Monthly Archives: August 2024

Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner

Es ist ein Thema, das gerade in ländlichen Gegenden sehr polarisiert: die Rückkehr des Wolfs. Die bayerische Staatsregierung erließ beispielsweise medienwirksam eine neue Wolfsverordnung zum Abschuss der Beutegreifer (die sie dann wieder wegen Formmängeln wenig später nicht ganz so medienwirksam wieder einkassieren musste), Diskussionsgruppen laufen heiß, wenn in der Nähe eine Wolfssichtung vermeldet wird. Auch Markus Thielemann behandelt dieses Thema in seinem Roman Von Norden rollt ein Donner. Doch nicht nur dieses Thema schwingt in seinem vielschichtigen Roman mit – vom Mythos der Lüneburger Heide bis hin zur Verwurzelung neurechten Gedankenguts in der Provinz reicht der erzählerische Bogen seines Romans.


Pittoreske Szenen sind es, die sich den Ausflüglern in der Lüneburger Heide bieten. Eine Schafherde, dazu Herdenhunde und ein junger Schäfer, der mit einem Stock ausgestattet die Schafe über die Heide treibt und so einen wichtigen Beitrag zum Schutz und Erhalt dieser Kulturlandschaft leistet. Doch ganz so heiter-bukolisch ist dieser Anblick nicht, wie Thielemann in seinem Roman zeigt, mit dem er sich – so tief wie er sich in das Thema eingearbeitet hat – glatt als Landschreiber der Region beweisen könnte.

Denn Jannes, so der Name des jungen Schäfers, hat mit Problemen zu kämpfen, wie eigentlich seine ganze Familie, die seit Generationen in der Heide verwurzelt ist und dort eine Schafzucht betreibt. Die Sichtungen des Wolfs auf dem nahegelegenen Truppenübungsplatz sind dabei nur eine Facette des Bündels an Problemen. Der Großvater beäugt die jüngeren Generationen mit Argusaugen, die Großmutter ist dement und fristet ihr Dasein in einem Altersheim.

Auch Jannes Vater plagen neurologische Probleme, diese werden aber von der Familie ausgeschwiegen und Termine beim Arzt ausgesessen. Und Jannes kapselt sich zunehmend von seinen Freunden ab, besonders, nachdem er bei der Halloweenfeier auf einem nahegelegenen Hof fast so etwas wie eine Psychose hatte und immer wieder eine Frau sieht, die die über die Heide und die Wälder streift. Halluzination oder Manifestation eines neurologischen Defekts, der sich durch die Generationen zieht?

Probleme auf der Heide

Da verbessert ein Fernsehdreh des NDR nicht unbedingt die Lage, auch wenn der Vater darin seine Chance sieht, vor der Gefahr des Wolfs zu warnen. Während sich der Vater in seine Angst vor dem Wolf immer weiter hineinsteigert, sind es Vision der geheimnisvollen Frau, die Janne stetig peinigen und deren Geheimnis er im Lauf des Romans langsam ergründet.

Markus Thielemann - Von Norden rollt ein Donner (Cover)

Denn die Vergangenheit wirkt auch in Von Norden rollt ein Donner noch höchst lebendig in die Gegenwart hinein. Zwischen NATO-Übungsplatz, Rheinmetall-Schmiede und dem ehemaligen KZ-Außenlager Bergen Belsen taucht Jannes in die Geschichte der Heide und der eigenen Familie ein. Dies verbindet er mit lokalen Schauergeschichten wie der der Roggenmuhme und schafft dann auch noch Anschluss an die Diskurse der Gegenwart.

Obschon der Roman in den Jahren 2013/14 angesiedelt ist und die deutsche Fußballnationalmannschaft mit ihrem Sieg bei der WM das Land in einen patriotischen Freudentaumel stürzt, zeichnet sich bei Markus Thielemann in diese Freude über das eigene Land bereits der Anfang einer subkutane Verschiebung des Heimatbegriffs ab. Eine Verschiebung, deren Ausmaß nun nach der Europawahl und kurz vor den Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern in diesem Land immer stärker zutage tritt. Bei Thielemann dräut diese Veränderung in Form des Nachbars Karl Röder , der sich in der Südheide in unmittelbarer Nachbarschaft zu Jannes´ Familie niedergelassen hat und der das Thema der Bewahrung der Heimat ganz eigen interpretiert.

