bremst die Erzählung manchmal auf ein gemächliches Tempo herunter, dann beschleunigt er und rafft die Handlung, sodass der Leser sich manchmal anstrengen muss, um an Bord zu bleiben. Durch verschiedene Staaten geht es, verschiedene Menschen erzählen (Deutsche Übersetzung durch Nikolaus Stingl).

Mit der ganzen Fülle der Details gelingt ihm ein umfassendes Porträt des zentralen (amerikanischen) Problems, das bis heute in die Gesellschaft fortwirkt. Erschütternd zu sehen, welchem Leid und welcher Verfolgung die farbige Bevölkerung ausgesetzt war – und noch erschütternder zu sehen, dass auch heute noch genau die gleichen Probleme existent sind. Ein amerikanischer Präsident, der das Wirken des KuKluxKlans nicht verurteilen mag, White Supremacists und die Black Lives Matter Bewegung – all das sind nur einige Schlagworte, die zeigen, wie immanent wichtig Whiteheads Buch ist, um die amerikanische Gesellschaft in Ansätzen verstehen zu wollen. Deshalb ist das Buch für mich auch ein Schlüsselroman Amerikas und unbedingt zu empfehlen

Ein sperriges Buch, eine fantasievoller Roman – oder um mit den Worten Colson Whiteheads zu schließen:

Wenn man sehen will was es mit diesem Land auf sich hat, dann muss man auf die Schiene. Schaut hinaus, während ihr hindurch rast und ihr werdet das wahre Gesicht Amerikas sehen (Whitehead, Colson: Underground Railroad, S. 301).

 

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Lars Ruppel – Mein lieber Herr Gesangsverein, die Waldfee holt die Kuh vom Eis

Gedichte: wer bei diesem Begriff schon einzuschlafen droht, an Jambus, sechshebige Alexandriner oder verhasste Gedichtanalysen in der Schule denken muss und dann abwinkt – Rettung ist in Sicht! Sie kommt von Lars Ruppel, mehrfachem Deutscher Meister im Poetry Slam und Verseschmied der Extraklasse.

Mein lieber Herr Gesangverein, Holger die Waldfee holt die Kuh vom Eis heißt der knackige Titel der Doppel-CD von Ruppel, die sich aus den zwei bereits veröffentlichten Gedichtbänden Holger, die Waldfee und Die Kuh vom Eis speist. Die Spezialität Ruppels sind nämlich Gedichte über Redensarten, in denen feststehende Begriffe wie der Heilige Strohsack oder Mein liebes Bisschen einen ganz neuen Sinn erhalten. Das ist manchmal lustig, manchmal nachdenklich machend, immer verblüffend und einfach unterhaltsam.

Die zwei CDs enthalten nun jeweils 11 Gedichte mit einer insgesamten Spiellänge von 130 Minuten. Eingelesen hat Ruppel die Gedichte im Studio – es sind also keine Liveaufnahmen von Poetry Slams, sondern einfach die in Studioatmosphäre vorgetragenen Gedichte. Auch wenn mir die von Poetry Slams gewohnte Stimmung und Szenenapplaus oder Lachen anfangs fehlten, so entfaltetet die Kunst Ruppels auch in neutraler Atmosphäre ihren Reiz.

Ob von antikapitalistischen Spechten, einer AFD-Fabel oder dem grandiosen IKEA-Gedicht „Alter Schwede“ – Ruppels Gedichte sind durch die Bank weg großartig, überraschend und durchdacht. Wenn diese großartig gereimten Geschichten aus Gedichtmuffeln keine Ruppel-Fans machen, dann weiß ich auch nicht mehr weiter!

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Graham Swift – Ein Festtag

Eine wunderbare Novelle hat Graham Swift mit Ein Festtag bzw. dem im englischen Original noch passenderen Titel Mothering Sunday geschaffen. Denn an jenem Muttertag im Jahr 1924 trägt sich ganz und gar Unerhörtes zu …

Der Muttertag war beziehungsweise ist Anlass für die gutbetuchten Familien auf dem englischen Land, den Hausangestellten freizugeben und zu einem Ausflug ins Grüne aufzubrechen. Im Hause Beechwood ist diesmal die Atmosphäre eine ganz besondere. Denn die Hochzeit der Sprösslinge zweier Clans steht kurz bevor. Auch das Gesinde ist von der Atmosphäre angesteckt – besonders aber die junge Hausangestellte Jane Fairchild, die hierfür auch einen speziellen Grund hat.

Denn seit Jugendjahren pflegt sie mit dem Bräutigam in spe eine Affäre, erst gegen Geld, später aus Gewohnheit. Und auch jener Muttertag ist eigentlich eine günstige Gelegenheit, die Bewohner sind aus den Herrenhäusern ausgeflogen und niemand stört die Zweisamkeit der beiden. So begibt sich Jane mit dem Rad zum Anwesen ihres Geliebten, um ungestörte Stunden mit ihm zu verbringen. Ein Muttertag nimmt seinen Lauf, der am Ende des Tages Janes ganzes weiteres Leben prägen wird.

Ein Festtag ist eher eine Novelle denn ein Roman. Schmale 144 Seiten umfasst das Buch und ist sehr reduziert. Kern ist die unerhörte Begebenheit der Affäre von Bräutigam und Hausangestellter, die nicht nur im Lichte der Jugend, sondern auch in der Retrospektive geschildert wird. Denn Janes hochbetagtes Ich kommt in der Novelle ebenfalls zu Wort, die jenes Geschehen im März 1924 reflektiert und nostalgisch Rückschau hält.

Graham Swift gelingt es in seinem Roman, eine stimmungsvolle und über allem schwebende Atmosphäre zu kreiern, die den Leser gefangen nimmt. Die Downton-Abbey-Atmosphäre wirkt wie aus der Zeit gefallen. Doch antiquiert ist das Buch keineswegs, vielmehr ist es stilistisch gut gearbeitet und von Susanne Höbel auch adäquat ins Deutsche übersetzt worden. Ein leichtes, fast schwebendes Buch über Begehren, Anziehung, Erotik und nicht zuletzt die Literatur selbst. Zu recht fand sich dieser Titel auch auf der SWR-Bestenliste!

 

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