Von der Bewahrung der Heimat

Dessen traditionell gekleidete Familie, der Hof mit der wehenden Deutschlandflagge und der Schützenscheibe über der Tür sowie der omnipräsenten Wolfsangel gibt hier schon einen Eindruck jener völkischen Siedlungsbewegung, die an unterschiedlichen Stellen im Land in den Folgejahren immer unverhohlener auftreten sollte.

Wenn Röder sein Gedankengut äußert, dann ist man sich an vielen Stellen unsicher, ob man hier noch Tiraden über den Wolf liest oder ob dieser schon längst zur Chiffre für alles Fremde geworden ist, das hier abgelehnt wird. Liest man im folgenden Jahr durch die Fluchtbewegungen verstärkt wurde und für den Auftrieb der im Buch als „Professorenpartei“ auftauchenden politischen Neugründung sorgen sollte. Das Aufstieg des Wutbürgertums und die Radikalisierung von Sprache und Handeln, sie schwingt in Von Norden rollt ein Donner mit.

„Tja“, sagt Wilhelm und setzt sich seinen Gut auf. „Hab nicht schießen gelernt, damit ich dumm zugucke, wenn die Viecher sich hier frei bedienen an meinem Vieh.“

„Seh ich ganz genauso, Herr Volker“, sagt Röder. „Ganz genauso. Sie lassen einem keine Wahl mehr: Wenn man sich auf keinen verlassen kann, muss man die Dinge selbst in die Hand nehmen. So wird’s gemacht.“

„Tse. Ist doch eh gleich. Wenn man schon dafür bestraft wird, dass man sich selbst verteidigt in diesem Land, dann geht eh alles den Bach runter. Sollen die alle machen, was sie wollen. Ich mach’s anders. Früher hätte man über so was gar nicht diskutiert. Da wär man direkt los.“

„Und der größte Witz ist doch, dass man sich am Ende gegen das verteidigen muss, was uns die Politik erst eingeschleppt hat. In vollem Wissen und in voller Absicht hat man sich den Wolf nach Deutschland geholt“, sagt Röder. „Aber wir sollen bloß alle schön brav bleiben. Bloß alles abnicken. Und dann wundern die sich, wenn es am Ende knallt.“

„Und knallen wird’s, das glaubt man.“ sagt Wilhelm, dreht sich um und tritt ab.

Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner. S. 251 f.

Ein eminent politischer Roman

Nicht nur in solchen Passagen ist Von Norden rollt ein Donner auch ein eminent politischer Roman. In Zeiten des Erstarkens neurechter Kräfte und Bauernproteste, deren Wut ebenjene Kräfte auch gerne schürten, kommt Thielemanns Buchs fast so etwas wie eine Erklärung, zumindest eine Beschau von deren Ursprüngen zu. Mit unterschiedlichen Motiven gearbeitet betrachtet Thielemann so zudem die Kipppunkt von Patriotismus hin zu Geschichtsvergessenheit, von Naturliebe und Herdenschutz hin zu bedenklichen Formen des Bewahrung einer eigenen Identität und eine Ablehnung des Fremden.

Über die Problematik des Wolfs in der Landwirtschaft informiert und den Umgang mit der Thematik informiert Thielemanns Roman ebenso gut wie der Roman die Anfänge neurechter Siedlerbewegungen behandelt, die keineswegs nur auf den Osten beschränkt sind, auch wenn in Diskussionen gerne dieser Eindruck erweckt wird. Seine Geschichte erzählt Markus Thielemann in einem präzisen Tonfall, der für die raue Natur der Heide ebenso ein sprachliches Register einfängt wie für die Visionen in Jannes Kopf oder die kargen Dialoge, mit denen die Familie miteinander in Kontakt tritt.

Fazit

Von Norden rollt ein Donner ist ein vielschichtiges, aktuelles Buch, das hinter die Fassade der vermeintlich so idyllischen Lüneburger Heide und des Schäfergeschäfts blickt. Thielemann gelingt politischer Roman, der eine Familie in den Mittelpunkt rückt, zu deren Stärken nicht unbedingt die Kommunikation zählt, sondern die Verdrängung der Vergangenheit schon besser funktioniert. Vom fragilen Gleichgewicht der Natur und des Miteinanders, dem Spuk in Geschichte und Geist erzählt handelt sein Buch, bei dem die Vergangenheit immer noch in die Gegenwart hineinwirkt. Eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis wäre für diesen Roman durchaus gerechtfertigt.


  • Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner
  • ISBN 978-3-406-82247-6 (C. H. Beck)
  • 287 Seiten. Preis: 23,00 €
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Claire Fuller – Jeanie und Julius

Dass das Leben in einem Cottage in Großbritannien nicht unbedingt etwas mit Beatrix Potter-haften Romantik zu tun haben muss, das beweist die britische Autorin Claire Fuller in ihrem Roman Jeanie und Julius eindrücklich. Sie zeigt ein Geschwisterpaar weit unter der Armutsgrenze und deren Kampf um ein selbstbestimmtes Leben.


Auch wenn es momentan die unsäglichen rassistischen Ausschreitungen sind, die das Bild von Großbritannien in den Medien dominieren, gibt es noch viele hartnäckige Bilder, die sich längst von der Realität abgelöst haben. Monarchie, Cool Britannia, bezaubernde Landschaften wie die Cotswolds oder Cornwall, dazu noch gut gekleidete Menschen in Landhäusern und Geselligkeit quer über alle Klassen hinweg bei einem Pint im Pub. Es ist ein verklärtes Bild von England, das auch immer noch von Serien wie Inspector Barnaby oder auch hier auf dem Blog immer wieder gefeiert wird.

Dass die Realität in Großbritannien längst eine andere ist, zeigt auch Claire Fullers Roman Jeanie und Julius. Zwar bedient dieser Roman auch auf den ersten Blick einige England-Klischees, biegt dann aber doch in eine andere, deutlich sozialrealistischere Richtung ab.

Ein plötzlicher Todesfall

So weckt die Begriffskette Familie-Geschwister-Cottage-Garten-Dorf im Hinterland wahrscheinlich zunächst romantische Erinnerungen an die Welt einer Beatrix Potter und ihres Peter Rabbit. Ein verwunschenes Häuschen mit dampfenden Teekessel auf dem Herd, Blumenreihen und dazu einen Acker mit viel Gemüse und anderer Pflanzen vor dem Haus. Doch Claire Fuller zertrümmert diese Illusionen schnell. Denn ihr Roman setzt gleich mit dem Tod ein. So stirbt auf den ersten Seiten Dot, die Mutter von Jeanie und Julius, an einem Herzinfarkt im heimischen Cottage. Und auch das Cottage selbst ist keineswegs pittoresk und wohnlich – vielmehr gleicht es eher einer bewohnten Ruine, in der sich nach dem Tod der Mutter die 51 Jahre alten Zwillinge Jeanie und Julius nun zu zweit den Platz teilen.

Claire Fuller - Jeanie und Julius (Cover)

Schon der Todesfall stellt die Geschwister vor große Probleme, denn sie haben überhaupt kein Geld, um sich eine Beerdigung, geschweige denn überhaupt einen Totenschein für 11 Pfund zu leisten. Denn die Familie Seeder lebt weit unter der Armutsgrenze, wie Claire Fuller im Lauf des Romans anschaulich zeigt.

Julius schlägt sich als Hilfsarbeiter durch und verdient dabei nur ein kleines Handgeld. Jeanie lebte bislang davon, das selbst angebaute Gemüse aus dem heimischen Garten als Direktvermarkterin an ein paar Abnehmer im Dorf zu verkaufen. Doch zum Leben reicht all das überhaupt nicht. Kein Geld für einen Sarg, überhaupt für einen vernünftigen Einkauf, noch dazu ist der Strom im Cottage schon lange abgestellt worden. Die beiden Geschwister können keine Rechnungen bezahlen und teilen damit das Schicksal von über 4 Millionen Briten, die nicht einmal mehr Stromrechnungen bezahlen können. Insgesamt sind es sogar über 15 Millionen Briten, die arm sind oder noch unterhalb der Armutsgrenze Leben – Tendenz steigend.

Jeanie und Julius im Abwärtsstrudel der Armut

Diese gerne übersehene Armut, der Kampf um Würde und die Scheu, Hilfe anzunehmen, Claire Fuller beschreibt all das nachvollziehbar und plastisch. Denn je mehr sich offenbart, wie verschuldet ihre Mutter tatsächlich war, umso tiefer geraten die Geschwister in einen Abwärtsstrudel. Nach und nach tauchen nicht nur Gläubiger auf, bei denen sich ihre Mutter Geld geliehen hat. Auch die Besitzer des Gutshauses, auf deren Gelände das Cottage steht, drohen mit einer Zwangsräumung. Und das, obwohl nach dem Tod des Vaters der übrigen Familie Seeder eigentlich ein lebenslanges Bleiberecht ohne Kosten zugesichert worden war.

Jeanie und Julius lockt mit seinem eigentlich recht malerisch und leicht daherkommenden Äußeren auf eine völlig falsche Fährte. Claire Fuller hat einen harten und sozialrealistischen Roman über ein Geschwisterpaar geschrieben, das allen Halt und Gewissheit verliert. Der Abstieg der beiden und ihr Kampf um Würde und Selbstbestimmung in einer fast ausweglosen Situation, er beeindruckt und bleibt im Gedächtnis, da das Buch auch Platz für feine Schattierungen und Hoffnung findet.

Fazit

Wieder einmal gelingt Claire Fuller ein genau beobachtendes Buch, das die neuen Gegebenheiten in Großbritannien entgegen aller hartnäckigen Klischees nicht ausspart und so einen Roman schafft, dessen Geschichte und dessen Held*innen im Kopf bleiben. Ihr gelingt es, diese wirklich der ökonomischen Unterschicht zugehörigen Figuren klar zu zeigen, ohne sie aber in irgendeiner Form bloßzustellen.

Sie setzt den oftmals Übersehenen und Vergessenen hier ein literarisches Denkmal und stellt sich damit auch in eine Traditionslinie etwa von Charles Dickens und dessen Sozialrealismus von David Copperfield bis zu Oliver Twist. Damit gelingt ihr einen wohltuenden Gegenpol zur gegenwärtigen Gepflogenheit, Romanpersonal überwiegend aus der Mittelschicht oder gleich aus der Oberschicht zu rekrutieren.

Die souveräne Übersetzung von Andrea O’Brien tut hier ihr Übriges zur Qualität dieses bestrickenden Romans dazu.


  • Claire Fuller – Jeanie und Julius
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • ISBN 978-3-910372-23-8 (Kjona-Verlag)
  • 336 Seiten. Preis: 23,00 €
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Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht

Das Kino als Fluchtpunkt und als Errettung aus aller Trübnis und Not – Florian L. Arnold erkundet das in seinem neuen Roman Das flüchtige Licht und findet für die Welt des Films überzeugende literarische Bilder. So gelingt ihm eine Hommage an das Kino, die Stadt Rom und die Freundschaft der Kindertage, deren unterschiedlicher Facetten er in seinem Roman nachspürt.


Viel ist schon über Rom geschrieben worden und immer wieder ist der Ewigen Stadt auch in Filmen ein Denkmal gesetzt worden. Das reicht von den Kinoarbeiten Fellinis und Viscontis bis hin zu Paolo Sorrentino, der in La grande bellezza der römischen Hauptstadt ein Oscar-gekröntes Filmwerk widmete.

Der Ulmer Autor Florian L. Arnold erschafft aus der Arbeit all dieser Regisseure nun eine literarische Synthese über den Mythos Rom. Das Ganze verbindet er mit einer Hommage an das Kino und dessen lebensrettende Kraft.

La grande infanzia

Zunächst fühlt sich dabei alles wie in einem surrealen Gemälde von Giorgio de Chirico an. Eine Gruppe von Kindern wächst in einem rätselhaften Viertel einer nicht näher benannten Stadt auf, deren verwinkelte Gassen und Häuser die Kinder durchstreifen. Arnolds selbst gestaltetes Cover greift diese eigentümliche Stimmung jener Stadt auf, in der Spucino, Elio, Gianni und Aurelio eine verschworene Freundesgruppe bilden.

Florian L. Arnold - Das flüchtige Licht (Cover)

Auch der auch der rothaarige Enzo hätte gerne Zugang zu dieser Bande. Doch der „Junge mit dem Faunsgesicht“ ruft bei den anderen Kindern nur Ablehnung und Spott hervor. Nicht nur aufgrund seines Halbwaisen-Status wird er von den anderen Kindern gehänselt und mit abschätzigen Bezeichnungen wie „Das Gerippe“ oder „Der Zwerg“ versehen. Sogar bis hin zu Wünschen nach dem Tod Enzos reicht die Palette kindlicher Bosheit und Niedertracht.

Eines Tages verschwindet Enzo dann tatsächlich aus diesem Teil der Stadt, um durch Zufall in die Dreharbeiten eines Films des „Monsignore“, eines berühmten Regisseurs, zu stolpern. Dieser erkennt in Enzo das fehlende Puzzlestück für seinen Kinofilm Legenda, für den er den Jungen kurzerhand besetzt. Nicht nur für den Regisseur eine Fügung, sondern auch für Enzo ein Erweckungserlebnis, ist er doch von dieser magischen Welt des Films und seiner Erschaffer wie verzaubert.

Cinema paradiso

Aber nicht nur Enzo ist von der Welt des Films wie verzaubert. Auch für Gianni wird im Erwachsenenalter die Welt der Lichtspielhäuser zu dem Ort, an dem er sich am lebendigsten fühlt. Dort in der Welt der Filme findet er das, das ihm in der realen Welt nicht bieten kann.

Jeder ging ins Kino, das war nichts Außergewöhnliches, jedoch: Keiner kam so zerbrochen, verformt, mit Träumen angefüllt wieder heraus wie er. Im Kino war alles ohne Vorsicht und ohne Scham, dort war er der Liebende, auf der Leinwand sah er die eigenen Gefühle, erkundete er erschüttert und oft erstaunt seine Untiefen, seine Empfindungen, die er draußen, im zweidimensionalen Raum seines Lebens, nicht kannte. Manchmal kam er beruhigt aus dem Kino, weil er dort eine flüchtige Zärtlichkeit für andere Menschen empfunden hatte, während er draußen, im Ernst des Lebens, noch nicht einmal eine echte erste Liebe gefunden hatte, nun, da er vierunddreißig war.

Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht, S. 70

Der Cineast wird zum Filmjunkie, abhängigen von der Welt des Zelluloids. Manisch sucht er die unterschiedlichsten Kinos auf, wo er dann zufällig auf die Spur seiner eigenen Vergangenheit gerät, als er eines Tages auf der Leinwand einen rothaarigen Schauspieler erkennt, den er aus seiner eigenen Kindheit noch so gut kennt.

Lichtspiel

Nicht nur hier fallen Illusion und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Mit harten Schnitten und einer collageartigen Erzählweise montiert Arnold die Leben und Themen seiner Figuren zusammen. Der Monsignore als großer Bilderdenker und noch vielmehr als Menschenlenker. Enzo als Ruheloser, der für die Welt des Kinos und des Films alles gibt, um dem Monsignore und vor allem Luisa nahezusein, die er bei den Dreharbeiten kennenlernte. Gianni und dessen farbloses Leben, das erst im Kinosaal wieder an Farbe und Tiefe gewinnt. Vor allem aber sind es auch die Träume der Kindheitstage, die seit dem Aufwachsen in den verwunschenen Gassen des Stadtviertels zerstört wurden und die nur noch in Filmen auf der Leinwand Bestand haben.

Überhaupt, die Läufe des Lebens, sie sind auch ein Motiv dieses Romans. Von der Verschworenheit der Kinderbande bis hin zur Entfremdung im Erwachsenalter, als man sich aus den Augen verloren und sich die Lebenswege gabelten, die hin zu so unterschiedlichen Karrieren als Angestellter, Filmstar, Clown oder Autohändler führten, Arnold zeichnet all das in seinem Roman manchmal skizzenhaft, dann wieder in präzisen Nahaufnahmen nach.

Das flüchtige Licht ist ein Gesamtkunstwerk, das in seinen unterschiedlichen Erzählsträngen, lyrischen Kurzaufnahmen und Spots, Zeichnungen des Autors, der verbindenden Sprachmacht und den unterschiedlichen Perspektivwechseln viele Elemente zu einem stimmigen Ganzen findet.

Fazit

Arnolds Roman funktioniert als Verneigung vor einem Rom, das sich als Kunstmotiv schon lange von der Wirklichkeit entkoppelt hat, wie auch vor dem Leben und dessen Überraschungen, das es für uns alle bereithält. Das flüchtige Licht spürt der Verzauberung der Welt nach, gibt der Entzauberung der Welt aber ebenso Raum. Denn so wie das Licht auf der Leinwand tanzen und uns in anderen Welten entführen kann, ebenso flüchtig ist dieses Licht doch auch. Es kann verschwinden und Menschen im Dunkeln zurücklassen.

Das zeigt dieser Roman gekonnt und gleicht damit einem guten Arthaus-Film. Nicht alles erschließt sich sofort, manches wird man auch erst bei einer zweiten Lektüre entdecken. Aber so schenkt dieser Roman neue Perspektiven und erzählt von der Kraft der Träume und der Fantasie, vom Kino und Kindheit – und nichts weniger als von dem Zauber, der von Filmen ausgehen kann. So gelingt Arnold der eine gelungene stilistische und inhaltliche Synthese, die Lust macht, nach der Lektüre schnellstmöglich Rom oder mindestens ein gutes Kino in der Nähe aufzusuchen.

Eine weitere Meinung zu Das flüchtige Licht gibt es auf dem Blog Begleitschreiben.


  • Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht
  • ISBN 978-3-947857-20-3 (Mirabilis)
  • 264 Seiten. Preis: 24,00 €
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Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend

In ihrem zweiten Roman dringt Deniz Ohde tief in das komplizierte Beziehungsgeflecht zweier Menschen ein, die nicht wirklich mit, aber auch nicht ohne sich können. Ich stelle mich schlafend ist das Porträt einer Beziehung zwischen Symbiose und Folie á deux.


„Alles weg“. Mit diesen Worten blickt der Wirt Ante auf eine Brache, die sich als erstes Bild in der Ouvertüre von Deniz Ohdes Roman darbietet. Einst stand auf dieser Brache ein Haus, das von Yasemin bewohnt wurde. Doch dieses Haus ist nicht mehr, was Ante und Yasemin bei ihrer gemeinschaftlichen Betrachtung der Leerstelle feststellen.

Und was siehst du jetzt, Yasemin? Sie sprach zu sich, vor der Brache stehend: Du kannst dich noch so weit vorbeugen, noch so sehr deine Stirn gegen den Drahtzaun drücken, als schautest du durch ein Schlüsselloch, in den verstaubten Mülltonnenverschlägen wirst du nichts erkennen, die Steine sprechen nicht, wofür soll ein zerstörtes Haus ein Zeichen sein?

Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend, S. 18

Auch wenn Yasemin für sich noch nach einer Ausdeutung des zerstörten Hauses als Symbol sucht: Deniz Ohde liefert auf den folgenden gut 220 Seiten eine eindrückliche Antwort auf diese Frage. Denn ebenso wie dieses Haus erst zerstört wurde und dann verschwand, erging es auch der Beziehung von Yasemin zu Vito.

Aufwachsen in der Vogesenstraße

Dieser wuchs als Nachbar von Yasemins Familie in der Vogesenstraße auf. Schon früh übte der Junge mit dem Kurt Cobain-Poster an den schwarzgestrichenen Wänden seines Zimmers eine große Anziehung auf Yasemin aus. Ihrer Freundin Immacolata, Tochter einer religiösen Familie und ebenfalls Nachbarin in der Vogesenstraße, beschrieb sie ihr Aufeinandertreffen sogar als schicksalhaft, Zeichen eines größeren Plans.

Eines flüchtigen Blickes würdigte Vito sie, und Yase legte alles hinein. Sie hatte einmal gelesen, wenn man der Liebe seines Lebens in die Augen sehe, dann spiegelten sich alle nachfolgenden Generationen darin. Genau das passierte ihr – so erzählte sie es Imma – am elften Januar um sieben Uhr siebenundzwanzig, sieben Wochen vor ihrem vierzehnten Geburtstag. Ganz merkwürdig sie das Licht in seine Augen gefallen, die aus der Ferne dunkel schienen, aber mit dem Einfall der Sonne aufleuchteten wie eine Glasmurmel, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie braun oder grün oder golden sei.

Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend, S. 41

Doch selbst wenn für Yasemin die Begegnung Schicksal und planhaft war, so folgte das Miteinander keinem solchen Plan. Anfängliches Desinteresse, später eine lose Beziehung mit diesem Mann, den weder Yasemin noch sonst irgendwer wirklich zu fassen bekommt. Auch eine deutlich solidere Beziehung mit einem Mann namens Hermann kann Yasemin nicht von ihrer Faszination und der Anziehung zu Vito kurieren, der von der Bildfläche verschwindet, um Jahre später in Bad Kissingen wieder zu Yase zu finden.

Eine Anziehungskraft, der man sich nicht widersetzen kann

Für sie, die sie als Tochter zweier Erwachsener „aus einem Willensbruch gezeugt wurde“, wie es in Ohdes Roman heißt, ist dieser unergründliche Vito ein Anziehungspunkt, dem sie sich nicht entziehen kann und auch nicht will. Hier findet sie zur Ruhe, obschon Vito immer wieder verschwindet, Anflüge fast manische Verhaltens an den Tag legt, auch vor Kleinkriminalität nicht zurückschreckt.

Deniz Ohde - Ich stelle mich schlafend (Cover)

Gerade der Widerspruch der ordentlichen, in einem Kaufhaus arbeitenden Yase und des selbstzerstörerischen, unergründlichen und sprunghaften Vito ist es, der dieses Paar irgendwie zusammenhält – bis hin zur Katastrophe.

Tief taucht Deniz Ohde in dieses komplizierte Beziehungsgeflecht und das Seelenleben ihrer Heldin Yase ein. Wie schon in ihrem ersten Roman Streulicht verzichtet Deniz Ohde dabei auf eine allzu konkrete Verortung ihres Handlungsortes und verleiht damit ihrem Roman einen universellen Charakter.

Die Vogesenstraße als Ort des Aufwachsens von Yasemin, Immacolata und Vito bleibt schemenhaft. Es handelt sich um eine Stadt, die nicht näher benannt wird. Später fällt einmal der Name von Bad Kissingen als Handlungsort, recht viel mehr an Realia bekommen wir aber nicht zu lesen. Dafür ist die Ausstattung dieser Straße und ihres Umfelds umso universeller. Die Wohnungen, die mal voller Nippes und mal Nagelstudio sind. Heruntergekommene Spielplätze, Wohnblöcke und mit Händen zu greifende Vernachlässigung. Später dann die Enge und Kargheit der Wohnung, die sie im Haus vor der Kneipe des Wirts Ante bezieht: die Trostlosigkeit dieser Umgebung ist universell, das Seelenleben ihrer Heldin umso spezieller.

Eine Beziehung zwischen Symbiose und Folie á deux

Das jugendliche Schwärmen, der „Zauber“, der Vito und Yasemin zusammengeführt haben muss, die Unmöglichkeit, dieser Prägung zu entkommen, dazu noch die Metapher des Schlafs, die sich in vielfacher Ausprägung in diesem Roman findet. Deniz Ohde beschreibt eine graue, traurige und manchmal geradezu toxischer (Beziehungs-)Welt, in der auch andere Menschen und Partner Yase nicht aus ihrer kindlichen Disposition für Vito befreien können und von der sie sich auch nicht befreien lassen will.

Das Miteinander dieser beiden Figuren ist mal Symbiose, im Großteil scheint es aber eher einer Folie á deux zu entsprechen, die in einer entsprechenden Finalhandlung enden wird, ja sogar muss. Da nutzt es auch nichts, die Augen zu schließen und sich schlafend zu stellen. Das Aufwachen in dieser Zweierbeziehung wird ein umso dramatischeres sein – und das nicht nur für Yase. Denn die Gewalt gegen Frauen, die Verachtung von deren Bedürfnissen ist ebenfalls ein Thema, das sich durch Ich stelle mich schlafend zieht.

Fazit

Freude beim Lesen bringt das alles nicht. Vielmehr muss man sich wirklich auf diese graue, wenig hoffnungsstiftende Welt einlassen wollen, in die uns Deniz Ohde hier mitnimmt. Zwischen Clownsnippes, Wohnkomplex, Kurt Cobain-Poster und beengten Räumen ist Ich stelle mich schlafend ein konsequent ausgeführtes, stilistisch gut umgesetztes Porträt einer verhängnisvollen Beziehung, in die Deniz Ohde tief vordringt und die trotz aller psychologischen Tiefenbohrung letzten Endes doch nicht ganz zu ergründen ist.


  • Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend
  • ISBN 978-3-518-43170-2 (Suhrkamp)
  • 248 Seiten. Preis: 25,00 €
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Daniela Raimondi – Das erste Licht des Sommers

Mit ihrem zweiten Roman Das erste Licht des Sommers kehrt Daniela Raimondi zumindest in Teilen zurück in ihr fiktives Dorf Stellata, das schon in ihrem ersten Roman im Mittelpunkt stand. Diesmal variiert die italienische Schriftstellerin ihre erzählerischen Mittel allerdings etwas und erzählt vom Sterben und Erinnerungen.


Wenn es ums Sterben geht, dann macht der italienischen Literatur so schnell niemand etwas vor. So zählt die Szene des Todes des alten Don Fabrizio in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Der Leopard zu den ergreifendsten Schilderungen der Weltliteratur. Di Lampedusas Landsfrau Daniela Raimondi widmet dem Sterben in ihrem Roman nun nicht nur ein Kapitel, sondern montiert ihren ganzen Roman um das den langsamen Tod einer Figur herum.

Es handelt sich um Elsa, die im Jahr 2015 das Ende ihres Lebenswegs erreicht hat. Umsorgt von ihrer Tochter Norma, erinnert sich diese immer wieder an ihr eigenes Leben und das ihrer Mutter. Am Krankenbett wachend geht sie den Erinnerungen nach, die die zweite Hälfte dieses Romans bilden.

Leben und Sterben in Stellata

Einsetzend nach dem Krieg schildert Daniela Raimondi das Leben von Elsa und ihrer Freundin Zena, die gemeinsam in Stellata aufwachsen, jenem Dorf, dessen Entstehung Raimondi bereits ihren ersten Roman widmete. Trotz dieser engenen Verbindung sind es unterschiedliche Richtungen, in denen sich ihre deren Lebenswege nach der gemeinsamen Zeit in diesem fiktiven italienischen Dörfchen entwickeln. Zwar heiraten beide Zwillingsbrüder und bekommen beide im Altern von 20 Jahren ihre Kinder, doch immer weiter entfernen sich die beiden Frauen voneinander, und das nicht nur geografisch.

Daniela Raimondi - Das erste Licht des Sommers (Cover)

Von 1947 bis in das Todesjahr 2015 hinein zeichnet Raimondi die voltenvollen Leben ihrer Figuren und die ihrer Kinder nach. Treue und außereheliches Begehren spielen dabei genauso eine Rolle wie die Verhältnisse von Kindern zu ihren Eltern. Raimondi garniert das mit Ausflügen in die Zeitgeschichte und lässt auch einige Figuren aus dem ersten Roman über den Stellata-Kosmos wieder auftreten.

So gibt es auch hier einen entscheidende Begegnung mit Nachkommen der ersten Stellata-Familien, die sich in Brasilien niedergelassen haben oder die wie im Fall von Neve, die nach einer Wunderheilung von Bienen umschwärmt wird. Aber auch ohne die Kenntnis des ersten Romans mit seiner Fülle an Figuren bleibt die Lektüre von Das erste Licht des Sommers verständlich.

Neu ist, dass Raimondi ihre Erzählen über mehrere Generationen hinweg im vorliegenden Roman etwas einhegt. Erinnerte ihr Ton und der Umfang von An den Ufern von Stellata an Gabriel García Marquez‚ Klassiker Hundert Jahre Einsamkeit und dessen Entwicklungsbogen des fiktiven Dörfchens Macondo, so ist hier nun alles etwas konzentriert.

Konzentration auf zwei Erzählstränge

Es sind nur zwei Generationen, zwei Erzählstränge und zwei Frauen, auf die sich Raimondi in ihrem Buch kapriziert. Zwar ist der erzählerische Rahmen somit enger als der des drei Jahrhunderte umspannenden Debüts, dennoch weiß Raimondi auch diesen Rahmen mit viel Dramen, Beziehungschaos und Zeitgeschichte zu füllen.

Der Kalte Krieg oder die islamische Revolution im Iran finden sich mal direkter, mal indirekter im Roman wieder. Die immensen Veränderungen, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Welt und auch für die Figuren des Romans brachte, schildert Raimondi nachvollziehbar und mit dem Blick für das Große im Kleinen.

Gewiss: es mag in der Konzentration auf Dramen und Gefühle, Liebeschaos und Herzschmerz Einiges fehlen zur Weltliteratur eines Gabriel García Marquez. Auch erreicht sie in ihrem Blick auf die unterschiedlichen Frauen und ihre Schicksale nicht die Intensität, wie sie beispielsweise ihre Landsfrau Elena Ferrante in ihrem Neapolitanischen Quartett entfaltete.

Aber dennoch gelingt es Daniela Raimondi mit Das erste Licht des Sommers, ihren Kosmos um das Dorf Stellata und das Leben ihrer Figuren, das dort seinen Ausgang nahm, unterhaltsam und nie langweilig zu schildern. Hier entsteht fast so etwas wie ein literarischer Ort, den Raimondi mit ihren bisher erschienen Romanen in der Landkarte der italienischen Literatur einschreibt und für dessen Beschreibung sie schon jetzt eine stimmige Mischung aus Historie, Gefühlen, familiärer Verbundenheit mitsamt einer Prise Mystik gefunden hat.

Es bleibt spannend zu sehen, ob sie wieder nach Stellata zurückkehren wird, um die hier aufgegriffenen Fäden fortzuführen und welche Form sie für dieser literarischen Orts- und Menschenchronik im nächsten Roman wählen wird.


  • Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata
  • Aus dem Italienischen von Judith Schwaab
  • ISBN 978-3-550-20289-6 (Ullstein)
  • 432 Seiten. Preis: 24,99 €
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